Acht
»Das Einzige, das mich noch Mensch bleiben lässt«

Willst du leben?
Der Duft von Lilien. Das Geräusch von Wasser, das in ein Becken tropft. Die Berührung eines warmen, feuchten Tuchs.
Und ein Schatten. Eine Gegenwart. Ein Silhouette jenseits meiner umflorten Augen.
Willst du leben?
* * *
Ich schwebe an der Decke. Unter mir ist mein Körper. Ich sehe ihn deutlich, und neben dem Bett: der Monstrumologe, der den Waschlappen auswringt.
Dann deckt er mich zu. Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Er betrachtet mein anderes Gesicht, mein sterbliches Gesicht, dasjenige, das dem Jungen im Bett gehört.
Er setzt sich wieder hin. Jetzt kann ich sein Gesicht sehen. Ich will etwas zu ihm sagen. Ich will seine Frage beantworten.
Er reibt sich die Augen. Er fährt sich mit den langen Fingern durchs Haar. Er beugt sich vor, stützt sich mit den Ellbogen auf den Knien ab und vergräbt das Gesicht in den Händen. Nur einen Moment lang bleibt er so, und dann steht er auf, geht zum Fußende des Betts und wieder zurück. Die Lampe wirft seinen Schatten auf den Boden, und der Schatten kriecht die Wand hoch, als er sich nähert, und verfolgt ihn dann, als er kehrtmacht.
Er lässt sich auf den Stuhl fallen, und ich beobachte, wie er die Hand ausstreckt und sie auf meine Stirn legt. Die Geste wirkt geistesabwesend, als könnte mich zu berühren ihm beim Denken helfen.
Oben sehe ich zu, wie er mich berührt. Unten fühle ich es.
* * *
Das Licht gräbt sich tief in meine Augen, heller als tausend Galaxien. Hinter dem Licht seine Augen, dunkler als der tiefste Abgrund.
Seine Finger um mein Handgelenk geschlungen. Der Druck des kalten Stethoskops auf meiner Brust. Mein Blut, das in gläserne Kammern strömt.
Und das Licht, das sich in meine Augen bohrt.
* * *
Was hast du mir mitgebracht, Vater?
Ich habe dir einen Samen mitgebracht.
Einen Samen?
Ja, einen goldenen Samen von der Insel der Glückseligkeit, und wenn du ihn einpflanzt und ihm Wasser gibst, dann wird er zu einem goldenen Baum heranwachsen, der Lutscher trägt.
Lutscher!
Ja! Goldene Lutscher! Und Pfefferminzdragees und Andorndrops und Zitronenbonbons. Warum lachst du? Pflanze ihn ein; du wirst schon sehen!
* * *
Ich sehe ihn in der Tür stehen. Er hat etwas in der Hand.
Seile.
Er lässt die Seile auf den Sessel fallen. Greift in die Tasche.
Revolver.
Er legt den Revolver auf den Tisch neben dem Sessel. Sehe ich seine Hand zittern?
Behutsam zieht er meinen Arm unter der Decke heraus, nimmt ein Stück Seil – es liegen drei da – und bindet einen Knoten um mein Handgelenk.
Ich schwebe über ihm. Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Er blickt hinab auf das Gesicht des Jungen.
Er dreht sich vom Bett weg; das lose Ende des Seils fällt über den Rand. Dann dreht er sich wieder um, wischt die Seile, die auf dem Sessel liegen, auf den Boden und setzt sich hin. Für einen langen Moment rührt er sich nicht.
Und dann nimmt der Monstrumologe das andere Ende des Seils, bindet es an sein Handgelenk, lehnt sich im Sessel zurück und schließt die Augen, um zu schlafen.
* * *
Wo seid ihr diesmal hingegangen, Vater?
Ich hab’s dir doch gesagt, Willy: die Insel der Glückseligkeit.
Wo ist die Insel der Glückseligkeit?
Nun, zuerst einmal musst du ein Schiff finden. Aber nicht nur irgendein gewöhnliches Boot: Du musst das schnellste Schiff auf der Welt finden, das heißt ein Schiff mit tausend Segeln, und wenn du tausend Tage lang gesegelt bist, dann wirst du etwas sehen, das die Welt in tausend Jahren nicht gesehen hat. Du wirst schwören, dass die Sonne ins Meer gefallen ist, denn jeder Baum auf dieser Insel ist ein goldener Baum und jedes Blatt ein goldenes Blatt, und all die Blätter leuchten mit ihrem ganz eigenen Strahlen, sodass die Insel selbst in der finstersten Nacht wie ein Leuchtturmfeuer zu brennen scheint.
* * *
»Aus irgendeinem Grund habe ich an deinen Vater gedacht«, sagte der Monstrumologe zum Jungen. »Er hat mir einmal das Leben gerettet. Ich glaube nicht, dass ich dir das schon einmal erzählt habe.«
Das Zimmer wirkte so leer; ich war an einen Ort gegangen, an den er nicht gehen konnte. Es war nicht wirklich von Bedeutung, ob ich ihn hören konnte. Seine Worte waren nicht ausschließlich für mich bestimmt.
»Arabien, im Winter 73 – vielleicht war es auch 74, ich kann mich im Moment nicht daran erinnern. Eines späten Abends wurde unser Lager aus dem Hinterhalt überfallen, und zwar von einem feindseligen und extrem gewalttätigen Raubtierrudel – damit meine ich Homo sapiens. Banditen. Wir verloren drei unserer Träger – und unseren Führer, einen sehr freundlichen Beduinen namens Hilal. Ich fühlte mich schlecht wegen Hilal. Er hielt große Stücke auf mich. Versuchte sogar, mir eine seiner Töchter zu geben – ob als Sklavin oder zur Frau, war ich mir nie ganz sicher, da ich seine Sprache nicht besonders gut beherrschte. Wie dem auch sei, in dem einen Moment unterhielt er sich mit mir, lächelnd, lachend – er war außerordentlich fröhlich. Wenige Nomaden sind bedrückt, Will Henry; wenn du darüber nachdenkst, wirst du verstehen warum. Und im nächsten Moment wurde ihm der Kopf fein säuberlich von den Schultern getrennt …
Später sagte ich seiner Witwe: ›Dein Mann ist tot, aber wenigstens starb er lachend.‹ Ich denke, darin fand sie einen gewissen Trost. Es ist die zweitbeste Art zu sterben, Will Henry.« Er sagte nicht, was die beste Art war.
»Jedenfalls zog dein Vater mich aus der Gefahrenzone. Ich hätte ja meinen Mann gestanden, und wenn auch nur, um Hilals Tod zu rächen, aber ich hatte eine schwere Verwundung am Oberschenkel davongetragen und verlor sehr viel Blut. James warf mich über den Sattel seines Ponys und ritt die ganze Nacht durch. Er ritt dieses Pferd, bis es zusammenbrach, und dann trug er mich den Rest des Weges bis zum nächsten Dorf.«
* * *
Ich will gehen, Vater! Bringst du mich dahin, zur Insel der Glückseligkeit?
Es ist ein sehr, sehr weiter Weg von hier, Will.
Das ist mir egal. Wir werden ein Schiff mit tausend Segeln finden, das uns hinbringt.
Oh, nun, diese Schiffe sind sehr schwer aufzutreiben.
Du hast doch eins gefunden!
Ja, das habe ich. Ich habe dieses Schiff gefunden.
* * *
»Zwei Wochen lang musste ich das Bett hüten – die Wunde hatte sich infiziert –, während derer ich mehrmals ins und wieder aus dem Delirium driftete, und die ganze Zeit über war dein Vater an meiner Seite. Einmal allerdings sah ich Hilal neben mir sitzen, undeutlich, wie durch einen Schleier oder Nebel, und ich wusste bis ins Innerste, dass ich sozusagen an den Bühnenrand gelangt war. Ich war nicht überrascht, ihn da sitzen zu sehen, und hatte nicht die geringste Angst. Genau genommen war ich sogar froh, ihn zu sehen. Er fragte mich, was ich will. ›Was willst du, Scheich Pellinore Warthrop? Bitte darum, und es wird getan.‹
Und von allen Dingen, um die ich hätte bitten können, bat ich ihn, mir einen Witz zu erzählen. Und das tat er, und das Verflixte daran ist, dass ich mich einfach nicht mehr daran erinnern kann. Das quält mich immer noch. Es war ein sehr lustiger Witz. Mein Problem ist, dass ich mir keine Witze merken kann. Mein Verstand tendiert nicht in diese Richtung.«
Er spielte mit dem Knoten um sein Handgelenk. Sein mattes Lächeln verschwand, und auf einmal war er wütend – äußerst wütend.
»Das ist … inakzeptabel. Intolerabel. Ich werde das nicht tolerieren, verstehst du mich? Es ist dir verboten zu sterben. Du hast den Tod deiner Eltern nicht gewollt; du hast nicht darum gebeten, hierherzukommen – es ist nicht deine Schuld; du solltest nicht bezahlen müssen!«
Aber, aber! Weine doch nicht! Du bist doch noch ganz jung. Du wirst noch Jahre über Jahre Zeit haben, es zu finden. Bis dahin werde ich das Schiff mit tausend Segeln sein. Klettere auf meinen Rücken, Kumpel, und ich werde dich zu dieser sagenhaften Insel tragen!
* * *
»Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst!«, sagte er grimmig. »Dein Vater ist meinetwegen gestorben, und ich kann mir nicht auch noch deinen Tod leisten. Die Schuld wird mich zermalmen. Wenn du untergehst, Will Henry, dann ziehst du mich mit dir hinab.« Ziehen am Seil.
* * *
Ich sehe sie, Vater! Die Insel der Glückseligkeit! Sie brennt wie die Sonne im schwarzen Wasser.
* * *
»Das reicht!«, schrie er. »Ich verbiete dir, mich zu verlassen! Jetzt mach fix, steh auf, beende diese Torheit! Ich habe dich gerettet. Also mach fix, du dummer, dummer Junge!«
Mit der Hand, die mit meiner verbunden war, holte er aus und schlug mir hart auf die Wange.
»Mach fix, Will Henry!«
Klatsch!
»Mach fix, Will Henry!«
Klatsch!
»Mach fix, Will Henry!«
Klatsch! Klatsch! Klatsch!
»Willst du leben?«, schrie er. »Dann entscheide dich zu leben! Entscheide dich zu leben!«
Keuchend fiel er zurück in den Sessel; das Seil, das uns verband, zerrte an seinem Arm. Mit einem frustrierten Brüllen zog er das Handgelenk aus dem Knoten heraus und schleuderte das Seil auf meinen Körper.
Er hatte sich verausgabt. Die ganze Angst, die ganze Wut, die ganze Scham, der ganze Stolz – weg. Er empfand nichts; er war leer. Vielleicht wartet Gott, bis wir leer sind, damit er uns mit sich selbst füllen kann.
Ich sage dies, weil der Monstrumologe als Nächstes dieses sagte:
»Bitte verlass mich nicht, Will Henry. Das würde ich nicht überleben. Du hattest fast recht. Was Mr Kendall war, das bin ich: immer am Rande des Werdens. Du jedoch – ich behaupte nicht zu verstehen, wie und erst recht nicht warum –, du ziehst mich vom Abgrund zurück. Du bist derjenige … Du bist das Einzige, das mich noch Mensch bleiben lässt.«