Zwanzig

»Ich ziehe es vor, dem Licht zu dienen«

i14-c.jpg

Jacob Torrance füllte den Großteil seiner Zeit während der sechstägigen Überfahrt mit drei Dingen aus: Pokulieren, Poussieren und Pokern – in dieser Reihenfolge und unter Einstreuung eines Streits mit Dr. von Helrung hier und da zur Unterbrechung der Monotonie. Ich nehme an, er schlief auch ein wenig, aber er teilte nicht die Kabine mit mir. Ich war bei dem alten österreichischen Monstrumologen einquartiert, der, wie ich schnell herausfand, das meiste seiner Würde verlor, wenn er sein Nachthemd anzog (er war ziemlich o-beinig und ein bisschen speckbäuchig), aber das trifft ja auf beinahe jeden zu.

Ein oder zwei ihrer Eröffnungsscharmützel verpasste ich. Kaum war Lady Liberty unter den Horizont geschlüpft, da zog ich mir einen scheußlichen Fall von Seekrankheit zu, die Geißel der Landratten, die mich zwang, intimere Bekanntschaft mit einer Toilette zu schließen als irgendein Mensch sollte. Von Helrung steckte mich ins Bett, gab mir ein paar Salzcracker und behauptete allen Ernstes, das beste Heilmittel bei Seekrankheit sei Tanzen.

»Nein, es sind Oliven«, widersprach Torrance. »Oder Ingwerwurzeln. Sie sollten auf einer Wurzel herumkauen, Mr Henry.«

»Auf jeder Schiffsreise hat meine Frau genauso gelitten wie Will«, versetzte von Helrung. »Dann gingen wir immer tanzen, und alles war wieder gut.«

»Dann möchten Sie Will also zum Tanz mitnehmen?«

»Es ist sinnvoller für ihn zu tanzen als auf einer Wurzel herumzukauen!«

»Vielleicht sollte er ja beides machen – auf einer Wurzel herumkauen, während er tanzt!«

»Ich würde lieber weder tanzen noch essen«, krächzte ich. »Jemals wieder.«

Am zweiten Tag fühlte ich mich ein bisschen besser – gut genug immerhin, um meine Seebeine zu erproben – und verließ die Kabine, um das Linienschiff zu erkunden. Nach einer Stunde Wanderns durch die labyrinthischen Korridore und über Meilen von Decks entdeckte ich von Helrung und Torrance auf dem oberen Promenadendeck, wo sie in Schaukelstühlen saßen, das allgegenwärtige Glas Scotch neben Torrances Ellbogen. Er hatte die lästige Angewohnheit, nach jedem Schluck seinen perfekt gestutzten Schnurrbart glatt zu streichen.

»… nicht folgerichtig. Ganz und gar nicht folgerichtig, Jacob«, schalt von Helrung seinen ehemaligen Schüler gerade, als ich mich näherte. So vertieft waren sie in ihre Diskussion, dass meine Anwesenheit zunächst unbemerkt blieb.

»Ich sage nicht, dass es dort ist, Meister Abram – nur dass wir einen Blick hineinwerfen sollten.«

»Und ich frage noch einmal, warum sollte Arkwright bei allem lügen, nur beim Wichtigsten nicht?«

»Er hat bei Warthrop nicht gelogen«, hob Torrance hervor. »Na ja, nicht in der dritten Runde jedenfalls.«

Von Helrung hatte die Neuigkeiten am Morgen unserer Abreise per Telegramm erhalten. Seine Quelle berichtete, dass der Doktor sich tatsächlich dort befand, wo Arkwright es gesagt hatte – lebendig und wohlauf, oder zumindest so wohlauf, wie man es erwarten durfte, wenn man Pellinore Warthrop war und eines Tages wach wurde und sich in einem entschieden unwarthropschen Milieu wiederfand. Von Helrung war außer sich vor Freude gewesen; er hatte sogar einen kleinen Jig auf dem Kai aufgeführt, als er das Kabel gelesen hatte. Vielleicht hielt er sie für sonderbar, meine einigermaßen verhaltene Reaktion, doch ich hatte nie die Hoffnung verloren, nicht wirklich. Sie mögen mich einen Mystiker nennen oder mein Vertrauen dem märchenhaften Denken eines Kindes zuschreiben. Dennoch, was man auch über Mystiker oder Vertrauen oder kindliche Gedanken sagen mag, ich glaubte, wenn der Doktor wirklich tot gewesen wäre, hätte ich es gewusst; ich hätte es gespürt. Auch wenn die Angst um sein Leben mich auf einem Fluss von Feuer und Blut hatte laufen lassen, um ihn zu retten, als ich in von Helrungs Vestibül die Worte Warthrop ist tot gelesen hatte, hatte ich gewusst, dass sie eine Lüge waren – hatte es gewusst auf die Art, wie ein Kind Dinge weiß, die nur Gott selbst ihm gesagt haben kann.

»Aber wieso ausgerechnet dort?«, hatte von Helrung sich nach seinem spontanen Tanz zur Feier des Tages gewundert.

»Es ist einfach vollkommen!«, hatte Torrance ausgerufen. »Kann mir keinen vollkommeneren Ort vorstellen! Vollkommen ausbruchssicher und vollkommen poetisch. Kearns’ Einfall, da bin ich sicher. Eins muss ich dem Mann lassen: Der Dreckskerl hat Stil!«

* * *

»Nein, es muss Teil der Täuschung gewesen sein. Es ist nicht Masira«, vertrat von Helrung jetzt beharrlich seinen Standpunkt. »Es kann es gar nicht sein. Zu weit nördlich und zu nah am Festland. Oman liegt nur zehn Meilen westlich davon.«

Torrance war jedoch nicht gewillt, so leicht klein beizugeben. Es war bei Jacob Torrance schwer zu sagen. Ich fragte mich, ober er wirklich alles glaubte, was er sagte, oder ob er nur um des kindischen Kitzels willen des Teufels Advokaten spielte.

»Aber es könnte funktionieren, Meister Abram – dünn bevölkert, umgeben von tückischen Strömungen, eine raue und felsige Küstenlinie, eine zerklüftete, menschenfeindliche Landschaft. Es könnte funktionieren.« Er ließ das Eis in seinem Glas klimpern. »Die Gegend passt auf jeden Fall. Vielleicht hat unser verfolgtes Wild sein Territorium ausgeweitet oder ist nach Norden gewandert. Schließlich sind seit dem Lakshadweep-Fund fast vierzig Jahre vergangen. Masira ist wie weit weg von Agatti? Tausend Meilen ungefähr? Das ergibt eine durchschnittliche Migrationsrate von fünfundzwanzig Meilen pro Jahr, ganz realistisch, insbesondere wenn die fliegende Variante des Magnificums sich als die richtige herausstellt.«

»Ich behaupte ja auch nicht, dass es vom monstrumologischen Gesichtspunkt aus falsch ist, Torrance!«, brauste von Helrung auf. »Wenn Sie richtig liegen und die britische Regierung involviert ist, wieso sollte dann deren Agent die eine Sache enthüllen, an deren Geheimhaltung sie am meisten interessiert ist, und den ganzen Rest geheim halten? Nein! Sie haben Masira ausgewählt, um Pellinore sein Waterloo erleben zu lassen, weil es uns wie eine plausible Niststätte erscheinen würde und weil es weit weg von der tatsächlichen ist.«

Die Miene des alten Mannes verdüsterte sich, und er fügte hinzu: »Natürlich wäre die ganze Angelegenheit rein akademisch, wenn Sie im Monstrumarium die Ruhe bewahrt hätten.«

»Ich habe Arkwright nicht gefragt, weil ich es nicht brauchte, Meister Abram«, erwiderte Torrance.

»Verstehe! Sie sind im Gedankenlesen ebenso bewandert wie im Foltern!«

»Sie versuchen mir doch bloß ein schlechtes Gewissen zu machen. Schon in Ordnung. Der Grund, weshalb ich Arkwright nicht gefragt habe, ist Warthrop. Es war nicht nötig, dass Arkwright mir etwas erzählt, das ich aus erster Hand erfahren kann.«

»Und was bringt Sie zu der Überzeugung, dass …«

»Wieso sollte man den Jagdhund zurück in seinen Zwinger stecken, wenn man den Fuchs noch nicht gefangen hat? Warthrop hatte seinen Zweck erfüllt: Er hatte die Heimat des Magnificums gefunden. Die wirklich interessante Frage ist jetzt –«

Sein Kopf ruckte herum; er musste mich aus dem Augenwinkel heraus gesehen haben.

»Und da ist er!«, sagte er. »Wie Lazarus nach drei Tagen aus dem Grab! Nur dass Lazarus eine gesündere Gesichtsfarbe hatte. Halten Sie Abstand, Mr Henry, und begeben Sie sich zur Reling, falls Sie erneut ein Gefühl der Übelkeit überkommt! Ich habe diese Schuhe gerade frisch poliert. Na, wo steckt denn dieser Steward? Mein Glas ist leer und meine Kehle trocken!«

Er entschuldigte sich und schritt ohne das geringste Schwanken in seinem Gang von dannen. Je mehr er trank, so schien es, desto robuster wurde er.

Von Helrung klopfte einladend auf die Lehne des Schaukelstuhls, den Torrance geräumt hatte, und ich setzte mich. Dass Leute es als angenehm empfanden, auf dem schlingernden Deck eines Ozeandampfers in einem Schaukelstuhl zu sitzen, war verblüffend, gelinde gesagt.

»Manchmal hört sich Dr. Torrance wie er an«, sagte ich.

»Warthrop?«

»Kearns.«

Von Helrung nickte; seine Miene war traurig. »Ich muss dir leider zustimmen, mein Freund Will. Als ich jünger war, habe ich mich oft gefragt, ob die Monstrumologie die Finsternis aus den Herzen der Menschen herausgeholt oder sie überhaupt erst damit erfüllt hat. Inzwischen glaube ich, es liegt nicht am Wesen der Monstrumologie, sondern am Wesen des Menschen. Die Wahrheit ist uns unbequem, wie es die Wahrheit oft ist. In jedem Herzen wohnt ein John Kearns.«

* * *

Was er ist, das sind Sie im Innern, hatte ich dem Monstrumologen gesagt.

An unserem letzten Abend auf See schlüpfte ich, weil ich nicht schlafen und das Rumoren des Bäuchleins des alten Monstrumologen nicht länger ertragen konnte (von Helrung klagte regelmäßig über Verdauungsstörungen), aus der Kabine und begab mich aufs Vorderdeck. Der Nordatlantik war unruhig in dieser Nacht; getrieben von einem schneidenden Südwestwind, warfen sich die Wogen wütend krachend gegen den Bug. Das Deck hob und senkte sich, hob und senkte sich, hoch zum wolkenverhangenen Firmament, dann herunter zum dunklen, kalten Wasser, als balancierte unser Schiff auf einem Hebelpunkt, schwankend und schaukelnd zwischen Himmel und Hölle. Ich erspähte zwei Möwen, die immer wieder kurz im Licht der Positionslampen auftauchten, doch das war das einzige Leben – und einzige Licht –, das ich sah. Es gab keinen Horizont; die Welt war schwarz vom Scheitel bis zur Sohle. Ich hatte das schwindelerregende Gefühl, ganz klein in einem riesigen Raum zu sein, wie ein Staubkorn, das im Protouniversum schwebt, bevor die Sonne geboren wurde, bevor das Licht die Dunkelheit zurückdrängte.

Die Welt ist groß, lieber Will, und wir, ganz gleich wie gern wir anderes vorgeben würden, wir sind ganz klein.

Am nächsten Tag würde mein Exil enden. Aber das war das Einzige, was enden würde. Falls Torrance recht hatte und Warthrop wusste, wo das Magnificum zu finden war, dann war unsere Rettungsaktion nicht das Ende.

Ich ziehe es vor, dem Licht zu dienen, hatte er mir einmal gesagt. Auch wenn diese Knechtschaft oft im Dunkel liegt.

Exakt in diesem Augenblick war der Moment des Gleichgewichts zwischen Licht und Dunkel, der Moment zwischen vorher und nachher.

Ich stand im Begriff, etwas zurückzulassen. Es war greifbar nahe gewesen. Ich hätte nur die Hand ausstrecken und zugreifen müssen. Stattdessen hatte ich zugesehen, wie es im Kamin des Schlafzimmers am Riverside Drive verbrannt war, als die Frau, die gesungen hatte, um mich an dem lichtlosen Ort zu trösten, einen Briefumschlag in die Flammen geworfen hatte.

Ich stand im Begriff, mich etwas zu nähern. Ich glaubte zu begreifen, was es war. Mein Platz ist beim Doktor, hatte ich gesagt – die Feststellung einer Tatsache und auch ein Versprechen. Ich dachte, ich wüsste, was ich nach dem Ende unseres Exils, des Doktors und meinem, zu erwarten hatte. Ich begriff den Preis des Dienstes am Monstrumologen – oder glaubte es zumindest. Jedes Mal, wenn ich mir die Hände wusch, wurde ich daran erinnert.

In jener Nacht auf dem Vorderdeck, unter dem sternenlosen Himmel, in dem Zeitraum zwischen davor und danach, blickte ich hinaus und sah Dunkelheit. Er würde in diese Dunkelheit gehen im Dienste des Lichts. Und wohin er ging, würde ich ihm folgen.

Ich glaubte den Preis des Dienstes an demjenigen, dessen Weg im Dunkel liegt, zu kennen.

Ich kannte ihn nicht.

Er glaubte zu wissen, was er in diesem Dunkel finden würde.

Er wusste es nicht.

* * *

Sein Name ist Typhoeus magnificum, der Prächtige Vater, der Gesichtslose, in dessen Präsenz wir nicht anders können, als uns umzudrehen und ihm das Gesicht zuzuwenden. Der mit den tausend Gesichtern, der da ist, wenn wir uns umdrehen, um zu schauen, und dann zu uns zurückschaut.

Er ist das Magnificum. Er lebt in diesem Raum zwischen den Räumen, an dieser einen Stelle, die sich ein zehntausendstel Zoll außerhalb unseres Gesichtsfeldes befindet. Sie können ihn nicht sehen. Er sieht Sie. Und wenn er Sie sieht, sieht er nicht Sie. Er hat keine Vorstellung von Ihnen. Es gibt Magnificum und sonst nichts.

Sie sind das Nest. Sie sind das Junge. Sie sind die Chrysalis. Sie sind die Brut. Sie sind die Fäule, die von Sternen fällt.

* * *

Sie verstehen vielleicht nicht, was ich meine.

Sie werden es noch verstehen.