Neununddreißig

»Wie sieht es aus?«

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Mit einem leisen Lachen sprang er von seinem steinernen Ansitz herunter und senkte sofort das Gewehr, als er Awaale und den Doktor mit dem Licht auf uns zulaufen sah. Er streckte die Hände in die Luft.

»Nicht schießen; ich bin sauber!«, rief er mit dieser unverwechselbaren löwenartigen Schnurrstimme. »Meine Güte!«, sagte er, als er Awaale taxierte. »Du bist aber ein großer Afrikaner!«

»Behalt ihn im Visier, Awaale!«, befahl mein Herr. »Wenn er sich bewegt, erschieß ihn!«

Er kniete vor Kearns’ Opfer nieder. Ihr war sauber durch den Hinterkopf geschossen worden.

»Bist du verletzt?«, fragte Warthrop mich besorgt. Ich schüttelte den Kopf. Rasch untersuchte er das Baby und nahm es dann aus meinen Armen.

»Und wieder einmal habe ich dir das Leben gerettet, Master Henry!«, sagte Kearns spöttisch. »Nicht dass ich Buch führen würde. Warthrop, ich dachte, Sie wären tot … oder wahnsinnig … oder beides – also habe ich halbwegs recht … oder unrecht. Wie alles andere hängt es ganz davon ab, wie man es betrachtet. Wird dieser ausgesprochen große Afrikaner mich jetzt erschießen, weil ich Ihrem Assistenten das Leben gerettet habe?«

»Wer ist dieser Mann?«, wollte Awaale wissen.

»John Kearns, dieser Name genügt, oder du kannst mich bei meinem afrikanischen Namen nennen, Khasiis. Und du bist Awaale, was ›glücklich‹ bedeutet, glaube ich.«

Awaale nickte. »Und ich weiß, was Ihr Name bedeutet, Khasiis John Kearns.«

»Schön. Und nun, da wir einander ordnungsgemäß vorgestellt wurden, schlage ich vor, dass wir dieses Licht löschen und so schnell wie möglich Schutz suchen. Die Helligkeit zieht sie an wie Motten die Flamme; das wissen Sie doch bestimmt, Pellinore.«

Der Doktor wusste es. Er wies mich an, das aufgegebene Gewehr aufzuheben, und befahl Kearns, vorauszugehen, dicht gefolgt von Awaale, zurück zu unserem kleinen Unterschlupf. Warthrop und ich folgten ihnen, während das Kind sich in seinen Armen wand und wimmerte. Die Tränen hatten Streifen durch sein schmutziges Gesicht gezogen, und sein Mund schimmerte von der Milch seiner toten Mutter. Als wir die Spalte im Fels erreichten, löschte der Monstrumologe die Lampe.

»Ich kann Sie immer noch sehen!«, warnte Awaale den Engländer.

»Wirklich? Dann hast du die Augen einer Katze – oder eines Fäulers.«

»Wo stecken Ihre Freunde, Kearns?«, fragte der Doktor gebieterisch.

»Was für Freunde? Ah, Sie meinen die Russen! Tot. Bis auf Sidorov. Der ist möglicherweise nicht tot … noch nicht. Nicht die Augen einer Katze, aber allemal die Leben!«

»Dann war es also Sidorov, dem Sie das Magnificum angeboten haben!«

»Das Magnificum? Nun ja, ich denke schon. Ich bot ihm an, ihn zu seinen Nistplätzen zu bringen – aber das Biest selbst, das blieb ihm und seinem Freund dem Zaren überlassen.«

»Und?«, herrschte Warthrop ihn leise an. »Hat er es gefunden?«

»Nun, ja – beziehungsweise es hat ihn gefunden.«

Der Doktor zischte durch die Zähne. Jemand war ihm bei dem Preis zuvorgekommen, und dann noch der schlimmstmögliche Rivale, ein Schandfleck der Gesellschaft, der sogar aus ihr ausgeschlossen worden war, ein wissenschaftlicher Scharlatan, der den ganzen Ruhm dafür einheimsen würde, als Erster den Vater aller Monster zu Gesicht bekommen zu haben.

Kearns deutete die Reaktion des Doktors richtig und sagte: »Aber, aber, seien Sie nicht böse auf mich! Immerhin habe ich Ihnen den Nidus geschickt.«

»Warum haben Sie ihn mir geschickt, Kearns? Hätten Sie ihn nicht gebraucht, um Sidorov davon zu überzeugen, dass Sie die Wahrheit sagen?«

»Ach, die Wahrheit!«, sagte Kearns geringschätzig.

»Sie wussten, dass ich kommen würde, um nach Ihnen zu suchen.«

»Na ja, dieser Gedanke kam mir in den Sinn. Und Sidorov ebenfalls. Er war nicht besonders glücklich, als ich ihm erzählte, dass ich den Nidus Ihnen geschickt hatte, um ihn sicher zu verwahren. ›Nicht der!‹, sagte er. ›Nicht Warthrop!‹« Kearns’ russischer Akzent war tadellos. »Und ich sagte: ›Ach, Warthrop ist doch gar nicht so übel, ein feiner Kerl für einen Wissenschaftler und verdammten Moralisten.‹«

»Das erklärt Rurick und Plešec.«

Kearns lachte. »Oh, schön! Die beiden schreien förmlich nach einer Erklärung!«

»Aber nicht Arkwright.«

»Wer ist Arkwright?«

»Sie kennen Arkwright nicht?«

»Sollte ich Arkwright kennen?«

»Sie haben den locus ex magnificum den Briten angeboten.«

»Ich glaube nicht, dass ich mich dazu äußern sollte, außer zu sagen, dass ich ein ergebener Diener Ihrer Majestät der Königin bin.« Er hob die Stimme: »Gott schütze die Königin!«

»Wenn Sie mit ihm fertig sind«, sagte Awaale zu Warthrop, »würde ich ihn gern töten.«

»Na, du bist aber ein blutrünstiger Afrikaner! Wo um alles in der Welt haben Sie den denn aufgetrieben, Pellinore? Haben Sie ihn von einem Piratenschiff entführt?«

»Woher wissen Sie, dass ich Pirat war?«, wollte Awaale wissen.

»Das reicht, Awaale!«, sagte Warthrop. »Man spielt besser nicht mit dem Teufel, wenn man es vermeiden kann.«

»Ja, das ist der Trick«, stimmte Kearns ihm aufgeräumt zu. »Es zu vermeiden.«

»Wo ist es, Kearns?«, knurrte der Monstrumologe. »Wo ist das Magnificum

John Kearns ließ sich Zeit mit der Antwort. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt; trotzdem konnte ich nur gerade so den Umriss des Mannes erkennen, ein Schatten helleren Graus vor dem schwarzen Hintergrund des Berges. Die Stimme, die von diesem Schatten ausging, war ein tiefes Surren, wie das Geräusch des Flügelschlagens einer Fliege.

»Wo das Magnificum ist? Es ist direkt über Ihnen. Es ist direkt neben Ihnen. Es ist hinter Ihnen und vor Ihnen. Es ist in jenem Raum, der sich ein zehntausendstel Zoll außerhalb Ihres Gesichtsfeldes befindet. Suchen Sie nicht über Ihre Nasenspitze hinaus, und Sie werden es finden, Pellinore.«

Der Doktor schnaubte frustriert. Ich konnte spüren, wie sein Körper sich anspannte, als würde er sich im nächsten Moment auf John Kearns stürzen und ihn erwürgen. Das wimmernde Kind, das er in den Armen hielt, rettete Kearns vermutlich.

»Für diese Spielchen habe ich nicht die Nerven, John. Ich habe zu viel ertragen, um auch noch Ihre Rätsel zu ertragen.«

»Und nicht nur Sie, würde ich vermuten! Ich habe Klein Willys Hand gesehen. Da hat die Neugier wohl die Oberhand gewonnen, hm?«

Warthrop ignorierte die Stichelei und fauchte: »Wo ist das Magnificum

»Sie wollen es wirklich sehen? Na schön, ich werde Sie zu ihm führen. Allerdings nicht jetzt. Seine Kinder sind nachts auf den Beinen und verhalten sich sehr beschützerisch, wie meine russischen Freunde entdeckt haben und Ihnen wahrscheinlich schon bekannt ist.«

* * *

Er bat um etwas Wasser und leerte dann Warthrops Feldflasche. Er gab bekannt, einen Bärenhunger zu haben, und machte sich dann über unsere Vorräte her, wobei er sich das Essen so schnell in den Mund stopfte, wie er es aus der Tasche holen konnte.

»Ich hatte sie schon tagelang gejagt«, sagte er um einen Mundvoll Schiffszwieback herum. »Den ganzen Weg von Moomi herunter. Sie verbannen die Infizierten nämlich – werfen sie aus den Höhlen raus, sodass sie sich allein durchschlagen müssen, aber ich wartete, bis die Bestie ganz von ihr Besitz ergriffen hatte – so ist es ein viel besserer Zeitvertreib. Die Weibchen sind viel schwieriger als die Männchen. Die Männchen gehen schnurstracks auf dich los, ohne jede Heimlichkeit oder Subtilität, aber die Weibchen sind ausgesprochen gerissen. Sie locken dich in Sackgassenfallen, führen dich im Kreis herum, sitzen stundenlang still wie eine Staue da, um dir einen Hinterhalt zu legen. Ein Männchen, auch wenn es so groß und stark ist wie unser Awaale hier, macht einem nur halb so viel Mühe wie eine Fäulerin wie die da draußen.«

»Sie wussten, dass wir hier sind«, sagte Warthrop. Es war keine Frage.

»Hab euer Licht gesehen. Wusste, dass ihr sie aufnehmen würdet. War mir nicht ganz sicher, was ich machen sollte; dachte, Sie würden sich selbst um sie kümmern, Warthrop. Wieso haben Sie nicht?«

Der Doktor sah auf den Säugling an seiner Brust herab. Das Kind war eingeschlafen und hatte die dicken Lippen um den winzigen Daumen geschlungen.

»Sie werden es müssen, wissen Sie?«, sagte Kearns.

Der Monstrumologe blickte auf. »Was?«

»Es töten.«

»Es ist nicht infiziert worden.«

»Ausgeschlossen!«

»Ich habe es untersucht.«

»Es hat an der Brustwarze seiner Mutter gesaugt. Wie könnte es nicht infiziert sein?«

Warthrop kaute einen Moment lang auf seiner Unterlippe herum. »Es zeigt keine Symptome«, wandte er eigensinnig ein. Ich fragte mich, wen er zu überzeugen versuchte, Kearns oder sich selbst.

»Na ja, dann machen Sie eben, was Sie wollen. Lassen Sie es hier draußen verhungern.«

»Wir werden es mit uns nehmen.«

»Ich dachte, wir wollten uns das Magnificum ansehen gehen.«

Der Doktor wiegte das Kind sanft in den Armen, während es schlief. »Awaale wird hierbleiben, um auf den Jungen aufzupassen«, entschied er.

»Werde ich?«, fragte Awaale.

»Und wenn der Racker hungrig wird, wird er den kleinen Mund auf seine große schwarze Brustwarze heften?«

»Wo befindet sich die nächste Siedlung?«

»Mit lebenden Menschen darin? Wahrscheinlich die Höhlen drüben in Hoq.«

»Dann wird er das Kind in Hoq abgeben.«

»Wozu? Es hatte Kontakt; sie werden es einfach umbringen. Sie sollten es jetzt tun und sich und Ihnen die ganze Zeit und Mühe sparen.«

»Ich kann es nicht töten«, sagte der Doktor. »Ich werde es nicht töten.«

»Oh! Wollen Sie, dass ich es für Sie mache?«

Instinktiv zog Warthrop das Kind dichter an seine Brust und wechselte das Thema. »Was ist mit Ihren russischen Freunden passiert?«

»Das Gleiche, was mit dem Mädchen da draußen passiert ist – was mit jedem passiert, der die Sternenfäule berührt. Es fing eigentlich alles ganz gut an. Die Paarungszeit hatte gerade begonnen, und die Verluste hielten sich in Grenzen; der Sultan hatte es so ziemlich unter Kontrolle, eingeschränkt auf ein paar abgelegene Dörfer. Sie isolieren die Seuche nämlich, ungefähr wie einen Pockenausbruch, und lassen sie sich von selbst ausbrennen. Sidorov und Begleitung verfolgten den Nexus schrittweise bis zu den Geburtsgründen, tief im Bauch der Berge, und dann wurde einem der Dummköpfe seine Eitelkeit zum Verhängnis. Er trat buchstäblich ins Fettnäpfchen – nur dass das Fettnäpfchen eine frische Pfütze von Pwdre ser war – und bestand dann darauf, seine Stiefel sauber zu machen! Die Fäule brannte sich anschließend durch die gesamte Gruppe. Ich entkam mit knapper Not. Seitdem werde ich gejagt – und jage selbst.«

»Und Sidorov?«

»Oh, den hat’s auch erwischt. Welcher Tag ist heute? Dienstag? Ist es nicht komisch, wie unwichtig die Wochentage werden? Jedenfalls denke ich, dass es letzten Donnerstag war, als es ihn holte.«

»Ihn holte?«

Kearns nickte. »Zu den Nistplätzen, wohin ich Sie führen werde. Falls Sie immer noch gehen wollen.«

»Wie sieht es aus?«, fragte Warthrop. Er wollte John Kearns diese Frage nicht stellen – er war nicht zuversichtlich, eine direkte Antwort zu bekommen –, aber er konnte nicht anders. Die Toten in seinem Sog zwangen ihn dazu. Er hatte sie geopfert, um das Gesicht des Gesichtslosen zu kennen.

»Na ja, es ist ziemlich groß«, antwortete Kearns mit ernstem Ton. »Riesig eigentlich. Es ist schon so lang wie wir da und hüpft von Insel zu Insel, um in der Vegetation zu leben, bevor es wieder für ein oder zwei Generationen untertaucht. Die Männchen sind nicht besonders helle, ziemlich träge, würde ich sagen, wie ein Löwe, lehnen sich zurück und lassen die Weibchen die Beute heimbringen.«

»Aber wie ist ihr Äußeres? Sind sie reptilienartig? Vogelartig? Oder sind sie näher mit den fliegenden Säugetieren verwandt, wie Fledermäuse?«

»Tja, ihr Gehirn ist ziemlich klein, wie das einer Eidechse oder eines Vogels, aber sie haben keine Flügel. Sie sind mit Stacheln bedeckt – wie eine Rose! –, und ihre Haut ist ganz bleich und dünn, ihre Krallen sind scharf, und sie sind ziemlich geschickt mit den Digiti. Nun, wir kennen ja alle die Komplexität ihrer Nester.«

»Dann legen sie also Eier, wie ein Vogel oder Reptil!«

Kearns zuckte die Achsel und lächelte. »Habe kein Ei gesehen – würde ich auch nicht wollen. Kann mir nicht vorstellen, wie das passieren sollte.«

»Wie viele gibt es?«

»Hier auf Sokotra? Hunderte, würde ich schätzen.«

»Hunderte?« Der Monstrumologe wirkte schockiert.

»Auf der ganzen Welt – Tausende, würde ich sagen. Hunderttausende. Millionen. So viele, wie es Sandkörner gibt an dieser gesegneten Insel Strand. Blicken Sie nach oben, Pellinore. Wie viele Sterne stehen am Himmel? So viele Magnifici gibt es, und das ist die Anzahl der Gesichter, die sie haben.«

Mein Herr erkannte, dass er seine Zeit vergeudete. Er schwieg, und Kearns schwieg, und dann war der Wind zu hören und sonst eine Zeit lang nichts.

»Wenn das einer Ihrer Tricks ist, bringe ich Sie um. Haben Sie mich verstanden?«, sagte der Doktor schließlich.

»Ach, also wirklich, Pellinore! Ich will doch, dass Sie es finden! Wieso, denken Sie, habe ich Ihnen den Nidus denn überhaupt erst geschickt?«

* * *

Er verlangte sein Gewehr zurück. Warthrop lehnte ab.

»Sie werden bald hier sein, und dann wäre es mir lieber, wenn ich bewaffnet wäre«, argumentierte Kearns. »Es wäre Ihnen lieber, wenn ich bewaffnet wäre.«

»Wer?«, wollte Awaale wissen. »Wer wird bald hier sein?«

»Die Fäuler«, antwortete Kearns. »Die Kinder von Typhoeus. Das Blut lockt sie an. Sie können es auf Meilen riechen, besonders bei diesem Wind. Dürfte ich bitte meine Waffe zurückhaben?«

»Ich traue diesem Mann nicht«, sagte Awaale. »Sein Name stimmt: Er ist Khasiis, der Böse.«

»Wenn ich euch umbringen wollte, hätte ich meine Chance schon vor Stunden genutzt«, erwiderte Kearns vernünftig.

»Will Henry«, sagte der Doktor. »Gib Dr. Kearns seine Waffe zurück.«

Awaale murmelte etwas vor sich hin. Kearns lachte leise. Warthrop wiegte das Baby in den Armen, und seine Miene war so besorgt wie die des Babys gelassen.

Und so warteten wir auf das Kommen der Kinder von Typhoeus.