Zweiunddreißig

»Geben Sie ihn Will Henry«

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»Wo ist Warthrop?«, fragte er.

Die Frage verringerte mein Entsetzen ein wenig: Sie bedeutete, dass der Doktor noch am Leben war. Wie lange er – und ich – dies bleiben würden war die Frage. Einen kleinen Moment lang überlegte ich, wie sie mich gefunden hatten, und kam dann zu dem Schluss, dass es ein sinnloses Rätselraten war. Das Wie spielte keine Rolle, und das Wieso wusste ich bereits. Würde es falls oder wenn sein? Das war der springende Punkt.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.

Etwas Spitzes drückte gegen meinen Bauch. Plešec hatte sich zu mir herübergebeugt; seine rechte Hand war unter dem Tischtuch verborgen. Als er lächelte, bemerkte ich, dass ihm einer seiner Vorderzähne fehlte.

»Ich könnte dich direkt hier ausweiden«, sagte Plešec. »Denkst du, ich werde es nicht?«

»Ihr wohnen in diesem Hotel?«, fragte Rurick.

»Nein. Ja.«

»Ich dir werden jetzt Regeln erklären«, sagte Rurick geduldig. »Regel eins: Wahrheit sagen. Regel zwei: Nur sprechen wenn angesprochen. Du kennen diese Regeln, ja? Du bist Kind. Alle Kinder kennen diese Regeln.«

Ich nickte. »Ja, Sir.«

»Guter Junge. Sehr höflicher Junge auch. Das mir gefallen. Jetzt wir fangen noch einmal an. Wo sein Warthrop?«

»Er ist in die Stadt gegangen.«

»Aber er kommen zurück – dich holen.«

»Ja. Er wird zurückkommen, um mich zu holen.«

»Wann er kommen zurück?«

»Das weiß ich nicht. Er hat es nicht gesagt.«

Rurick grunzte. Er sah Plešec an. Plešec nickte und steckte das Messer weg.

»Wir mit dir auf ihn warten«, entschied Rurick. »Sein nett hier im Schatten. Nette Brise, kein Gestank nach totem Fisch.«

Es war das Beste, worauf ich in einer nahezu hoffnungslosen Lage hoffen konnte. Vielleicht würde Rimbaud wach werden und wieder nach unten kommen. Ich dachte daran, vom Tisch aufzuspringen und irgendwie übers Geländer zu springen und es darauf ankommen zu lassen, ob ich den Kai erreichen konnte, ohne dass Rurick mir eine Kugel in den Hinterkopf jagte. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Chance außerordentlich gering war. Aber wenn ich nicht weglief, wenn ich nichts tat und Rimbaud nicht aufstand, ehe der Doktor zurückkam, war Warthrop dem Tod geweiht.

Zwei Türen. Hinter der einen, die Lady. Hinter der andern, der Tiger. Welche sollte er wählen?

Ich beobachtete, wie eine Meerschwalbe in die Brandung eintauchte und mit einem glänzenden, zappelnden Fisch im Schnabel wieder auftauchte. Ich blickte weiter hinaus und sah den Rand der Welt, die Linie zwischen Meer und Himmel.

Es ist ein wesentlicher Bestandteil des Geschäfts, Will Henry. Irgendwann verlässt einen das Glück.

Eine Möwe schoss von ihrem Wachposten am Ufer auf; ihr Schatten war lang und flüchtig auf dem von der Sonne polierten Strand. Ich erinnerte mich an die Schatten der Aasvögel auf den nackten Felsen am Zentrum der Welt. Wenn man im Zentrum von allem angekommen ist, ist nichts mehr übrig, nur noch die Knochengrube im innersten Ring.

»Was ist los?«, fragte Rurick. »Warum weinst du?«

»Ich warte gar nicht auf ihn«, gab ich zu. »Er wartet auf mich«, log ich.

* * *

Dies ist die Zeit der Toten. Die Zeit des Dakhma-nashini.

* * *

In der vierzehnten Stunde am zweiten Tag der Woche stirbt ein Junge in den Armen seiner Mutter an Cholera. Ihre Tränen sind bitter; es ist ihr einziger Sohn.

Sein Geist schwebt in der Nähe, aufgewühlt durch ihre Tränen. Er ruft nach ihr, doch sie gibt keine Antwort.

Sie hält ihn fest, bis sein Körper kalt wird, und dann legt sie ihn nieder. Sie legt ihn nieder, denn die Zeit ist gekommen; der böse Geist naht heran, um seinen Körper zu holen, und danach wird sie ihn nicht mehr berühren.

Das nächste Geh wird begonnen. Er ist jetzt nasu, unrein. Es ist Zeit für die Nassesalar. Es ist die sechzehnte Stunde des zweiten Tages.

* * *

»Ich nicht verstehen«, sagte Rurick. »Warum er dich treffen dort oben?«

»Das ist der Ort, wo er sich mit Dr. Torrance trifft.«

»Wer sein Dr. Torrance?«

»Dr. Warthrops Freund. Er hilft uns.«

»Helfen euch machen was?«

»Einen Weg zur Insel zu finden.«

»Welche Insel?«

»Die Insel vom Magnificum

Er rang nach Atem. Der Weg war steil; er war nicht an die Hitze gewöhnt.

»Wofür sein diese Gruben?«, fragte er sich laut.

»Um die Stadt vor Überschwemmungen zu bewahren.«

Die trockenen Zisternen waren von tiefen Schatten überflutet; sie schienen keinen Grund zu haben. Wenn man in eine hineinfiel, fiel man vielleicht für immer.

* * *

Die Leichenträger nehmen den Jungen und baden ihn in Taro, dem Urin des weißen Bullen. Sie kleiden ihn in ein Sudreh-Kusti, das Gewand der Toten. Nur sein Gesicht bleibt frei. Er ist nasu, unrein. Der Geist des Jungen sieht ihnen zu und versteht es nicht. Er erinnert sich nicht daran, dass dies sein Körper war. Der Geist ist wieder ein Kleinkind; er hat keine Erinnerung. Es ist jetzt die sechste Stunde des dritten Tages.

* * *

»Wie weit noch?«, fragte Plešec.

»Es ist direkt hinter dem nächsten Anstieg«, antwortete ich.

»Du solltest uns besser nicht anlügen!«

»Dies ist der Ort«, sagte ich.

»Wenn du uns anlügst, werde ich dich ausweiden! Ich werde dir die Eingeweide rausschneiden und sie den Berg runterwerfen!«

»Dies ist der Ort«, sagte ich noch einmal.

* * *

Es ist die Stunde des Geh-Sarna. Die Dasturen beten die Verse des Avestan Mathras über dem Leichnam, um die Seele zu stärken und ihr auf ihrer Reise zu helfen. Nach den Gebeten wird der Leichnam nach oben und in den Dakhma getragen, wo er auf den Fels gelegt wird. Es ist jetzt die zwölfte Stunde des dritten Tages.

* * *

»Irgendetwas stimmen nicht«, sagte Rurick. »Dieser Ort, er ist verlassen.«

»Er hat mir aufgetragen, hierherzukommen.«

»Du dich erinnern an Regel eins?«

»Er hat gesagt, er würde hier sein.«

»Hier«, wiederholte Plešec. »Aber wo ist ›hier‹ ? Was ist das hier für ein Ort?«

»Man nennt ihn Dakhma«, antwortete ich.

Rurick presste sich die Hand auf den Mund. »Was das sein für ein Gestank?«

Ich beschloss, dass Rurick der Erste sein musste. Rurick hatte schließlich den Revolver. Ich schob die Hand langsam in die Jackentasche.

Geben Sie ihn Will Henry; ich habe keinen Platz dafür.

Wenn Sie eine kleinere Waffe trügen, könnten Sie sie in Ihr Strumpfband stecken.

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte Plešec. Er drehte sich zu Rurick um. »Irgendetwas stimmt nicht.«

* * *

Da ist der Junge im inneren Ring, über der Grube, in der die trockenen Knochen liegen und der Staub der trockenen Knochen. Er ist jetzt für die Sonne und die Fliegen und die Vögel, die zuerst seine blinden Augen nehmen. Es ist die erste Stunde des vierten Tages, über der Grube, am Gipfel des Abgrunds.

* * *

Ruricks Augen weiteten sich. Sein Mund klappte auf. Das Letzte, was er sah, bevor die Kugel sich in sein Hirn bohrte, ergab keinen Sinn. Weil er ein sehr selbstbewusster Mann gewesen war, starb er sehr verwirrt.

Plešec machte einen Satz nach vorn; die Messerklinge blitzte in den letzten, sterbenden Gluten des Tageslichts auf. Sein Stoß durchbohrte die Vorderseite meines Hemds; die Messerspitze traf Fadils Geschenk, das um meinen Hals hing, den Skarabäus, der mir Glück bringen sollte, und ich feuerte ihm aus kürzester Entfernung in den Bauch.

Er fiel mit dem Gesicht voran vor meine Füße. Ich taumelte zurück, bis ich gegen die weiße Mauer des Turms stieß, und dann gaben meine Knie nach, und ich sank auf den steinigen Boden mit Plešec, der zwar nicht tot war, aber schlimm blutete und auf mich zukroch, und sein Blut glänzte nass auf dem nackten Fels und zog eine Spur hinter seinen zuckenden Beinen.

Ich hob den Revolver des Doktors auf die Höhe seiner Augen. Ich hielt die Waffe mit beiden Händen, aber ich konnte sie trotzdem nicht ruhig halten.

Er machte halt. Er wälzte sich auf die Seite. Er umkrampfte mit einer Hand seinen blutenden Bauch und griff mit der anderen nach mir. Ich rührte mich nicht. Er war nasu, unrein.

Ich blickte an ihm vorbei auf den Ozean, der in der bogenförmigen Maueröffnung eingerahmt war, auf die Linie, die gebildet wurde, wo das Wasser dem Himmel begegnete. Die Welt war nicht rund, wurde mir klar. Die Welt war eine Scheibe.

»Bitte!«, flüsterte er. »Tu es nicht!«

Anders als Rurick starb Plešec nicht verwirrt.

* * *

Der Geist des Jungen kommt zum Chinvato-Peretu, der Brücke der Seufzer, die die beiden Welten verbindet. Dort begegnet er sich selbst in der Gestalt einer schönen Jungfrau, seines Kainini-Keherpa, der ihn zu Mithra führt, auf dass er gerichtet werde für das, was er getan hat und was er ungetan gelassen hat.

* * *

Ich ließ sie zurück für die Fliegen und die Vögel und die Sonne und den Wind. Im Schweigen vor dem Tour du Silence ließ ich sie zurück. Wo die gesichtslosen Toten das Antlitz dem Himmel zuwenden, ließ ich sie zurück am Zentrum der Welt.