Sechzehn
»Sei still und hör zu!«
Ich hatte ihn bei einem meiner jüngsten Ausflüge in die Respekt einflößende Bibliothek der Monstrumologischen Gesellschaft entdeckt: ein dünner Band, mit einem feinen Staubfilm überzogen, manche Seiten noch ungeschnitten, der Buchrücken knitterfrei. Offenbar hatte sich seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1871 niemand die Mühe gemacht, ihn zu lesen. Was meinen Blick ausgerechnet auf dieses Büchlein lenkte, das inmitten von sechzehntausend anderen stand, weiß ich nicht. Aber ich entsinne mich deutlich des kleinen Rucks der Erkenntnis, als ich die Titelseite aufschlug und den Namen des Verfassers sah. Es war wie in einer überfüllten Stadt um die Ecke zu biegen und in einen lange verschollenen Freund hineinzulaufen, den noch einmal zu sehen man alle Hoffnung aufgegeben hatte.
Es war spät an diesem Tag, als ich es fand – keine Zeit mehr, es zu lesen, bevor die Bibliothek schloss –, und Nichtmitgliedern gegenüber befleißigte man sich einer strikten Nichtausleihpolitik. Also klaute ich es. Steckte es hinten unter meine Jacke und spazierte hinaus, direkt an Mr Vestergaard, dem Leiter der Bibliothek, vorbei, den die meisten Monstrumologen (hinter seinem Rücken) den Fürst der Folianten nannten – ein nicht besonders origineller Einfall, fand ich, aber der Sinn eines Monstrumologen für Humor, so er denn überhaupt einen hatte, war eben nicht besonders ausgeprägt; Bemühungen in diese Richtung waren, sofern es nicht ins Makabre abglitt, unweigerlich zum Scheitern verdammt.
Obwohl Warthrop beim Verfassen des dünnen Bandes, Teil seiner Abschlussprüfung vor dem Aufnahmeausschuss der Gesellschaft, erst achtzehn gewesen war – bloß fünf Jahre älter als ich zu dem Zeitpunkt, da ich ihn entdeckte –, war das Werk bemerkenswert anspruchsvoll, wenngleich auf charakteristische Weise weitschweifig. Allein der Titel ließ meine Augen glasig werden: Ungewissen Ursprungs: Das Plädoyer für interdisziplinäre Aufgeschlossenheit und intellektuellen Kollektivismus zwischen allen Disziplinen der Naturwissenschaften, einschließlich Studien auf dem Gebiet der anomalen Biologie, mit ausführlichen Anmerkungen über die Entwicklung kanonischer Prinzipien von Descartes bis zum heutigen Tage.
Aber ich las ihn – das meiste davon jedenfalls –, weil es nicht das Thema war, auf das ich erpicht war. In meiner Situation konnte ich dem Hören seiner Stimme nicht näher kommen als durch das Lesen seiner Worte: Da war die warthropsche Wortwahl, der autoritäre Tonfall, die strenge – manche würden sagen unbarmherzige – Logik. Aus jeder Zeile hallten Echos der Stimme des älteren Warthrop, und sie zu lesen, manchmal auch laut, spätabends auf meinem Zimmer, wenn das Haus still war und es nur Warthrops Worte waren und ich, öffnete ihm eine Tür, durch die er zurückkehrte und ein Weilchen redete. Ich ertappte mich dabei, wie ich nach bestimmten Passagen murmelte: »Wirklich, Sir?« und »Ist das so, Dr. Warthrop?«, als säßen wir daheim in der Bibliothek in der Harrington Lane und er langweilte mich mit irgendeinem obskuren Text, der vor hundert Jahren von jemandem, von dem ich noch nie gehört hatte, geschrieben worden war, eine Form geistiger Grausamkeit, die zuweilen Stunden währte.
Am Abend meines Beinahezusammenbruchs im Washington Square Park nahm ich das Buch wieder einmal in die Hand, weil ich nicht schlafen konnte, und ich dachte, mit ein klein wenig Gehässigkeit, dass das Werk zweifellos ein größeres Publikum gefunden hätte, wenn seine Zielgruppe an Schlaflosigkeit Leidende gewesen wäre. Ich schlug wahllos eine Seite auf, und mein Blick fiel auf diese Passage:
Eine Sache ist entweder wahr (real), oder sie ist es nicht. Etwas wie eine Halbwahrheit existiert in der Wissenschaft nicht. Ein wissenschaftlicher Lehrsatz ist wie eine Kerze. Von der Kerze kann gesagt werden, dass sie zwei Zustände oder Betriebsarten hat – angezündet und unangezündet. Das heißt, die Kerze ist entweder das eine oder das andere; sie kann nicht beides sein; sie kann nicht »halb angezündet« sein. Wenn eine Sache wahr ist, um es umgangssprachlich auszudrücken, dann ist sie wahr durch und durch. Wenn falsch, dann falsch durch und durch.
»Ist das so, Dr. Warthrop?«, fragte ich ihn. »Was, wenn die Kerze an beiden Enden einen Docht hat? Der eine ist angezündet, der andere nicht. Könnte man unter diesen hypothetischen Umständen nicht sagen, dass die Kerze tatsächlich sowohl angezündet wie auch unangezündet ist und Ihre Argumentation falsch durch und durch?« Ich kicherte schläfrig vor mich hin.
Du kannst nicht das zentrale Element einer Analogie verändern, um sie falsch zu machen, sagte seine Stimme in mein Ohr. Ist das der Grund, weshalb du diese alte Monografie von mir liest? Damit du dich auf meine Kosten besser fühlst? Nach allem, was ich für dich getan habe!
»Und mir angetan! Vergessen wir das nicht!«
Wie könnte ich? Ich werde ja ständig daran erinnert.
»Ich bin todgeweiht, wie Mr Kendall. Einfach todgeweiht.«
Was meinst du damit?
»Selbst wenn Sie weg sind, kann ich Sie nicht loswerden.«
Ich sehe nicht, inwiefern das analog zu Mr Kendalls Schicksal ist.
»Einmal berührt, infiziert. Sagen Sie es mir doch bitte einfach, wenn Sie tot sind. Wenn Sie tot sind, besteht Hoffnung für mich.«
Ich bin doch gerade hier. Wie könnte ich tot sein? Also wirklich, Will Henry, hat es in deiner Kindheit irgendeinen Unfall gegeben, von dem ich nichts weiß? Bist du vielleicht die Treppe hinuntergefallen? Hat deine Mutter dich als Säugling fallen lassen, oder ist sie selbst gestürzt, als sie dich im Mutterleib getragen hat?
»Wieso beleidigen Sie mich die ganze Zeit?«, fragte ich ihn. »Damit Sie sich auf meine Kosten besser fühlen? Nach allem, was ich für Sie getan habe!«
Was hast du denn für mich getan?
»Alles! Ich mache alles für Sie. Ich wische auf und koche und wasche und erledige Besorgungen und – alles, außer Ihnen den breiten Arsch abzuwischen!« Ich lachte. Mir war prickelnd leicht ums Herz, nicht schwerer als ein Sandkorn. »Arschbreit!«
Will Henry, hast du mir da gerade einen Schimpfnamen gegeben?
»Ich würde Ihnen nie einen Schimpfnamen geben – ins Gesicht. Mir ist etwas eingefallen, was Adolphus gesagt hat. Er hat statt ›Arkwright‹ ›Arschbreit‹ verstanden.«
Ah, Arkwright! Das ist die perfekte Alternative zu meiner Kerzenanalogie.
»Das verstehe ich nicht.«
Sei still und hör zu, dann werde ich’s dir erklären. Thomas Arkwright ist die Kerze. Er ist entweder derjenige, der er behauptet zu sein, oder er ist es nicht. Er kann nicht beides sein. Entweder von Helrung hat recht oder du. Ihr könnt nicht beide recht haben.
»Das weiß ich auch, Dr. Warthrop.«
Habe ich dich nicht gerade erst, es ist noch keine dreißig Sekunden her, aufgefordert, still zu sein und zuzuhören? Im Ernst, Will Henry – vielleicht ein Unfall im Stall? Oder beim Melken der reizbaren Familienkuh? Lass uns einen Moment annehmen, dass von Helrung recht hat: Mr Thomas Arkwright ist der, der er zu sein behauptet, ein brillanter junger Mann mit einer Leidenschaft für alles Monstrumologische, der zufällig fasziniert ist von einem gewissen Doktor der Naturphilosophie, so fasziniert tatsächlich, dass er nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal, sondern ganze dreizehnmal schreibt und um einen Studienplatz bei diesem modernen Prometheus, diesem Koloss, der die wissenschaftliche Landschaft überragt, bettelt.
Was ist erforderlich, damit diese Aussage wahr ist? Dass du, besagten Prometheus’ Arschabwischer, deine Nebenpflichten als Registrator so vernachlässigt hast, dass dir seine Bewerbung nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal, sondern ganze dreizehnmal entgangen ist. Das, oder du bist einfach ein Lügner und hast sie vernichtet, aus Furcht, von einem geselligeren oder effizienteren oder leidenschaftlicheren Arschabwischer ersetzt zu werden, einem, der es mit dem Arschabwischen ernst nimmt, der einen erstklassig abgewischten Arsch als Kunstwerk betrachtet.
Nun, du weißt natürlich, dass du weder nachlässig noch ränkevoll bist, und die Kerze ist sozusagen kalt wie ein Fisch. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass Arkwright ein Lügner ist, auch wenn seine Motive lauter sein mögen. Mit anderen Worten, er lügt, weil er tatsächlich von unserem Doktor fasziniert ist. Es bedeutet nicht, dass er hinterhältige Absichten verfolgt; er ist nicht Jago, sondern eher Puck. Kannst du mir bis dahin folgen, oder möchtest du, dass ich langsamer und weniger vielsilbig spreche?
»Ich kann, Dr. Warthrop. Ich folge Ihnen, Sir.«
Ausgezeichnet! Alsdann zur jüngsten und unendlich besorgniserregenderen Entwicklung – der zweiten Kerze, wollen wir sie nennen: Mr Arkwright, Adolphus und dem »übel riechenden Parfum« des Monstrumariums. Lass uns annehmen, um unserer Beweisführung willen, dass diese zweite Kerze angezündet ist – mit anderen Worten, dass du recht hast und von Helrung unrecht hat. Arkwright treibt tatsächlich ein falsches Spiel; er hat nie einen Fuß in Professor Ainsworth’ Reich gesetzt; er würde das »übel riechende Parfum« genauso wenig wiedererkennen wie ein Blinder die Farbe Blau. Oberflächlich betrachtet ein ziemlich harmloser Ausrutscher – fast belanglos. Wen kümmert es, dass er vorgegeben hat, einen Geruch wiederzuerkennen, den er unmöglich gekannt haben kann? Ein weiterer Versuch, sein Idol mit seiner Beobachtungsgabe zu beeindrucken, so wie er es vorher mit seinem Übermaß an Bewerbungen zu beeindrucken versucht hat … Wir können jetzt aufhören, nicht? Dein sorgenvolles Herz wurde beruhigt, sodass du schlafen kannst und ich gehen?
»Ich bin nicht schläfrig«, sagte ich. »Gehen Sie nicht.«
Na schön. Ich werde bleiben. Denn dein Herz sollte nicht beruhigt sein, Will Henry. Dein Unbehagen ist berechtigt, auch wenn du nicht klar ausdrücken kannst wieso.
»Aber warum kann ich nicht, Dr. Warthrop?« In meinen Augen brannten Tränen der Frustration. »Ich weiß, dass es wichtig ist, aber ich konnte Dr. von Helrung nicht davon überzeugen. Ich konnte nicht sagen wieso.«
Genau das ist es, Will Henry! Du hast dich auf die falsche Frage konzentriert. Du hast gefragt: »Wieso lügt er?« anstatt: »Was bedeutet diese Lüge?« Was bedeutet sie, Will Henry?
»Sie bedeutet …« Die Wahrheit war, dass ich nicht wusste, was die Lüge bedeutete. »Oh, ich hasse mich! Ich bin so dumm …«
Ach, hör doch auf damit! Selbstmitleid ist wie Selbstbefleckung – im Moment mag es sich gut anfühlen, aber das letztendliche Ergebnis ist eine ekelhafte Schweinerei. Einen Hinweis habe ich dir schon gegeben; hier ist noch einer: Mr Arkwright ist wie der törichte Mensch, der sein Haus auf Sand gebaut hat.
»Und der Regen kam und spülte das Fundament fort. Sein Ausrutscher mit dem Geruch … Das ist also der Regen …«
O gütiger Gott! Nein, nein, Will Henry. Nicht der Regen. Wie kommst du jetzt bloß auf den Regen? Den habe ich doch nicht einmal erwähnt! Du bist der Regen, oder wärst es zumindest, wenn du deinen Kopf nicht nur als Hutständer, sondern auch zu etwas anderem benutzen würdest.
Ich schloss die Augen und steckte mir die Finger in die Ohren, um jegliche Ablenkung auszusperren. Wenn ich der Regen war, was war dann Arkwright? Das Haus? Das Fundament? Ach, wieso konnte Warthrop es mir nicht einfach sagen und dann fertig! Machte es ihm Spaß, mir das Gefühl zu geben, ein Kretin zu sein? »Die meisten Menschen denken nicht gern nach, Will Henry«, hatte er mir einmal gesagt. »Täten sie es, hätten wir weniger Anwälte.« (Er war damals gerade davon in Kenntnis gesetzt worden, dass man ihn verklagt hatte – ein häufiges Vorkommnis und Berufsrisiko.)
Ach, Will Henry, was soll ich nur machen mit dir? Du bist wie die alten Ägypter, die glaubten, der Sitz des Denkens läge im Herzen. Das Fundament ist nicht das Objekt deiner Eifersucht.
»Nicht Arkwright«, flüsterte ich ins Dunkel, denn endlich war mir ein Licht aufgegangen. »Die Lüge! Seine Lüge ist das Fundament, nicht wahr? Und das Haus ist …« Denk nach, denk nach! Denken ist menschlich, sagte der Doktor immer, also sei Mensch und denk! »Das Haus ist die Folge, die sich auf die Lüge gründet … der Nidus. Der Nidus ist das Haus! Er konnte nicht schlussfolgern, dass Sie den Nidus hatten, weil seine Schlussfolgerung mit einer Lüge begann – dass er wusste, dass wir im Monstrumarium gewesen waren! Er wusste über den Nidus Bescheid, bevor er durch die Tür kam!«
Ich fuhr hoch, schwang die Beine über die Bettkante und tastete in der Nachttischschublade nach der Streichholzschachtel.
»Und es gibt nur zwei Möglichkeiten, wieso er davon gewusst haben konnte: Entweder Dr. von Helrung hat es ihm erzählt …«
Was er nach seinen eigenen Worten nicht getan hat, und wir haben keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen.
»… oder John Kearns hat es ihm erzählt.« Ich zündete das Streichholz an und hielt es an den Kerzendocht. »Er arbeitet mit Kearns zusammen!«
Oder jemand anderem, der weiß, was Kearns mir geschickt hat, kam Dr. Warthrops Stimme wieder. Kearns könnte es jemandem erzählt haben, aber es ist schwer vorzustellen wem und nahezu unmöglich zu begreifen warum.
Ich war auf und zerrte an meinen Hosenbeinen. »So oder so, er ist unaufrichtig, aber wieso? Was für ein Spiel treibt er?« Ich beobachtete, wie die Flamme im Luftzug, der vom offenen Fenster quer durchs Zimmer wehte, flackerte. Ich konnte den Fluss riechen und vernahm in der Ferne das raue Signal eines Schleppers. Die Stimme im Innern war verstummt. »Es war ein Trick. Er hat Sie ausgetrickst, Dr. Warthrop. Sie! Er musste mit Ihnen kommen, um Kearns zu finden, also hat er Ihre Deckung unterlaufen und Sie mit Schmeicheleien überschüttet und Sie glauben gemacht, er sei der perfekte Ersatzmann.« Ich streifte mir hastig das Hemd über und suchte nach meinen Schuhen – was war bloß aus meinen Schuhen geworden? »Ich muss es Dr. von Helrung sagen, ehe es zu spät ist!«
Und die Stimme meldete sich wieder und sprach:
Es ist bereits zu spät.