Vierzehn
»Das Ding, das nicht zu sehen ist«

Und so trug es sich im Winter meines vierzehnten Jahres zu, dass ich bei Nathaniel Bates und seiner Familie lebte, in ihrem dreistöckigen Stadthaus, das dem Hudson zu in der Upper West Side Manhattans lag. Nathaniel Bates war »im Finanzwesen«. Sonst erfuhr ich während meines Aufenthalts dort nicht viel über ihn. Er war ein ruhiger Mann, der Pfeife rauchte und nie ohne Krawatte gesehen wurde und nie ohne seinen Hut nach draußen ging und dessen Schuhe stets blendend blank poliert waren und dessen Frisur immer tadellos war, und immer schien er eine Zeitung unterm Arm stecken zu haben, obwohl ich ihn nie eine lesen sah. Er kommunizierte, soweit ich es beurteilen konnte, mittels monosyllabischer Grunzlaute, Gesichtsausdrücke (ein Blick über seinen Kneifer mit erhobener rechter Augenbraue bedeutete beispielsweise, er war verstimmt) und eines gelegentlichen Bonmots, das mit derart trockener Ernsthaftigkeit zum Vortrag gebracht wurde, dass man immer auf eigene Gefahr lachte.
Außer ihrer Tochter hatten die Bates noch ein weiteres Kind, einen Jungen von neun namens Reginald, den sie Reggie nannten. Reggie war klein für sein Alter, sprach mit einem leichten Lispeln und schien von dem Moment an, da ich durch die Tür trat, völlig gefesselt von mir zu sein. Mein Ruf, so schien es, war mir vorausgeeilt.
»Du bist Will Henry!«, verkündete er. »Der Monsterjäger!«
»Nein«, antwortete ich ehrlich. »Aber ich diene unter einem.«
»Pellinore Warthrop! Der berühmteste Monsterjäger auf der Welt!«
Ich stimmte mit ihm überein, dass er das war. Reggie blinzelte mich durch seine dicken Brillengläser an, und sein Gesicht war erhellt vom Glanz des großen Mannes, der von mir widerschien.
»Was ist mit deinem Finger passiert? Hat ein Monster ihn abgebissen?«
»Das könnte man so sagen.«
»Und dann hast du es getötet, stimmt’s? Du hast ihm den Kopf abgehackt!«
»Das ist nah dran«, antwortete ich. »Dr. Warthrop hat ihm einen Kopfschuss verpasst.«
Ich dachte, er würde vor Aufregung in Ohnmacht fallen.
»Ich will auch ein Monsterjäger sein, Will. Bildest du mich aus?«
»Ich denke nicht.«
Reggie wartete, bis seine Mutter uns den Rücken zukehrte, und dann trat er mir so fest er konnte gegen das Schienbein.
* * *
Ihre Tochter hatte ich bereits kennengelernt.
»Da bist du also, und Mutter hatte recht, du hast einen Finger verloren«, sagte Lillian Bates. Ich hatte gerade mein Bad beendet – das erste seit Wochen –, und meine Haut fühlte sich zu lose auf den Knochen an, und meine Kopfhaut brannte von der Lauge. Der Bademantel, den ich trug, gehörte ihrem Vater, und ich verlor mich darin; mir war übermäßig warm, und ich war benommen und äußerst schläfrig.
Lilly für ihren Teil wirkte größer, dünner und schien sich nicht im Geringsten unwohl in ihrer eigenen Haut zu fühlen. Es war erst ein paar Monate her, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, aber ein Mädchen reift schneller heran als ihre männlichen Gegenstücke. Mir fiel auf, dass sie begonnen hatte, Schminke zu tragen.
»Wie hast du deinen Finger verloren?«, fragte sie.
»Beim Beschneiden der Rosensträucher«, antwortete ich.
»Lügst du, weil du dich schämst, oder lügst du, weil du glaubst, es ist komisch?«
»Weder noch. Ich lüge, weil die Wahrheit schmerzlich ist.«
»Mutter sagt, dein Doktor hat dich verlassen.«
»Er kommt wieder zurück.«
Sie bedachte mich mit einem Naserümpfen. »Wann?«
»Nicht schnell genug.«
»Mutter sagt, es kann sein, dass du eine lange Zeit bei uns bleibst.«
»Das kann ich nicht.«
»Das wirst du, wenn Mutter es sagt. Mutter setzt immer ihren Kopf durch.« Diese Tatsache schien sie nicht besonders glücklich zu machen. »Ich glaube, du bist ihr neues Projekt. Sie hat immer ein Projekt. Mutter hält viel von Sachen. Sie ist eine Suffragette. Hast du das gewusst?«
»Ich weiß nicht einmal, was eine Suffragette ist.«
Sie lachte, ein Klimpern heller, glänzender Münzen, die auf ein Silbertablett geworfen wurden. »Du warst noch nie besonders helle.«
»Und du warst noch nie besonders nett.«
»Mutter hat nicht gesagt, wo dein Dr. Warthrop hingegangen ist.«
»Sie weiß es nicht.«
»Weißt du es denn?«
»Wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht erzählen.«
»Nicht einmal, wenn ich dich küssen würde?«
»Dann erst recht nicht.«
»Na ja, ich habe auch nicht die Absicht, dich zu küssen.«
»Und ich habe nicht die Absicht, dir irgendetwas zu erzählen.«
»Also weißt du es doch!« Sie lächelte mich triumphierend an. »Lügner!« Und dann küsste sie mich trotzdem.
»Es ist schade, William James Henry«, sagte sie, »dass du gänzlich zu jung, zu schüchtern und zu klein bist, sonst könnte ich dich für attraktiv halten.«
* * *
Lillys Überzeugung war nicht unangebracht: Ich war das neue Projekt ihrer Mutter Emily. Nach einer schlaflosen, unerträglich langen Nacht in einem Zimmer mit Reggie, der mir mit Fragen und Flehen um Monstergeschichten auf die Nerven ging und eine besorgniserregende Neigung zu mitternächtlicher Flatulenz zeigte, packte Mrs Bates mich ein und ließ mich zum Friseur traben. Dann brachte sie mich zum Kleiderhändler, danach zum Schuhmacher und schließlich, weil sie genauso gründlich war, wie sie entschlossen war, zum Pfarrer ihrer Kirche, der mich über eine Stunde lang ausfragte, während Mrs Bates in einer Bankreihe saß, die Augen geschlossen und für meine unsterbliche Seele betend, nehme ich zumindest an. Ich gestand dem liebenswürdigen alten Priester, dass ich nicht mehr zur Kirche gegangen war, seit meine Eltern gestorben waren.
»Dieser Mann, der für dich sorgt … dieser – wie hast du ihn noch gleich genannt? Doktor der ›anomalen Biologie‹? Er ist kein religiöser Mensch?«
»Ich glaube nicht, dass es viele Doktoren der anomalen Biologie gibt, die das sind«, antwortete ich. Ich erinnerte mich an seine Worte an dem Tag, bevor er mich im Stich gelassen hatte:
Es ist etwas in uns, das sich nach dem Unsagbaren, dem Unerreichbaren, dem Ding, das nicht zu sehen ist, sehnt.
»Mir scheint, das ist die Norm für solche Männer, in Anbetracht der Natur ihrer Arbeit.«
Ich brachte keine entgegengesetzte Meinung vor. Ich hatte wirklich nichts zu sagen. Was ich vor meinem geistigen Auge sah, war ein leerer Kübel, der auf dem Boden neben dem Nekropsietisch stand.
* * *
»Nun schau dich einer an!«, rief Lilly, als wir wieder im Haus am Riverside Drive ankamen. Sie war selbst gerade erst heimgekommen; sie hatte ihre Schuluniform noch an und noch keine Zeit gehabt, Schminke aufzulegen. Sie sah aus, wie ich sie in Erinnerung hatte, ein junges Mädchen, fast in meinem Alter, und irgendwie bewirkte das, dass meine Handflächen zu jucken anfingen. »Ich erkenne dich kaum wieder, Will Henry! Du siehst so …« Sie suchte nach dem Wort. »Anders aus.«
Später an diesem Abend – viel später; es war nicht leicht im Zuhause der Bates’, Zeit für sich selbst zu haben – warf ich zufällig einen Blick in den Badezimmerspiegel und war schockiert über das Bild des Jungen, das dort eingefangen war. Bis auf den leicht gehetzten Blick in seinen Augen hatte er nur wenig Ähnlichkeit mit dem Jungen, der sich an einem Feuer gewärmt hatte, das mit den klein gehackten Überresten eines toten Mannes gespeist worden war.
* * *
Alles war anders.
Jeden Morgen gab es ein komplettes Frühstück, zu dem unser Eintreffen pünktlich um sechs erwartet wurde. Niemand durfte mit dieser Mahlzeit – oder mit irgendeiner Mahlzeit – anfangen, bis Mr Bates seine Gabel in die Hand nahm. Nach dem Frühstück gingen Lilly und Reggie fort in die Schule, Mr Bates ging fort zu seiner Arbeit »ins Finanzwesen« und Mrs Bates ging fort mit mir. Sie war entsetzt über das schwindelerregende Ausmaß meiner Unkenntnis in den elementarsten Aspekten einer richtigen Kindheit. Ich war nie in einem Museum oder einem Konzert oder einem Minstrelschauspiel oder dem Ballett oder auch nur dem Zoo gewesen. Ich hatte nie einem Vortrag beigewohnt, ein Theaterstück gesehen, eine Laterna-magica-Vorführung erlebt, ein Zirkuszelt betreten, ein Fahrrad gefahren, ein Buch von Horatio Alger jr. gelesen, einen Drachen steigen lassen, einen Garten gehegt, ein Musikinstrument gespielt oder auf Schlittschuhen gestanden. Ich hatte noch nicht einmal auch nur ein einziges Gesellschaftsspiel gespielt! Keine Scharade oder Blindekuh, wovon ich schon gehört hatte, und kein Pirschjäger oder Cupido kommt oder Stummer Reimer, deren Namen mir neu waren.
»Was in aller Welt hast du denn abends gemacht?«, erkundigte sie sich.
Ich wollte diese Frage nicht beantworten; ich war ernstlich besorgt, sie könnte die Verhaftung des Monstrumologen wegen Kindesgefährdung in die Wege leiten.
»Dem Doktor geholfen.«
»Ihm geholfen wobei?«
»Bei der Arbeit.«
»Arbeit? Nein, ich spreche von danach, William. Nachdem die Arbeit für den Tag beendet war.«
»Die Arbeit war nie beendet.«
»Aber wann hast du dann Zeit für deine Studien gehabt?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich verstand nicht, was sie meinte.
»Deine Schulaufgaben.«
»Ich gehe nicht zur Schule.«
Sie war sprachlos. Als sie herausfand, dass ich über zwei Jahre lang kein Klassenzimmer mehr von innen gesehen hatte, war sie wütend – so wütend tatsächlich, dass sie die Angelegenheit vor ihrem Mann zur Sprache brachte.
»William hat mir mitgeteilt, dass er seit dem Tod seiner Eltern keinen einzigen Tag die Schule besucht hat«, erzählte sie ihm an jenem Abend.
»Humf. Du wirkst überrascht.«
»Mr Bates, ich bin verärgert. Er wird nicht besser behandelt als eins der Exemplare dieses schrecklichen Mannes.«
»Eher wie eins seiner Instrumente, würde ich sagen. Ein weiteres Werkzeug in seiner Monsterjagdausrüstung.«
»Aber da müssen wir etwas tun!«
»Humf. Ich weiß, was du vorschlagen willst, aber wir haben kein Recht dazu, Emily. Der Junge ist unser Gast, nicht unsere Verantwortlichkeit.«
»Er ist eine verlorene Seele, die uns vom Allmächtigen Vater in unseren Weg geführt wurde. Er ist der Jude, der am Straßenrand geschlagen wird. Willst du der Levit oder der Samariter sein?«
»Ich bin lieber Episkopale.«
Sie ließ das Thema fallen, jedoch nur fürs Erste. Emily Bates war nicht die Sorte »Experte auf dem Gebiet«, die ein Geschwür eitern ließ.
* * *
An Schultagen bekam ich nicht viel von Lilly zu sehen. Ihre Nachmittage waren Klavier- und Geigenstunden, Ballettunterricht, Einkaufstouren, Ausflügen zum Salon oder Besuch bei Freundinnen gewidmet. Ich sah sie beim Frühstück, beim Abendessen und danach, wenn die Familie sich im Wohnzimmer versammelte, wo ich sämtliche Spiele im Repertoire der Familie Bates kennenlernte. Ich verabscheute Scharaden, weil ich fürchterlich darin war. Ich hatte keinen kulturellen Kontext, auf den ich hätte zurückgreifen können. Ich mochte jedoch Kartenspiele (»Alte Jungfer und Junggeselle«, »Unsere Vögel« und »Dr. Busby«) und »Ich habe einen Korb«, worin ich mich hervortat. Wenn ich an die Reihe kam, konnte ich immer nennen, was in meinem »Korb« war, egal welcher Buchstabe mir zufiel. A war einfach: Anthropophagi. V? Na, ich habe einen Vastarus hominis in meinem Korb! Was ist mit X? Das ist eine harte Nuss, aber nicht zu hart für mich. Schaut her: Es ist ein Xiphias!
Die Wochenenden waren eine andere Geschichte. Kaum eine Stunde verging ohne ihre Gesellschaft. Radfahren im Park (nach einem Nachmittag Unterweisung; ich wurde nie besonders gut darin), Picknicke am Fluss, als das Wetter wärmer wurde, Stunden in der Bibliothek des Hauptquartiers der Gesellschaft an der Ecke Broadway und Zweiundzwanzigster Straße (wenn wir uns wegschleichen konnten; Mrs Bates war gar nicht damit einverstanden, dass wir uns monstrumologischen Dingen widmeten) und natürlich viele Stunden in dem braunen Sandsteinhaus ihres Großonkels. Lilly verehrte Onkel Abram.
Ihren Traum, die erste Monstrumologin zu werden, hatte sie nicht aufgegeben. In der Tat besaß sie ein fast enzyklopädisches Wissen über dieses Gebiet, von der abwechslungsreichen Geschichte der Monstrumologie zu den noch abwechslungsreicheren Ausübenden der Zunft, von ihrem Katalog der böswilligen Kreaturen zur komplizierten Geschäftsordnung der Gesellschaft. Sie wusste mehr über Monstrumologie aus eigenem Lernen als ich nach zwei Jahren des Zusammenlebens mit dem größten Monstrumologen seit Bacqueville de la Potherie, eine ziemlich peinliche Tatsache, auf die sie bei jeder Gelegenheit mit dem größten Vergnügen hinwies.
»Na ja«, meinte ich eines Samstagnachmittags, während wir zwischen den staubigen Regalen im dritten Stock des alten Opernhauses saßen und meine Geduld nachließ, »vielleicht bin ich ja einfach nur dumm.«
»Das habe ich mich oft gefragt.«
»Es zu machen ist nicht dasselbe wie ein Buch darüber zu lesen!«, schoss ich zurück.
»Das Einzige, was dasselbe ist wie ein Buch zu lesen, ist … ein Buch zu lesen!« Sie lachte. »Hättest du dich stattdessen für Bücher entschieden, hättest du deinen Finger noch.«
Wie ihre Mutter hatte sie von Helrungs Augen, so blau wie ein Bergsee an einem sonnigen Herbsttag. Wenn man sich unter die azurne Oberfläche sinken ließe, würde man ertrinken, um bleiben zu dürfen.
»Wo ist Dr. Warthrop hingegangen?«, fragte sie plötzlich. Diese Frage holte sie mindestens viermal die Woche hervor. Und jedes Mal gab ich ihr dieselbe Antwort, die der Wahrheit entsprach:
»Ich weiß es nicht.«
»Wonach sucht er?«
Ich hatte in der Bibliothek nach einem Bild davon geforscht. Es gab einen sehr langen Eintrag in der Encyclopedia Bestia (mitverfasst von Warthrop), aber kein Bild und keine Beschreibung von Typhoeus magnificum, mit Ausnahme einer ausführlichen Fußnote, welche die verschiedenen fantasiereichen – das heißt unverifizierbaren – Darstellungen des Ungesehenen einzeln aufführte. Er war eine drachenartige Kreatur, wie von Helrung erwähnt hatte, die ihre Opfer »höher als den höchsten Berg« trug, ehe sie sie in ihrer Raserei in Stücke riss; er war eine riesige trollartige Bestie, die Stücke ihrer Beute mit solcher Wucht wegschleuderte, dass sie meilenweit entfernt von dem Ort, an dem ihre Besitzer sie verloren hatten, vom Himmel fielen; er war ein gewaltiger wurmartiger Wirbelloser – ein Verwandter des mongolischen Todeswurms vielleicht –, der sein Gift mit solcher Geschwindigkeit spie, dass es den menschlichen Körper sprengte und zu einem feinen Nebel verdampfen ließ, der als das Phänomen wieder zur Erde sank, das man »roter Regen« nannte.
Der Artikel erwähnte die Begleitumstände der Entdeckung des Lakshadweep-Nidus im Jahre 1851, die Theorien über die Verbreitung des Magnificums (die meisten Monstrumologen waren sich einig, dass sein Vorkommen sich auf die entlegenen Inseln des Indischen Ozeans und Teile von Ostafrika und Kleinasien beschränkte, aber dieser Glaube stützte sich mehr auf Überlieferungen und Erzählungen der Eingeborenen als auf handfeste wissenschaftliche Beweise) und die traurigen Geschichten der Männer, die sich auf die Suche nach dem Gesichtslosen begaben, derjenigen, die mit leeren Händen zurückkamen, und derjenigen, die gar nicht mehr zurückkamen. Besonders ergreifend (und beängstigend) war die Geschichte Pierre Lebroques, eines angesehenen anomalen Biologen – wenngleich ziemlichen Bilderstürmers –, der, nach einer fünfmonatigen Expedition, bei der keine Kosten gescheut wurden (sein Trupp umfasste fünf Elefanten, neunundzwanzig Kulis und einen großen Koffer voller Gold, um die örtlichen Sultane zu bestechen), als delirierender Geistesgestörter zurückkehrte. Seine Familie war zu der schmerzlichen Entscheidung gezwungen, ihn in eine Irrenanstalt einzuweisen, wo er den Rest seiner Tage in ungelinderter Qual verbrachte und lautstark die unablässige Litanei verkündete: »Nullité! Nullité! Nullité! Weiter ist es nichts! Nichts! Nichts! Nichts!«
»Er sucht nach dem Questentier«, sagte ich ihr.
* * *
Ich nehme an, wir können nicht anders. Alle sind wir Jäger. Sind, in Ermangelung eines besseren Wortes, Monstrumologen. Unsere Beute wechselt je nach Alter, Geschlecht, Interessen, Energie. Manche machen Jagd auf die einfachsten oder albernsten Sachen – das neueste elektronische Gerät oder die nächste Beförderung oder den bestaussehenden Jungen oder das schönste Mädchen an der Schule. Andere jagen nach Ruhm, Macht, Reichtum. Ein paar edlere Seelen jagen dem Göttlichen oder dem Wissen oder der Verbesserung der Menschheit nach. Im Winter des Jahres 1889 pirschte ich mich an einen Menschen heran. Sie denken vielleicht, ich meine Dr. Pellinore Warthrop. Das tue ich nicht. Jene Person war ich.
* * *
Nur zu, mach ihn auf!, sagte der Kurator. Er wollte, dass du es siehst.
Jede Nacht derselbe Traum. Der Verschlossene Raum. Der alte Mann, der mit den Schlüsseln klirrt. Und der Karton. Der Karton und der Junge und der klemmende Deckel und das unsichtbare Wesen, das sich im Karton bewegt, und der alte Mann, der mich ausschimpft: Dummer Junge! Du kriegst ihn nicht auf, weil du schläfst!
Und der dumme Junge, der beginnt aufzuwachen, schwitzend unter den warmen Decken in einem kalten Zimmer, schwankend am Rande davon, das Ungeheuer, die Mitte nicht standhaltend, das Ich losgelöst, nur das Nicht-ich jetzt wach, das den Schrei eines Wahnsinnigen zurückwirft: »Nullité! Nullité! Nullité! Weiter ist es nichts! Nichts! Nichts! Nichts!«
Manchmal hörte die Frau auf der andern Seite des Flurs ihn schreien, und egal, wie spät es war, stieg sie aus dem Bett und warf ihren Morgenrock über und ging über den Flur zu seinem Zimmer. Sie setzte sich zu ihm. »Still jetzt. Scht! Es ist gut. Es ist nur ein Traum. Still jetzt. Scht!« Der Kehrreim einer Mutter. Sie duftete nach Lilien und Rosenwasser, und manchmal vergaß er es und nannte sie Mutter. Sie verbesserte ihn nicht. »Still jetzt. Scht! Es ist nur ein Traum.«
Oder sie sang ihm Lieder vor, die er noch nie zuvor gehört hatte, in Sprachen, die er nicht verstand. Ihre Stimme war wunderschön, ein voller Samtvorhang, ein Fluss, den die Dämonen nicht überqueren konnten. Er hatte nicht gewusst, dass eine irdische Stimme so himmlisch klingen konnte.
»Stört es dich, wenn ich dir vorsinge, William?«
»Nein, es stört mich nicht. Es gefällt mir, wie es sich anhört.«
»Als ich ein junges Mädchen ungefähr in Lillys Alter war, war es mein großer Ehrgeiz, auf der professionellen Bühne Opern zu singen.«
»Haben Sie es gemacht?«
»Nein, nie.«
»Warum nicht?«
»Ich heiratete Mr Bates.«
* * *
Ich jagte dem nach, den ich verloren hatte, dem Jungen, der ich war, bevor es sich ergeben hatte, dass ich bei ihm einzog. Eine Zeit lang – eine sehr lange Zeit lang – glaubte ich, ich jagte dem Monstrumologen nach. Schließlich war er es, der vom Angesicht der Erde verschwunden war.
Ich dachte, ich sähe ihn eines Abends in der Oper. Mrs Bates nahm Lilly und mich zu einer Inszenierung von Wagners Rheingold mit, die einen Monat zuvor im Metropolitan Opera House Premiere gehabt hatte.
»Ich hasse die Oper!«, beklagte Lilly sich. »Ich begreife nicht, wieso Mutter mich dorthin schleppt.«
Wir saßen in einer Privatloge hoch über dem Orchester, als ich dachte, ich hätte ihn in der Menge entdeckt. Ich wusste, dass er es war. Ich fragte nicht, weshalb der Monstrumologe die Oper besuchen sollte – das spielte keine Rolle. Er war es! Der Doktor war zurückgekommen! Ich machte Anstalten, aufzustehen; Lilly zog mich in den Sessel zurück.
»Es ist Dr. Warthrop!«, flüsterte ich aufgeregt.
»Sei nicht albern!«, flüsterte sie zurück. »Und erwähne seinen Namen nicht vor Mutter!«
Ich dachte, ich sähe ihn ein zweites Mal, im Central Park, wo er mit einer dänischen Dogge spazieren ging. Als er näher kam, erkannte ich, dass er zwanzig Jahre älter und zwanzig Pfund schwerer war.
* * *
Wann immer ich von Helrung sah, stellte ich dieselbe Frage:
»Haben Sie etwas vom Doktor gehört?«
Seine Antwort am siebzehnten Tag war dieselbe wie seine Antwort am siebenundzwanzigsten:
»Nein, Will. Noch nichts.«
Am siebenunddreißigsten Tag meines Exils, nachdem ich wieder einmal diese Worte gehört hatte: Nein … noch nichts, sagte ich zu ihm: »Irgendetwas stimmt nicht. Er hätte inzwischen geschrieben haben müssen.«
»Es könnte sein, dass etwas nicht stimmt …«
»Dann müssen wir etwas unternehmen, Dr. von Helrung!«
»Oder es könnte bedeuten, dass alles in bester Ordnung ist. Falls Pellinore die Spur des Magnificums aufgenommen hat, wird er sich nicht die Zeit nehmen, auch nur zwei Wörter zu schreiben. Du hast dem Mann gedient; du weißt, dass es so ist.«
Das wusste ich tatsächlich. Wenn das Jagdfieber ihn überkam, konnte ihn nichts von seinem Ziel ablenken. Aber ich machte mir Sorgen.
»Sie haben doch Freunde in England«, sagte ich. »Können Sie sie nicht fragen, ob sie wissen, wo er hingegangen ist?«
»Sicher kann ich das – und werde es, wenn die Umstände es gebieten, aber jetzt noch nicht. Pellinore würde es mir nie verzeihen, wenn ich diese spezielle Katze aus dem Sack ließe.«
* * *
Eines stürmischen Nachmittags Anfang April kam ich zurück, um ihn um einen besonderen Gefallen zu bitten.
»Ich will im Monstrumarium arbeiten.«
»Du willst im Monstrumarium arbeiten!« Der alte Monstrumologe runzelte die Stirn. »Was sagt Emily dazu?«
»Es spielt keine Rolle, was sie sagt. Sie ist nicht mein Vormund, und sie ist nicht meine Mutter. Ich brauche nicht ihre Erlaubnis, um irgendetwas zu machen.«
»Mein lieber kleiner Will, ich vermute, die Sonne selbst braucht ihre Erlaubnis, um zu scheinen. Wieso willst du im Monstrumarium arbeiten?«
»Weil ich es satthabe, in der Bibliothek zu sitzen. Ich habe so viel gelesen, dass es sich anfühlt, als würden mir die Ohren bluten.«
»Du hast gelesen?«
»Sie hören sich an wie Mrs Bates! Ja, ich kann tatsächlich lesen, Meister Abram. Und? Ich bin sicher, Professor Ainsworth könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen.«
»Nun ja, ich glaube nicht, dass Professor Ainsworth sich besonders viel aus Kindern macht.«
»Ich weiß. Und aus mir erst recht nicht. Deshalb komme ich ja zu Ihnen, Dr. von Helrung. Sie sind der Präsident der Gesellschaft. Auf Sie muss er hören.«
»Hören, ja. Gehorchen … Tja, das ist etwas völlig anderes!«
Seine Hoffnung auf Erfolg war nicht groß, aber er beschloss, mich bei Laune zu halten, und zusammen stiegen wir in das Kellerbüro des alten Mannes hinab. Das Treffen verlief nur hinsichtlich seines Ergebnisses gut; der Rest grenzte an eine Katastrophe. An einer Stelle hatte ich tatsächlich Angst, Adolphus könnte von Helrung den Kopf einschlagen. Ich brauche keine Hilfe! Er wird meine Ordnung sabotieren! Das Monstrumarium ist kein Ort für Kinder! Er wird sich verletzen! Er wird mich verletzen!
Von Helrung war geduldig. Von Helrung war einfühlsam. Von Helrung war liebenswürdig. Er lächelte und nickte und äußerte seine allergrößte Achtung und Bewunderung für die Errungenschaften des Kurators, die feinste Sammlung monstrumologischer Relikte auf der Welt, und nicht nur das, sondern auch die Schaffung des einzigartigsten Katalogisierungssystems der westlichen Hemisphäre. Er beabsichtige, beim nächsten Kongress vorzuschlagen, dass eine Abteilung des Monstrumariums zu seinen Ehren benannt würde – der Adolphus-Ainsworth-Flügel.
Der Professor war nicht besänftigt.
»Bescheuert! Zu wortreich! Es sollte der Ainsworth-Flügel heißen – oder besser, die Ainsworth-Kollektion.«
Von Helrung spreizte die Hände, als wollte er sagen: Was immer Sie möchten.
»Ich mag keine Kinder«, sagte der Kurator, wobei er mich über seine Brille hinweg anfunkelte. »Und ganz besonders mag ich keine Kinder, die sich an dunklen Orten zu schaffen machen!« Er richtete einen krummen Finger auf von Helrung. »Ich weiß nicht, was es mit diesem Jungen auf sich hat. Jedes Mal, wenn ich aufblicke, steht er an der Seite eines anderen Monstrumologen. Was ist aus Warthrop geworden?«
»Eine dringende Angelegenheit erforderte seine Anwesenheit.«
»Oder er ist tot.«
Von Helrung blinzelte mehrmals schnell, dann sagte er: »Tja, ich bin nicht sicher. Ich glaube nicht.«
»Das ist die dringendste Angelegenheit, die es gibt, wenn man mal darüber nachdenkt«, verkündete Adolphus in meine allgemeine Richtung. »Der Tod. Manchmal sitze ich hier, sitze einfach nur hier und arbeite vor mich hin, und ich denke drüber nach, und dann springe ich von meinem Stuhl auf und denke: ›Schnell, Adolphus! Schnell, schnell! Tu etwas!‹«
»Sie sollten sich keine Sorgen über solche Dinge machen«, sagte von Helrung.
»Habe ich gesagt, ich habe mir Sorgen gemacht? Bah! Ich war sechsundvierzig Jahre lang von Tod umgeben. Es sind nicht die Toten, die mir Sorgen machen.« Dann, indem er sich mit finsterem Blick an mich wandte, blaffte er: »Worin bist du gut?«
»Ich kann Ihre Schriftstücke ordnen –«
»Niemals!«
»Die Akten verwalten …«
»Wird nicht passieren!«
»Diktate aufnehmen …«
»Ich habe nichts zu sagen!«
»Die Post sortieren …«
»Ganz bestimmt nicht!«
»Na ja«, sagte ich ermattet, »ich kann ganz gut mit einem Besen umgehen.«
* * *
Frühling. Blumen brechen aus der überraschten Erde. Der Himmel lacht. Die Bäume kleiden sich verlegen in zartes Grün. Und der Himmel hängt voller Sterne. Kaufe die Zeit aus!, singen die Sterne herab. Kaufe den Traum aus!
Und der Junge, der aufwacht im Land der zerbrochenen Felsen, dem trockenen Land, das nass ist vom Frühlingsregen, aufwacht an dem Ort, wo zwei Träume sich kreuzen – der Traum, wo aus Samen Bäume aus Gold wachsen, und der Traum von dem Karton, den er nicht öffnen kann.
»Eigentlich sollte ich dir das gar nicht sagen«, sagte Lilly. »Ich sollte es dir wirklich nicht sagen.«
Ich werde das Schiff mit tausend Segeln sein.
»Gestern Abend habe ich gehört, wie sie über dich gesprochen haben.«
Nur zu, mach ihn auf! Er wollte, dass du es siehst.
»Und Vater hat nicht ja gesagt, aber er hat auch nicht nein gesagt.«
Ich will gehen, Vater. Ich will gehen.
»Ich sage nein«, redete sie weiter. »Ich habe dich schon geküsst, drei Mal.«
Und die Sterne singen herab: Kaufe die Zeit aus, kaufe den Traum aus!, im Land der zerbrochenen Felsen, wo zwei Träume sich kreuzen.
»Und das ist ein schrecklicher Gedanke, den eigenen Bruder zu küssen!«
* * *
Ich will nicht, dass Sie mich nach Hause bringen; mein Platz ist bei ihm.
»Nun, William, was meinst du?«, fragte Mrs Bates.
»Ich meine, der Doktor wird äußerst ungehalten sein, wenn er zurückkommt.«
»Dr. Warthrop, falls er zurückkommt, wird in der Angelegenheit nichts zu sagen haben. Er hat keinen Rechtsanspruch auf dich.«
»Dr. Warthrop, wenn er zurückkommt, wird sich um Rechtsansprüche nicht scheren.«
»Humf!«, brummte Mr Bates. »Frech!«
»Daran habe ich keinen Zweifel, William. Aber er würde sich deinen Wünschen fügen, glaube ich. Was ist dein Wunsch?«
Meine Beute war in Sicht; ich brauchte bloß die Hand auszustrecken und sie zu packen. Der Junge mit dem großen Glas Milch in der Küche, die nach Äpfeln roch, und keine Dunkelheit, keine Dunkelheit irgendwo, keine Leichen in Aschentonnen, kein verkrustetes Blut an seinen Schuhsohlen, kein Brüllen seines Namens mitten in der Nacht, kein sich loswickelndes Ding, das antrieb und abwies, das wie der Donner flüsterte: ICH BIN. Nur der lachende Himmel und golden geschmückte Bäume und die Fülle der herabsingenden Sterne und der Junge mit seiner Milch und der Geruch der Erde, das unverminderte Ganze davon, wie Äpfel.