Vierundzwanzig

»Das blindeste Vertrauen«

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Auf dem Bahnsteig des Paddingtoner Bahnhofs verabschiedete sich Conan Doyle von uns und bewegte sich anschließend keinen Zoll aus Warthrops Nähe fort; es schien ihm zu widerstreben, sich von ihm zu trennen. Ich hatte das im Lauf der Jahre unzählige Male erlebt. (Im Geiste nannte ich es den Warthrop-Effekt oder, seltener, die warthropsche Gravitation.) Wie jedes Objekt enormer Masse war auch das Ego des Doktors mit einer Anziehungskraft ausgestattet, der schwächere Seelen beinahe unmöglich widerstehen konnten.

»Ich sollte wirklich gehen«, sagte Conan Doyle, nachdem er meinen erschöpften und unruhigen Herrn mehrere Minuten lang aufgehalten hatte, indem er ihn mit Fragen torpedierte (»Woher wussten Sie, dass ich Golf spiele?«), während er ein oder zwei Schritte hinter ihm trottete, als wir uns durch die Menge stießen und drängelten. »Touie wartet auf mich.«

»Was ist ein Touie?«, fragte Warthrop.

»Touie ist meine Frau, Luisa. Sie ist zu Hause mit unserer jüngsten Tochter, Mary Louise, die in diesem Januar zur Welt gekommen ist. Möchten Sie ihr Foto sehen? Sie ist ein schönes Kind, wenn ich das sagen darf.«

Warthrop blieb abrupt am Fuß der Treppe, die in unser Hotel führte, stehen. »Augenblicklich, Doyle, ist alles, was ich wünsche, eine anständige Tasse Tee und ein ausgedehntes Nickerchen. Vielleicht ein ander …«

Er erspähte etwas über die Schulter des kleineren Mannes. Er ließ ein schnelles, oberflächliches Lächeln aufblitzen, hakte sich bei Doyle unvermittelt ein und nötigte ihn die Stufen hinauf. »Wenn ich es mir recht überlege, vielleicht wurde unsere Begegnung ja vom Schicksal arrangiert. Wussten Sie, dass ich in meiner Jugend auch Schriftsteller war? Poesie, nicht Prosa, aber Ihr Fall inspiriert mich, Doyle. Ein Mann kann tatsächlich auf zwei Hochzeiten tanzen. Vielleicht sollte ich den Stift wieder zur Hand nehmen und mich an ein paar Versen versuchen …«

Verwirrt durch die plötzliche Kehrtwende des Monstrumologen blickte ich den Bahnsteig entlang. Neben einer Säule auf halbem Wege standen zwei Männer, der eine groß und breitschultrig mit einem flammend roten Haarschopf. Der andere war kahlköpfig und viel kleiner, so dünn und drahtig, wie sein Begleiter kräftig war. Selbst aus vierzig Yards Entfernung und durch den diesigen grauen Rauch des Bahnhofs schienen die Augen des Rothaarigen mit einem inneren Feuer zu brennen. Ich kannte nur einen einzigen anderen Menschen, dessen Augen so brannten. Es waren die Augen eines Menschen, der von der Einzigartigkeit seines Lebenszwecks verzehrt wurde. Für Pellinore Warthrop war dieser Lebenszweck die Jagd nach Monstern. Für den Mann, dessen Blick mich auf den Stufen bannte wie ein Hammer, der einen Nagel ins Holz treibt, war es die Jagd nach etwas völlig anderem.

»Was ist los, mein Freund Will?«, murmelte von Helrung. Er legte mir den Arm um die Schulter und schob mich mehr oder weniger die Treppe hoch. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Kein Gespenst«, antwortete Walker, dessen hohe Stimme vor Bedrängnis trällerte. Auch er hatte den Rothaarigen gesehen, der zu uns zurückschaute. »Diesen großen Burschen mit den leuchtend roten Haaren und seinen glatzköpfigen Kollegen da an der Säule. Um Himmels willen, jetzt nicht hingucken, von Helrung! Dieselben zwei habe ich gestern gesehen. Ich glaube, sie verfolgen uns.«

* * *

»Um ehrlich zu sein, ist es mit der Praxis nicht allzu gut gelaufen«, sagte Conan Doyle gerade keuchend zum Monstrumologen, als wir die beiden auf dem Flur des zweiten Stockes einholten. Er rang nach Luft, weil er sich gleichzeitig bemühte, seine Schritte den langen meines Herrn anzupassen. »Aber ich beklage mich nicht. Das gibt mir jede Menge Zeit zum Schreiben. Und ich muss jede Menge schreiben, hab ja einen neuen Mund zu stopfen.«

Direkt vor der Tür zu unserem Zimmer blieb Warthrop plötzlich stehen. Conan Doyle hatte nicht damit gerechnet; er spazierte dem Doktor geradewegs in den Rücken.

»Oh! Entschuldigung …«

Die Hand des Doktors ging nach oben und blieb dort, während seine Fingerspitzen leicht auf die Luft eintrommelten. Ich hatte diese Gebärde schon früher gesehen und reagierte automatisch, indem ich schnell an seine Seite trat.

»Von Helrung«, flüsterte Warthrop. »Sind Sie bewaffnet?«

»Nein.«

»Walker?«

»Nein. Wieso fragen Sie?«

»Doyle, tragen Sie eine Feuerwaffe bei sich?«

»Tu ich nicht, Dr. Warthrop.«

Der Monstrumologe zog seinen Revolver aus der Manteltasche. »Bleib hier bei den andern, Will Henry!«, sagte er zu mir, bevor er die Tür öffnete und hineinging.

Er war nicht lange weg, nicht mehr als zwei oder drei Minuten, schätzte ich, als er rief, wir sollten hereinkommen.

»Mach die Tür zu, Will Henry, und schieb den Riegel vor!«, wies er mich von der anderen Seite des Zimmers aus an. Er hatte mir den Rücken zugekehrt. Er kauerte neben etwas auf dem Boden, den Revolver locker an der Seite, die Schultern leicht gebeugt. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie müde er aussah – und vorzeitig gealtert.

Und vor ihm lag der reglose Körper von Jacob Torrance.

»Mein Gott!«, flüsterte von Helrung. »Pellinore, ist er …«

»Tot«, verkündete der Doktor.

Von Helrung stieß eine leise Verwünschung aus. Walker presste die Hand auf den Mund.

»Machen wir ein wenig Licht«, sagte Warthrop. »Will Henry, würdest du bitte die Vorhänge öffnen? Doyle, Sie sind doch Arzt. Vielleicht wollen Sie sich das einmal ansehen.«

Conan Doyle gesellte sich zum Doktor neben den Leichnam, indessen ich darum herum zu den Fenstern ging und Jacob Torrances Blut um die Sohlen meiner Schuhe herum hervorquoll und blubberte. Ich würde nicht hinsehen. Ich wollte nicht hinsehen. Ich hatte nicht die Absicht, hinzusehen. Aber natürlich sah ich hin. Ich zog die Vorhänge zurück, drehte mich um und sah mir mit der Wärme der goldenen Nachmittagssonne im Rücken an, was Jacob Torrance widerfahren war.

»Extrem tief«, sagte Conan Doyle gerade. »Hat die Wirbelsäule eingeschnitten. Dieser arme Mann ist fast dekapitiert worden.«

Er war von Ohr zu Ohr aufgeschnitten worden, und das Messer – falls es ein Messer gewesen war; vielleicht hatte der Mörder auch eine kleine Axt oder ein Handbeil benutzt – hatte die Halsschlagadern und Drosselvenen durchtrennt – und so den Quell erschaffen, der den Teppich durchtränkt hatte … und seine Kleider … und das linnene Tischtuch einen Fuß weiter weg … und die Rückenlehne des Diwans. Die Damastvorhänge waren vom Sprühnebel seines erlöschenden Herzens gesprenkelt. Das Zimmer stank danach, dem heißen, kupfrigen Geruch frischen Blutes.

»Der Körper ist noch warm«, gab Conan Doyle mit nicht geringer Besorgnis bekannt. »Er ist noch nicht lange tot; nicht länger als eine Stunde, würde ich sagen.«

»Beträchtlich weniger«, erwiderte der Monstrumologe. Grimassierend stand er auf. Ich hörte seine Knie knacken, als er sich erhob. Von Helrung hielt sich immer noch in der Nähe der Tür auf; Walker lehnte an der Wand neben ihm, ein Taschentuch vor den Mund gepresst, das Gesicht die Farbe von Pergamentpapier. Das Geräusch seines Würgens war sehr laut in dem kleinen Zimmer.

»Wir müssen die Polizei holen«, sagte er hinter seiner provisorischen Atemmaske hervor. Niemand beachtete ihn.

Warthrop durchmaß den Raum, indem er sich in einem weiter werdenden Kreis um Torrances Leiche herumbewegte, während seine Augen über den mit Blut angereicherten Boden, die blutbespritzten Wände, die Möbel, die Fenster und die Fensterbänke schweiften. An einer Stelle, etwa fünf Fuß von der Leiche entfernt, ließ er sich auf Hände und Knie sinken, kroch über den Boden und schnupperte und schnüffelte wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hat.

»Sie waren zu zweit«, sagte er bei Beendigung seiner Besichtigung. »Einer sehr groß – deutlich über sechs Fuß, Rechtshänder, Zigarrenraucher und rothaarig. Sein Begleiter ist viel kleiner – fünf Fuß sechs oder sieben, in dem Bereich, und bewegt sich mit einem ausgeprägten Hinken – ein Bein, das rechte, ist kürzer als das andere …«

Conan Doyles Gesicht war eine Studie in Scharlachrot. Er errötete wie ein junges Schwein in den ersten berauschenden Qualen unerwiderter Leidenschaft.

»Verblüffend. Vollkommen verblüffend«, sagte er heiser.

»Es ist elementar, Doyle«, entgegnete der Doktor. »Ein Mörder ist wie jeder Künstler. Er kann nicht anders, als etwas von sich in seinem Werk zurückzulassen. Man braucht nur zu wissen, wie man das Werk von demjenigen trennt, der es hervorgebracht hat.«

»Was ich sagen will, ist, dass ich das ganz außergewöhnliche Gefühl habe …«

»Ich auch!«, rief Walker von der anderen Seite des Zimmers. »Mir wird gleich schlecht!«

Conan Doyle fuhr fort, und sein Blick verschleierte sich. »Ein Mann ist brutal ermordet worden; es ist entsetzlich! Und dennoch finde ich mich von einem gleichermaßen entsetzlichen Gefühl der Verwunderung überwältigt … Je nun, es ist, als hätte ich irgendeine mystische Schwelle überschritten und wäre in einer meiner eigenen Geschichten gelandet. Und hier, vor mir, der Mann selbst, derselbe, den ich erschaffen habe, lebendig geworden. Sehet den Mann!«

»Ja, es gleicht einer Ihrer Geschichten, mit der Ausnahme, dass es nicht eine Ihrer Geschichten ist und eine sehr reale Möglichkeit besteht, dass Sie in Todesgefahr schweben«, antwortete der Monstrumologe.

»Glauben Sie wirklich?« Die Aussicht schien Conan Doyle regelrecht euphorisch zu stimmen.

»Und nicht nur Sie.« Warthrop wandte sich an von Helrung. »Wir müssen dieses Hotel sofort verlassen!«

Von Helrung nickte. »Was ist mit Jacob?«

Der Doktor lächelte grimmig. »Der wird hierbleiben.«

* * *

Wir schnappten uns unser Gepäck und hasteten nach unten. (Der Monstrumologe war erfreut, dass ich daran gedacht hatte, seine Instrumententasche mitzubringen. »Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen! Gott segne dich, Will Henry, und verdamme diesen Verräter Arkwright!«) Eine Reihe von Hansoms stand, auf Kundschaft wartend, draußen längs der Bordsteinkante. Bevor wir jedoch einen für unsere Flucht in Anspruch nahmen, wurde ich entsendet, um das Gelände auszukundschaften, während die Männer in der Eingangshalle warteten. Der Doktor brauchte mir nicht zu sagen, wonach ich Ausschau halten sollte. Ich hatte es bereits im Bahnhof Paddington gesehen – einen roten Haarschopf und das beunruhigende Glühen dunkler, hinterleuchteter Augen.

»Nun?«, erkundigte sich Warthrop bei meiner atemlosen Rückkehr.

»Alles klar, Sir.«

Er nickte forsch. »Zwei Kutschen – von Helrung, ich selbst und Will Henry in einer. Doyle, Sir Hiram wird mit Ihnen fahren …«

»Würden Sie bitte aufhören, mich so zu nennen?«, fragte Walker. Er lehnte an einer Säule und versuchte immer noch, sich zu sammeln. »Es ist grausam und kindisch.« Der Spitzname des britischen Monstrumologen, der ihm von Warthrop gegeben worden war, war einige Jahre zuvor entstanden, auf einer Party, auf der Walker von einer gewissen jungen Frau mit Verbindungen zur königlichen Familie hingerissen war. In dem Versuch, sie zu beeindrucken, hatte Walker sich untunlich als Peer des Königreichs ausgegeben, und seine Wissenschaftlerkollegen hatten nicht vor, ihn das vergessen zu lassen.

Warthrop ignorierte ihn. Er sagte zu Conan Doyle: »Ich schlage vor, Sie wählen eine weitschweifige Route und halten Ausschau nach unserem rothaarigen Freund und seinem haarlosen Landsmann. Falls sie uns entdecken, denke ich, dass wir diejenigen sein werden, denen sie folgen – aber andererseits könnten sie sich auch aufteilen. Beten wir, dass Sie den Kahlköpfigen erwischen!«

Er nahm Conan Doyles Hand in seine beiden und schüttelte sie schnell und fest. »Es war mir eine Freude, Sie wiederzusehen, Sir. Möge unsere nächste Begegnung unter angenehmeren Umständen stattfinden!«

»Die Freude war ganz auf meiner Seite, Dr. Warthrop«, erwiderte Conan Doyle ernst. »Touie wird die Geschichte nicht glauben, die ich ihr zu erzählen habe!«

»Ich würde nicht zu viel ausplaudern«, warnte der Doktor ihn und zwinkerte mit seinen dunklen Augen. »Sie wird sonst glauben, Sie hätten getrunken.«

»Das Gefühl ist gar nicht so anders«, gab der Schriftsteller zu. »Ich weiß nicht, ob Sie ein spiritueller Mensch sind, aber …«

»Nicht oft«, sagte der Monstrumologe, während er Conan Doyle zu den Türen der Eingangshalle drängte. »Kaum jemals. Nein – nur einmal. Ich war drei oder vier, und meine Mutter ertappte mich tief im Gespräch mit Gott.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe keine Erinnerung daran. Gott vielleicht schon.«

* * *

Fünf Minuten später waren wir im Innern eines Hansoms auf dem Weg zum Hyde Park. »Wieso der Hyde Park?«, wollte von Helrung wissen.

Der Doktor zuckte mit der Schulter. »Wieso nicht?«

»Ich hoffe aufrichtig, dass sie Doyle nicht gefolgt sind«, sagte Warthrop gleich darauf. »Ich bin mir nicht sicher, warum Sie ihn als Mitglied für Ihre Rettungsmannschaft rekrutiert haben, aber ich würde es nur ungern sehen, wenn er den höchsten Preis für seinen Altruismus zahlen müsste. Und natürlich wäre es ein schwerer Verlust für die Literatur. Ich mache mir normalerweise nicht viel aus Romandichtung, aber da ist etwas Bezauberndes an seinen Geschichten. Eine Art großartiger Naivität – wie das britische Empire selbst –, das blindeste Vertrauen, dass der Verstand über die Ignoranz triumphieren wird und der menschliche Intellekt über das Böse.«

Von Helrung blickte meinen Herrn ungläubig an. Womöglich ging ihm durch den Kopf, dass er Pellinore Warthrop nicht halb so gut kannte, wie er gedacht hatte.

»Wir haben gerade unseren hoch geschätzten Kollegen abgeschlachtet in einem Hotelzimmer aufgefunden, und Sie möchten über Literatur sprechen?«

Warthrop nickte. Entweder entging ihm völlig, was von Helrung meinte, oder aber es war ihm egal. Ich glaube nicht, dass Ersteres zutraf. »Es ist ein Jammer; trotz all seiner Fehler mochte ich Torrance eigentlich ganz gern. Er wäre auch meine Wahl gewesen, wenn ich gezwungen gewesen wäre, eine zu treffen, geben Sie sich also keine Schuld daran, Meister Abram. Wenn Sie Schuld zuweisen wollen, so suchen Sie nicht weiter als bis zu der leeren Whiskeyflasche auf dem Tisch im Wohnzimmer. Er hatte ordentlich einen im Tee, als seine Mörder zu Besuch kamen. Es gibt keine andere Erklärung dafür, wie sie ihn so leicht überwältigen konnten.« Er sah mich an. »Es gibt nur drei wirkliche Todesursachen, Will Henry. Die erste sind Unfälle – Krankheiten, Hungersnöte, Kriege oder was deinen Eltern zustieß. Die zweite ist hohes Alter. Und die dritte sind wir selbst – unsere langsamen Selbstmorde. Zeige mir einen Menschen, der seine Gelüste nicht zügeln kann, und ich zeige dir einen Menschen, der mit einem Todesurteil lebt.«

Von Helrung schüttelte energisch den Kopf. »Sie sind verantwortlich, Pellinore – nicht für Torrance, Gott schenke seiner Seele Frieden, sondern für Conan Doyle. Sollte er sterben für das, was er an diesem Tag gesehen hat, dann deshalb, weil er die Strafe für Ihre Impulsivität bezahlt. Wieso haben Sie ihn in unsere Räume eingeladen? Er wollte sich am Bahnhof von uns verabschieden, und Sie …«

»Ja, das wollte er«, brauste Warthrop auf. »Und ich habe ihm vielleicht das Leben gerettet – vorläufig vielleicht, aber wenigstens habe ich ihm ein oder zwei Stunden gekauft, die er mit Touie und seinem neugeborenen Baby verbringen kann. Sie haben ja keine Ahnung von den Männern, die Sie auf dem Bahnsteig gesehen haben, von Helrung. Sie sind skrupellos. Sie töten ohne Bedenken oder Gewissensbisse. Ich musste schnell handeln, und ich glaube, ich habe das Beste aus einer sehr gefährlichen Situation gemacht.«

»Und was sollte dieses lächerliche und bizarre Affentheater im Hotelzimmer? Was ist Ihre Entschuldigung dafür? Sie wussten, dass es diese Männer waren, die wir im Bahnhof gesehen hatten, und trotzdem taten Sie so, als würden Sie alles kombinieren, bis hin zur Haarfarbe des Mörders! Aus welchem Grund, Pellinore? Indem Sie sich über Doyle lustig gemacht haben, haben Sie sich über den Toten lustig gemacht!«

Die Miene des Doktors verfinsterte sich. Er beugte sich vor und stupste von Helrung in die Brust.

»Kommen Sie mir nicht mit lustig machen, von Helrung! Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, wie es ist, bei klarem Verstand zu sein und genau durch diesen Verstand gefesselt? Denken Sie darüber mal nach, bevor Sie mich für eine harmlose Grille verurteilen!«

* * *

Nach diesem hitzigen Austausch verstummten sie, bis wir unser Ziel erreichten, woraufhin der Doktor scharf ans Dach des Hansoms klopfte und den Kutscher anwies, uns jetzt zum Piccadilly Circus zu bringen. Die Peitsche knallte, und weiter ging’s.

»Wo fahren wir hin?«, wollte von Helrung wissen.

»Zum Piccadilly Circus.«

Von Helrung schloss die Augen und seufzte überdrüssig. »Sie wissen, was ich meine.«

Der Doktor warf einen Blick über die Schulter und lehnte sich dann wieder in seinen Sitz zurück.

»Sie sind skrupellos, haben Sie gesagt. Mörder ohne Bedenken oder Gewissensbisse, haben Sie gesagt. Aber Sie schaffen es nicht, uns zu sagen, wer sie sind oder warum sie uns verfolgen.«

»Ich dächte, das Warum sei offensichtlich. Was das Wer betrifft … Der große Rothaarige nennt sich Rurick. Sein glatzköpfiger Partner hört auf den Namen Plešec. Sie sind Ochranka, Meister Abram, Angehörige der russischen Geheimpolizei.«

Von Helrung nahm die Neuigkeit mit niedergeschlagener Miene auf. Er hatte nicht gewollt, dass Torrance recht hatte. Ein Teil von ihm, denke ich, klammerte sich an die Hoffnung, dass John Kearns nur einen Mitverschwörer in der Angelegenheit hatte, den Verräter Thomas Arkwright, und der ganze Rest Jacob Torrances fruchtbarer Fantasie entsprungen war. Die Wahrheit machte ihn im Herzen krank. Er war Wissenschaftler, und das Wesen der Wissenschaft ist das Streben nach der Wahrheit, eine noble Sache an und für sich, doch kein menschliches Bemühen – ganz gleich wie nobel – bleibt lange unbefleckt. Die Monstrumologie könnte als Betrachtung der fehlerbehafteten Natur charakterisiert werden. Dasselbe könnte man von uns sagen.

»Wir wurden übertölpelt«, stellte mein Herr unverblümt fest. »Ich nehme an, wir könnten einen schwachen Trost aus der Tatsache ziehen, dass wir nicht die Einzigen waren, die man zum Narren gehalten hat. Arkwright hat uns an der Nase herumgeführt, aber die Russen haben dasselbe mit ihm gemacht, und John Kearns, denke ich, hat seinen Spaß mit uns allen gehabt.«

»Jacob hatte die Theorie, dass Kearns und die Briten – und auch die Russen – uns benutzten, um für sie die Heimat des Magnificums ausfindig zu machen. Sie hatten das goldene Ei – den Nidus –, aber nicht die Gans, die es legt. So hat Torrance es formuliert.«

Warthrop lächelte verkniffen. »Ich werde Jake vermissen. Er hatte ein Händchen für farbenfrohe Metaphern. Zum Teil lag er richtig, aber größtenteils falsch. Benutzt wurden wir tatsächlich, allerdings nicht von Kearns oder den Russen; die hatten, was sie wollten. Thomas Arkwright von den Long-Island-Arkwrights war eine durch und durch britische Schöpfung. Arkwright ist Offizier beim britischen Geheimdienst.«

Von Helrung seufzte. »Also haben die Briten die Finger im Spiel … und die Russen. Wer sonst noch?«

»Niemand – na ja, uns nicht mitgezählt, obwohl ich uns noch nicht auszählen würde«, sagte Warthrop grimmig. »Ich wollte es zuerst nicht glauben. Als ich nach Hanwell gebracht wurde, kam es meinem naiven Vertrauen gelegen zu glauben, dass Arkwright mit den Russen zusammengearbeitet haben musste – ein Doppelagent, ein Verräter an seinem Land –, und an dieses Stück Fiktion klammerte ich mich eine ganze Zeit lang tapfer. Im ersten Monat meines irren Urlaubs schrieb ich mehr als vierzig Briefe, von denen anscheinend keiner seinen geplanten Empfänger erreichte. Jemand muss sie abgefangen haben, und es fällt mir schwer nachzuvollziehen, dass der Arm der Ochranka bis zur Post von England oder den Vereinigten Staaten reicht. Sechs dieser verzweifelten Sendschreiben übergab ich persönlich dem Leiter der Anstalt. Nun, ich nehme an, er könnte im Dienste des Zaren stehen oder ein Mitglied der Ochranka sein, aber es kommt ein Punkt, da müssen wir die Kindereien beiseitetun, Meister Abram, und anerkennen, dass es, in Angelegenheiten, wo etwas wie das Magnificum betroffen ist, Grenzen für die Perfidie von Menschen und Nationen gibt – selbst Menschen wie dem Anstaltsleiter und Nationen wie Großbritannien.«

»Ach, lieber Pellinore, ich habe sehr lange gelebt und doch noch keine einzige erkannt!«

Wir kamen zum Stillstand, und der Kutscher rief mit lauter Stimme aus: »Da wär’n ma, Meister! Piccadilly Circus!«

»Das Great Western am Paddington-Bahnhof, Kutscher! Und hurtig bitte!«, rief Warthrop. Er lächelte über die gedämpften Flüche des Kutschers, als wir uns wieder in Bewegung setzten zu dem Ort, wo wir angefangen hatten.

»Wir bewegen uns im Kreis«, bemerkte von Helrung.

»Das taten wir«, erwiderte der Doktor. »Aber für heute Abend reicht es! Denn an diesem Abend, mein alter Meister, finden die Monate in der Wildnis ein Ende. Unser langes Exil ist vorbei. Ich habe die Antwort; ich weiß, woher der Wind weht; ich habe das Versteck des Grals gefunden.«