Siebenunddreißig

»Wir sind noch nicht zu spät!«

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Der Doktor trat ins Freie, und eilig rappelten Awaale und ich uns auf. Wir waren beide begierig darauf, Gishub zu verlassen. Das Dorf war nasu. Der Monstrumologe hatte eine andere Idee.

»Wir bleiben heute Nacht hier«, verkündete er ruhig. »Allen übereinstimmenden Berichten zufolge ist Magnificum ein nachtaktiver Jäger, und als seine Jäger sollten wir uns an seine Zeiten halten, aber darin liegt ein großes Risiko. Der Kontakt mit Pwdre ser führt zu extremer Lichtempfindlichkeit wie auch zu einem unbändigen Appetit auf Menschenfleisch. Eine brillante Anpassung, wahrhaftig, denn indem es seine Beute so infiziert, zwingt es sie, sich an seine Zeiten zu halten. Die Überlebenden fungieren als seine Späher. Oculi Dei fürwahr!«

Wir suchten uns eins der sauberen verlassenen Häuser aus, um den Rest der Nacht darin zu verbringen. Awaale bot freiwillig an, die erste Wache zu übernehmen, doch der Doktor erhob Einspruch; er war nicht müde. Er würde Awaale in vier Stunden wecken.

»Ich nehme das Gewehr. Will Henry, gib Awaale den Revolver, und versuche, etwas Schlaf zu bekommen! Vor uns liegt ein langer Marsch.«

Es gab keine Betten, nur Schlafmatten, die wir auf dem Boden aus festgetrampelter Erde ausrollten. Ich sah, wie der Monstrumologe sich in die offene Tür setzte. Alles, was vielleicht zu uns wollte, musste zuerst an ihm vorbei.

»Walaalo«, flüsterte Awaale. »Was ist mit deiner Hand passiert?«

Ich antwortete ganz leise, damit der Doktor mich nicht hörte. »Es macht ein Nest und benutzt seine Spucke – das Pwdre ser –, um es zusammenzuhalten, und wenn man es berührt, verwandelt man sich in … in das, was du heute Nacht gesehen hast.«

»Und das ist es, was passiert ist? Du hast das Nest berührt?«

»Nein, ich … Indirekt, ja, ich habe es berührt.«

Er schwieg eine Zeit lang. »Er hat ihn abgeschnitten, nicht wahr? Der dhaktar

»Ja. Um mich zu retten.«

»Wie er das Kind gerettet hat.«

»Für mich war es noch nicht zu spät.«

Er schwieg eine lange Zeit. »Was ist das für ein Wesen, dieses Magnificum

»Das weiß niemand. Noch niemand hat es gesehen. Das ist der Grund, weshalb wir hergekommen sind.«

»Um es zu sehen?«

»Oder eins zu töten. Oder es zu fangen. Ich glaube, der Doktor hätte gern ein lebendes, falls es ihm gelingt.«

»Aus welchem Grund?«

»Weil er Monstrumologe ist. Das ist eben das, was er macht.«

Wir konnten die reglose Silhouette des Doktors eingerahmt in der Türöffnung sehen. »Das alles ist sehr seltsam für mich, walaalo«, sagte Awaale. »Wie ein Traum. Als wäre ich, bevor du kamst, wach gewesen, und jetzt träume ich.«

Ich dachte an die Frau, die in der Küche steht, und an das große Glas Milch und den Geruch nach warmen Äpfeln.

»Ich weiß«, sagte ich.

* * *

Irgendwann in der Nacht tauschten sie die Plätze; ich verschlief es. Ich träumte, ich wäre der Junge, der an Cholera gestorben war, und die Nassesalars hätten meinen gewickelten Leichnam zur innersten Mauer des Rings getragen, wo sie ihn mit meinem entblößten Gesicht zum wolkenleeren Himmel hinlegten. Meine Seele war in dem unreinen Fleisch gefangen; sie umkreiste es nicht, wie sie hätte sollen. Sie war gefangen, und ich konnte die Krähen und weißen Aasgeier auf dem Mauerabsatz neben mir landen sehen; ihre kleinen Augen waren schlau und glänzend schwarz, und ich beobachtete, wie ihre spitzen Schnäbel mein erstarrtes Gesichtsfeld ausfüllten, als sie die Köpfe senkten, um mir die Augen auszuhacken.

Irgendwann vor Tagesanbruch riss mich ein überraschter Aufschrei aus dem Schlaf. Ein Schatten raste an mir vorbei auf die offene Tür zu. Es war der Monstrumologe. Alarmiert sprang ich auf und lief ihm nach. Awaale stand mehrere Fuß vom Gebäude weg neben einem kleinen Feuer, das er mit nicht wenig Mühe aus Treibholzstücken gemacht hatte, mit denen der Strand übersät gewesen war. Als der Doktor sich näherte, wirbelte er mit dem Gewehr herum und wich überrascht zurück, als der Monstrumologe das Feuer attackierte, indem er auf die Glutstücke stampfte und sie mit den Füßen in den Sand rieb.

»Kein Licht, verstehst du?«, fauchte er dem größeren Mann ins erschrockene Gesicht. »Du hetzt uns noch jedes einzelne der stinkenden Biester auf den Hals!«

»Ich verstehe, dhaktar«, antwortete Awaale mit hochgehaltener Hand. Vielleicht glaubte er allmählich, sich der Gesellschaft eines Wahnsinnigen angeschlossen zu haben.

»Du hast nur die Endstadien des Ausgesetztseins gesehen«, sagte der Monstrumologe. »Sie sind sehr stark und sehr schnell und verrückt vor Hunger, bevor sie daran sterben. Frag Will Henry, wenn du an meinen Worten zweifelst!«

Er trat auf der noch verbliebenen Glut herum, bis auch der letzte rote Punkt schwarz war. Er befahl mir, ins Haus zurückzugehen.

»Ich werde hier draußen bei Awaale bleiben«, sagte er. »Falls ihn die Versuchung überkommt, noch irgendeine weitere Dummheit zu machen.«

Wie einen Monstrumologen auf die Jagd nach dem Vater aller Monster zu begleiten, dachte ich.

* * *

Sobald es hell wurde, brachen wir auf, hielten geradewegs auf die aufgehende Sonne zu, und unsere Schatten dehnten sich lang und dünn hinter uns auf dem steinigen Boden aus. Zu unserer Rechten neigte sich das Land sanft dem Meer zu. Zu unserer Linken waren die Klippen, die mehr als tausend Fuß lotrecht aufstiegen und deren zerfurchte Gesichter im frühen Sonnenlicht unergründlich waren. Der Wind pfiff und heulte wild über unseren Köpfen, während er über die Hochlandebenen und den zerklüfteten Rand des Plateaus brauste. Unten gab es keinen Wind, nur das Geräusch des Windes, und dieses Geräusch war beständig. Es schwebte im Hintergrund wie die Stimme eines unsichtbaren Chors.

Gegen zehn Uhr gelangten wir an einen tiefen Einschnitt in der Felswand, der über die Jahrhunderte von den Sturzfluten der Monsune herausgeschnitten worden war. Die Felsen glänzten nass in dem Hohlweg, und noch immer tröpfelte durch den Spalt Wasser, das unseren Weg auf seiner Wanderung zu seinem Geburtsort, dem Meer, direkt kreuzte. Zu beiden Seiten des Flussbetts klammerten sich seltsame, blasshäutige Pflanzen an den Fels, mit knollenförmigen und dürren Ästen, die mit dunkelgrünen, wachsartigen Blättern behangen waren. Auf diese wies der Monstrumologe mich hin und sagte: »Sie wachsen nirgendwo sonst auf der Erde, Will Henry, wie so viele Arten auf Sokotra. Aus diesem Grund wird die Insel auch das Galapagos des Ostens genannt.«

»So nennen Sie es also?«, brummte Awaale vor sich hin.

Der Monstrumologe hörte ihn nicht oder zog es vor, ihn zu ignorieren. Er deutete auf den gewundenen Pfad in die Klippen. »Was meinen Sie, Gentlemen? Sollen wir unser Fasten brechen, bevor wir uns am Aufstieg versuchen?«

Während unseres Frühstücks aus Trockenfleisch und Schiffszwieback nahm Warthrop einen Stock und zeichnete eine Karte der Insel in den Sand. »Wir sind hier, auf halber Strecke zwischen Gishub und Steroh. Hier oben liegt Hadibu, ungefähr dreißig Meilen nördlich und westlich von uns.«

»Dreißig Meilen?«, sagte Awaale. »Das ist nicht so schlimm.«

»Dreißig Meilen wie die Krähen fliegen«, sagte der Doktor. »Zwischen uns und Hadibu liegen die Hagghier-Berge, die zu dieser Jahreszeit fast unpassierbar sind – flutartige Überschwemmungen, starke Winde, Bergstürze … Nein, wir müssen uns zuerst nach Norden halten, an den Bergen vorbei, und uns dann westlich nach Hadibu wenden.«

»Und dort ist dann also Ihr Monster, in Hadibu?«, fragte Awaale.

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Es ist allerdings der logischste Ort, um zu beginnen. Hadibu ist die größte Siedlung auf der Insel. Willst du den Tiger suchen, finde zuerst die Antilope.«

* * *

Wir wanderten hoch aufs Plateau. Das Gelände war steil und nass, und ich rutschte mehrere Male aus. Jedes Mal packte Awaale, was von mir gerade am nächsten war – ein Handgelenk, die Rückseite meines Hemds –, und kicherte über meine Tollpatschigkeit.

»Vielleicht sollte ich dich quer über meinen Schultern tragen wie ein Schäfer sein Lamm, walaalo«, zog er mich auf.

»Vielleicht kämen wir, wenn du und Will Henry weniger reden und euch mehr auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren würdet, schneller voran!«, blaffte der Monstrumologe. Mit jeder Minute loderte das beunruhigende Feuer in seinen Augen heller und kälter. Er hielt nur einmal an, ungefähr auf halbem Wege nach oben, als ein Windstoß durch den Hohlweg hinunterbrauste. Er hob den Kopf und ließ sich vom Wind das Gesicht umspülen, mit geschlossenen Augen, die Arme weit ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten. Der Wind legte sich zu einer sanften Brise, und mit erhöhtem Tempo nahm er den Anstieg wieder in Angriff, als hätte er etwas Vielversprechendes im Wind gerochen.

Oben angelangt, als das ausgedehnte Herz Sokotras sich vor mir ausbreitete, erblickte ich wenig, was mich vielversprechend dünkte. Die zentrale Hochebene war eine flache, fast völlig öde Landschaft, durchkreuzt von Buschreihen und Gruppen grün gekrönter Bäume, die wie riesige Regenschirme aussahen, deren Innenseite nach außen gekehrt war. Ihre freiliegenden, ineinander verschlungenen Äste erinnerten mich anfangs an Weidenkörbe, doch dann befand ich: Nein, sie sind mehr wie das komplizierte Geflecht eines Nidus ex magnificum. Zwei klammerten sich an die Felsen über dem Flussbett, und in ihrem kargen Schatten ruhten wir uns einen Moment lang aus. Der Tag war heiß geworden, obwohl der trockene Wind immer noch wehte.

»Awaale«, sagte der Doktor. »Leih mir bitte kurz dein Messer! Ich möchte Will Henry etwas zeigen.«

Warthrop stieß die Klinge in den Stamm des näher stehenden Baumes und zog sie nach unten, bis er eine sechs Zoll lange Kerbe erzeugt hatte. Dickes, leuchtend rotes Harz sickerte aus der Wunde des Baums.

Awaale stöhnte leise. »Blutende Bäume? Wieso bin ich darauf nicht gekommen?«

»Dies ist Drachenblut, Will Henry«, sagte der Doktor, »von dem die Insel einen ihrer Namen ableitet. In der Antike wurde es hoch geschätzt. Es heißt, Kleopatra habe es als Lippenstift benutzt. Diese spezielle Art, wie die, die du vorhin gesehen hast, wächst sonst nirgends auf der Erde.«

»Er sieht nicht aus wie irgendein Baum, den ich schon einmal gesehen habe«, meinte Awaale und wischte die Klinge sorgfältig an seiner Hose sauber. »Aber diese Insel steckt voller Dinge, die ich noch nie gesehen habe, und ich habe schon viele, viele Dinge gesehen.«

Warthrop zeigte nach rechts. »Die Hagghier-Berge. Und auf der anderen Seite: Hadibu.«

In der Ferne wellte sich die Gebirgskette in der Mittagshitze. Die höchsten Gipfel reckten ihre gezackten Häupter mehr als fünftausend Fuß in die Luft und stießen sie in die wogenden Wolken, die über ihren zerklüfteten Schultern hingen. Sie blähten die zerbrochenen Wangen auf und pusteten einen Windstoß hinab, der die dunklen Haare des Monstrumologen in Bewegung versetzte.

»Beeilen wir uns, Gentlemen!«, sagte er. »Ich glaube, es zieht ein Sturm auf.«

* * *

Der Wind von den Bergen spielte eine Weile mit unseren Haaren und zupfte an unseren Kragen. Der Wind war jedoch trocken, der Himmel klar, die Sonne hoch und heiß. Nachdem wir ein oder zwei Meilen des Plateaus überquert und die gigantischen gezackten Zähne Sokotras sich von rechts näher an uns herangeschlichen hatten, wurde der Wind es müde, mit uns zu spielen, und begann, uns zu schieben und zu schubsen, nicht ohne ab und zu einen Dreißig-Meilen-pro-Stunde-Stoß einzustreuen, und stellte unseren Willen, unseren nördlichen Kurs beizubehalten, auf die Probe. Einmal schleuderte mich eine heftige Bö auf den felsigen Boden. Awaale half mir hoch und sagte zum Doktor: »Wenn wir in der Rinne gingen, könnte der Wind uns nicht erreichen.«

»Wenn wir in der Rinne gingen, könnte uns eine Sturzflut vom Plateau herunter und in den Ozean spülen«, gab Warthrop gereizt zurück. Beide mussten die Stimme heben, um gehört zu werden. »Aber es steht dir frei zu tun, was du wünschst.«

»Ich glaube, so frei steht es mir nicht, denn mein Wunsch ist es, von dieser verfluchten Insel runter zu sein!«

»Ich habe dich nicht gebeten, mitzukommen!«, versetzte mein Herr.

»Ich bin nicht Ihretwegen mitgekommen, dhaktar. Ich bin wegen …«

»Ja?« Der Monstrumologe wirbelte zu ihm herum. »Erzähl es mir! Weswegen bist du mitgekommen?«

Awaale warf einen Blick auf mich. »Der unberührten Strände wegen.«

Warthrop starrte ihn einen langen, schrecklichen Moment lang an. Dann machte er Anstalten, etwas zu sagen, und als sein Mund aufging, erstarb abrupt der Wind. Die plötzliche Stille war ohrenbetäubend.

Ein Gegenstand fiel aus dem Himmel und landete zu Füßen des Monstrumologen. Dünn und verschrumpelt, gelblich grau und blutbefleckt – ein menschlicher Finger.

Wir folgten dem aufmerksamem Blick des Doktors nach oben. Ein Schatten fiel vom wolkenlosen Himmel, eine wirbelnde Masse aus Blut und zertrümmerten Knochen und den verdorrten Stücken einer Menschenleiche. Der Doktor reagierte als Erster, und seine Reaktion bestand darin, mich mit dem panischen Aufschrei »Lauf, Will Henry! Lauf!« so fest er konnte wegzustoßen. Mit zwei mächtigen Schritten hatte er Awaale und mich überholt und steuerte auf eine Gruppe von dicht stehenden Drachenbäumen zu, die sich gewagt an den Rand der drei Fuß tiefen Rinne klammerten, entlang derer wir gewandert waren. Der große Somalier schaufelte mich unter seinen mächtigen Arm, während er Warthrop folgte und mit Entsetzen rief: »Was ist das? Was ist das?«, als der rote Regen auf den harten Erdboden zu klatschen und zu spritzen begann und überall um uns herum aufschlug. Ein großes Stück eines Organs – wahrscheinlich der Teil einer Leber – fiel direkt vor ihn, und Awaale hüpfte mit jener eigentümlichen Eleganz, welche die Verzweiflung gebiert, darüber hinweg. Wir gesellten uns zum Monstrumologen unter die relative Sicherheit der Bäume. Er durchwühlte gerade den Rucksack auf der Suche nach unseren Regenumhängen.

»Ist einer von euch getroffen worden?«, fragte Warthrop atemlos. Er wartete nicht auf eine Antwort. Seine Augen strahlten vor Hochgefühl. »Roter Regen! Ihr begreift doch, was das bedeutet, oder? Wir sind noch nicht zu spät!«

»Es kommt einem aber so vor!«, schrie Awaale ihm ins Gesicht, bevor er sich seinen Regenumhang überzerrte.

Der Monstrumologe lachte und hob das Gesicht in den blutenden Himmel.