Neunzehn

»Daraus kann wenig Gutes erwachsen«

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Abram von Helrung verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte aus dem Fenster auf die Straße darunter. Unter ihm erwachte die große Stadt zum Leben. Ein großes graues Arbeitspferd trappelte über die Granitchaussee und zog einen mit Kurzwaren beladenen Karren. Ein Mann auf einem klapprigen Drahtesel schwirrte über den Bürgersteig. Zwei hübsche Mädchen mit roten Bändern im Haar hüpften Arm in Arm über die Straße und hoben die nackten Knie dabei hoch in die Luft, und ihr helles Lachen klang wie die Pfeife des kleinen lahmen Luftballonmanns, weit weg und winzig.

»›Geh, denn sie rufen, Schäfer, dich vom Hügel aus‹«, zitierte er leise. »›Komm, Schäfer, und fang aufs Neu die Suche an!‹«

Er drehte sich vom Fenster weg und sagte: »Ich war zehn, und mein Vater nahm meine kleine Schwester und mich von unserem kleinen Dorf Lech nach Stubenbach mit, wo eine Zigeunerschar mit ihrer Wandervorstellung angekommen war. Es waren nur wir drei; Mutter weigerte sich zu gehen und schärfte Papa ein, mit Adleraugen auf uns aufzupassen, denn es war ein weitverbreiteter Glaube, dass Zigeuner Kinder stehlen. ›Teufelsanbeter‹, so nannte sie sie. Aber mein Papa hatte, auch wenn er nur ein armer Bauer war, das Herz eines Abenteurers, und so zogen wir los. Da waren Tänzerinnen und Akrobaten und Wahrsagerinnen – und erst das Essen! Mein Gott, solch ein Essen hatte man noch nie gekostet! Am Nachmittag traten zwei Männer an uns heran, der eine sehr alt und der andere viel jünger – sein Sohn vielleicht –, die uns anboten, gegen einen kleinen Obolus einen Blick in ihr Zelt werfen zu dürfen. ›Wieso?‹, fragte Papa. ›Was ist in euerm Zelt?‹ Und der ältere antwortete: ›Kommt und seht.‹ Also entrichtete Papa den Obolus, und ich ging hinein. Nicht Papa oder meine Schwester. Der jüngere Zigeuner sagte zu ihm: ›Nimm sie nicht mit. Sie sollte draußen bleiben.‹ Und Papa wollte sie nicht allein lassen und riskieren, dass sie gestohlen wurde – oder den Zorn meiner Mutter riskieren, weil er es zugelassen hatte. Ich ging allein hinein. Da stand eine große Holzkiste – sie erinnerte mich stark an einen Sarg –, und im Innern der Kiste befand sich eine Abscheulichkeit. Es lähmte mich vor Furcht – ließ mich zur Salzsäule erstarren. Ich wollte wegsehen, aber ich konnte nicht wegsehen. ›Was ist das?‹, fragte ich den Alten. ›Es ist ein Monster‹, sagte er. ›Getötet von den Angehörigen meines Volkes in Ägypten. Man nennt es Greif. Das hier ist nur ein Baby. Sie werden sehr groß, so groß, dass sie die Sonne verdunkeln. Ist er nicht fabelhaft?‹

Er hatte den Körper eines Löwen, den Kopf eines Adlers und einen Python als Schwanz. Eine Fälschung, und keine besonders gute Fälschung. Sie hatten die Teile mit dickem schwarzem Garn zusammengenäht, doch zu diesem Schluss kam ich erst viele Jahre später. Ich war ein Kind. Ich sah die Bestie mit Kinderaugen, Augen, die nicht wegschauen konnten. Was ist das für ein Wesen, und wie konnte es sein? Wie konnte so ein Wesen existieren? Ich erinnere mich an das Gefühl der Enge in meiner Brust, als ob eine große Hand mir das Leben aus dem Herzen quetschen würde. Ich wollte weglaufen; ich wollte bleiben. Ich wollte mich abwenden; ich wollte es genauer betrachten … Es hielt mich fest, und auf irgendeine eigenartige Weise, die zu verstehen ich nicht vorgeben will, hielt ich es fest. Ich halte es noch immer fest. Und es hält mich noch immer fest.«

Er drehte sich wieder zum Fenster um. Die Sonne ging über den Gebäuden an der Ostseite der Straße auf und überflutete die Chaussee mit goldenem Licht.

»Jener Tag war der Beginn.«

»Ich war fünfzehn, und mein erstes Monster hatte denselben Namen wie ich«, sagte Jacob Torrance. »Nach einer Nacht mit seiner Geliebten und einer Flasche Fusel kam er nach Hause und fing an, mit dem funktionalen Ende eines Tischlerklüpfels auf meine Mutter einzuprügeln. Also nahm ich das Erste, was mir gerade in die Hand kam – war zufällig seine Springfield-Flinte – und pustete ihm ein Loch von der Größe einer Steckrübe durch den Hinterkopf. Von diesem Tag an hab ich Monster getötet.«

Von Helrung legte verärgert die Stirn in Falten. »Thomas Arkwright war kein Monster, bis Sie eins aus ihm gemacht haben!«

»Thomas Arkwright war ein Agent für den britischen Geheimdienst.«

»Woher wollen Sie das wissen? Hat Arkwright es Ihnen erzählt? Nein! Es ist eine Vermutung. Es ist geraten!«

»Außer Kearns gibt es mindestens noch zwei Gruppen von Spielern an diesem Pokertisch, Meister Abram. Drei, wenn wir uns mitzählen. Da ist die Gruppe, von der Arkwright befürchtete, sie würde ihn töten, wenn er seine Karten aufdeckt, und die Gruppe, die uns hängen würde, wenn wir ihm auch nur ein Härchen auf seiner schütter werdenden Kopfhaut krümmen. Ich weiß nicht, wer diese erste Gruppe sein könnte, aber ich wette, die zweite ist die Regierung Ihrer Majestät. Das ergibt durchaus Sinn für mich. Wenn ich Kearns wäre und wüsste, wo das Magnificum auf der Hühnerstange sitzt, könnte ich eine gesalzene Preisforderung stellen. Ein Nidus würde ein hübsches Sümmchen bringen, klar, aber kein Vergleich mit der Mutti, deren Spucketropfen das Hirn erwachsener Männer in Gelee verwandelt! Er könnte mit einer Riesensumme rechnen – einer königlichen Summe!«

»Warum sollten die Engländer einen Spion schicken, um unsere Reihen zu infiltrieren, wenn Kearns den Schlüssel zum Magnificum hat?«, wollte von Helrung wissen.

»Dazu komme ich gleich. Arkwright wusste offensichtlich, dass Warthrop den Nidus hatte. Das hat Will sich ganz allein zusammengereimt. Und die einzige Möglichkeit, woher er das gewusst haben kann, ist von Kearns. Es sei denn, diese erste Gruppe von Leuten, wer immer sie sind, hat es ihm erzählt – oder eine andere Gruppe, von der wir noch nichts wissen, aber das glaube ich nicht. Ich denke, Kearns hat es ihm erzählt. Na ja, nicht Kearns persönlich – die britische Regierung, die Typen, die ihn geschickt haben. Und sie haben ihn geschickt, weil sie Warthrop für etwas brauchten.«

»Ihn brauchten … wofür?« Von Helrung wirkte verwirrt.

»Bin nicht sicher. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass John Kearns den Nidus hatte, aber nicht wusste, wo er herkam. Deshalb haben sie unsere Reihen infiltriert. Wenn du weißt, wo er herkommt, brauchst du keinen erfahrenen Monsterjäger. Du gehst einfach geradewegs zum Monster hin. Aber wenn du nicht weißt, wo er herkommt, dann ist es wie in der Geschichte mit der berühmten Bohnenranke. Was macht also unser Knabe John, wenn er zwar das goldene Ei hat, aber nicht die Gans, die es gelegt hat? Er braucht wohl einen Gänsejäger. Und nicht einfach irgendeinen dahergelaufenen Gänsejäger. Das ist keine gewöhnliche Gans; es ist die Gans, die Gans aller Gänse. Nicht einfach irgendeinen Gänsejäger, sondern den besten Gänsejäger auf der Welt, in der gansen – äh, ganzen Geschichte der Welt. Du traust dich nicht, mit offenen Karten zu spielen. Du verrätst ihm nicht, wieso du sie gejagt haben willst; er hat es irgendwie in seinem gänsejagenden Kopf, dass für die Monstrumologie Moralvorstellungen gelten.«

Von Helrung dachte einen Moment lang nach und schnaubte dann angewidert.

»Und Arkwright wird hierhergeschickt, um Warthrop nachzuspüren, der dem Magnificum nachspürt? Das ist absurd, Torrance. Sobald Pellinore das Versteck des Magnificums hätte, gäbe es für die Briten keinen Grund mehr, Kearns auch nur einen Penny zu bezahlen.«

»Das ist der Punkt, wo ich glaube, dass die erste Gruppe von Spielern ins Spiel kommt. Kearns ist zu jemand anderem hingegangen, einer anderen Regierung – vielleicht den Franzosen, die sind den Briten nicht grün –, und spielt sie gegeneinander aus.«

»Wie?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht weiß Warthrop es. Das ist der nächste Schritt. Und ich schlage vor, wir verlieren keine Zeit und machen ihn. Sie werden Arkwright bald zurückerwarten, und Arkwright kommt nicht zurück … weder bald noch sonst wann.«

»Weil Sie ihn umgebracht haben!«, meldete ich mich zu Wort. Ich war immer noch wütend auf ihn. »Sie mussten nicht tun, was Sie getan haben!«

»Meinst du? Und überhaupt, ich habe ihn nur in der vagesten Definition des Wortes umgebracht.«

»Warum haben Sie ihn umgebracht, Jacob?«, fragte von Helrung ruhig. »Wovor hatten Sie Angst?«

Zuerst sagte Torrance nichts; er spielte mit seinem Siegelring. Nil timendum est.

»Nun, er drohte mir damit, mich hängen zu lassen, aber das war nicht wirklich der Grund. Es war wie bei Ihnen, als Sie dieses Zigeunerzelt betraten, Meister Abram. Als wir ihn erst einmal gefesselt hatten, alea iacta est, da waren die Würfel gefallen. Halten wir uns an Wills Plan, werden wir verhaftet – oder Schlimmeres –, weil wir einen britischen Beamten entführt und gefoltert haben, und Warthrop verfault, wo sie ihn hingesteckt haben, bis er älter ist als Sie.«

»Und was ist, wenn sie ihn nicht irgendwo hingesteckt haben?«, schrie ich ihn an. »Was ist, wenn Arkwright gelogen hat? Sie hätten ihn nicht töten müssen, und Sie hätten ihn nicht töten sollen! Jetzt finden wir den Doktor vielleicht nie!«

Mit versteinerter Miene starrte mich Torrance einen langen Moment an, dann zuckte er mit den Schultern. Zuckte mit den Schultern! Ich stürzte auf ihn zu. Ich wollte ihn mit bloßen Händen zu Tode prügeln. Ich wollte das Leben aus ihm würgen. Von Helrung rettete ihm das Leben. Er packte mich am Arm und zerrte mich zurück, zog meinen Kopf an seine Brust und streichelte mir übers Haar.

»Dann sind Sie also mit seinem Selbstmord im Reinen?«, fragte von Helrung Torrance. »Dem, den Sie bequemerweise inszeniert haben?«

»Jeder sollte eine Wahl haben, wenn es so weit ist – und ja, ich denke, ich werde heute Nacht gut schlafen.«

»Dieses eine Mal beneide ich Sie, John, denn ich werde es nicht.«

* * *

Ich wartete, bis Torrance sich ins Gästeschlafzimmer zurückgezogen hatte, um sich von den Mühen des Abends zu erholen, ehe ich mich mit meiner Bitte an von Helrung wandte. Ich nenne es eine Bitte; in Wirklichkeit war es eher so etwas wie eine Forderung.

»Ich komme mit Ihnen«, teilte ich ihm mit.

»Es ist zu gefährlich«, antwortete er nicht unfreundlich.

»Ich werde nicht noch einmal zulassen, dass man mich daran hindert, mitzukommen! Wenn Sie es versuchen, werde ich mich als blinder Passagier aufs Schiff schleichen! Und wenn das nicht geht, werde ich hinschwimmen! Ich bin derjenige, der es herausgefunden hat; ich habe mir das Recht verdient.«

Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich fürchte, es ist mehr Bürde als Recht, mein Freund Will Henry.«

* * *

An diesem Nachmittag verabschiedete ich mich von Adolphus Ainsworth, der selbst für seine Verhältnisse ausgesprochen übellaunig war.

»Es kümmert mich nicht, was irgendwer sagt!«, fauchte er mich an, wobei sein falsches Gebiss wütend auf und zu schnappte. »Jemand ist im Verschlossenen Raum gewesen! Ich hänge meinen Schlüsselbund immer mit dem äußeren Schlüssel nach innen hin auf, und was meinst du, wie ich ihn heute Morgen vorgefunden habe?«

»Nach außen hin?«

»Du hast ihn genommen!«

»Nein, Professor Ainsworth, das habe ich nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Es war Torrance gewesen, der sich Zugang zum Verschlossenen Raum verschafft hatte.

»Na ja, was erwarte ich auch? Du bist ein Kind, und Kinder sind geborene Lügner. Manche wachsen daraus heraus, manche nicht! Und was willst du damit sagen, du gehst weg?«

»Ich segele morgen früh mit Dr. von Helrung nach England.«

»Dr. von Helrung! Wieso geht Dr. von Helrung nach England? Und wieso gehst du nach England?« Er war ein sehr alter Mann, aber sein Verstand war nicht mit seiner Jugend verblüht. Er brauchte nur einen Moment, um die Puzzleteile zusammenzufügen. »Das Magnificum! Ihr habt es gefunden!«

»Nein, aber wir haben Dr. Warthrop gefunden.«

»Ihr habt Dr. Warthrop gefunden!«

»Ja, Professor Ainsworth. Wir haben Dr. Warthrop gefunden.«

»Er ist nicht tot?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Warum lächelst du so komisch?« Er fletschte die Zähne seines toten Sohnes, um mein Grinsen nachzuäffen. »Nun, es wird mich betrüben, das freudige Wiedersehen zu verpassen. Sein Gewinn ist mein Gewinn, möchte ich sagen.«

»Sir?«

»Ich sagte, sein Gewinn ist mein Gewinn!« Er lehnte sich über die Tischplatte, um mir ins Gesicht zu schreien. »Weißt du nicht, dass ich derjenige bin, der eigentlich taub sein sollte? Also. Auf Wiedersehen!«

Er beugte sich über ein paar Akten auf seinem Schreibtisch und scheuchte mich mit einem Fuchteln seiner knorrigen Hand zur Tür.

Ich blieb auf der Schwelle stehen. Mir kam der Gedanke, dass ich ihn womöglich nicht wiedersehen würde.

»Die Arbeit für Sie hat mir Spaß gemacht, Professor Ainsworth«, sagte ich.

Er blickte nicht von seiner Arbeit auf. »Weitergehen, William James Henry. Immer in Bewegung bleiben, wie der sprichwörtliche Stein, oder du wirst als alter Opa wie Adolphus Ainsworth enden!«

Ich machte Anstalten, in den Flur zu gehen. Er rief mich zurück.

»Du bist ein Sklave«, sagte er. »Oder du musst dich für einen halten, wo du nicht nach deinem Lohn fragst. Da«, fügte er schroff hinzu und schob zwei verkrumpelte Dollarnoten über den Tisch.

»Professor Ainsworth …«

»Nimm es! Sei kein Dummkopf, wenn es ums Geld geht, Will Henry. Sei ein Dummkopf bei allem andern – Religion, Politik, Liebe –, aber sei nie ein Dummkopf beim Geld. Diese kleine Weisheit ist dein Bonus für die langen Minuten schwerer Schufterei!«

»Danke, Professor Ainsworth.«

»Klappe! Geh! Warte! Weshalb zum Teufel gehst du noch mal?«

»Um den Doktor zu retten.«

»Wovor retten?«

»Wovor immer er gerettet werden muss. Ich bin sein Lehrling.«

* * *

Als ich an diesem Abend meine Sachen packte, trat Lilly mit ihrer Bitte an mich heran. Ach, na schön, ich will es zugeben: Es war keine Bitte.

»Ich gehe mit euch.«

Ich wählte nicht die Antwort, die von Helrung mir gegeben hatte. Ich war müde und besorgt, meine Nerven zum Zerreißen gespannt, und das Letzte, was ich wollte, war ein Streit.

»Deine Mutter wird dich nicht lassen.«

»Mutter sagt, sie wird dich nicht lassen.«

»Der Unterschied ist, dass sie nicht meine Mutter ist.«

»Sie war nämlich schon bei Onkel. Ich habe sie noch nie so wütend gesehen. Ich dachte, ihr Kopf würde platzen – buchstäblich platzen und von ihren Schultern rollen. Ich kann’s kaum erwarten zu sehen, was passiert.«

»Ich glaube nicht, dass ihr Kopf platzen wird.«

»Nein, ich meine mit dir. Ich habe noch nie erlebt, dass sie nicht ihren Willen bekommen hat.«

Sie ließ sich aufs Bett plumpsen und sah mir dabei zu, wie ich Kleider in meine kleine Tasche zwängte. Ihr unverhohlener Blick verunsicherte mich. Das tat er immer.

»Wie hast du ihn gefunden?«, fragte sie.

»Ein anderer Monstrumologe hat ihn gefunden.«

»Wie?«

»Ich … ich weiß es nicht genau.«

Sie lachte – Frühlingsregen auf die trockene Erde. »Ich weiß nicht, wieso du lügst, William James Henry. Du bist ausgesprochen schlecht darin.«

»Der Doktor sagt, Lügen ist die schlimmste Art des Possenreißens.«

»Dann bist du die schlimmste Art von Possenreißer.«

Ich lachte. Es ließ mich stutzen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal gelacht hatte. Es fühlte sich gut an zu lachen. Und gut, ihre Augen zu sehen und den Jasmin in ihren Haaren zu riechen. Ich hatte plötzlich das Verlangen, sie zu küssen. Ich hatte diesen speziellen Drang noch nie zuvor erlebt, und das Gefühl war nicht unähnlich dem, am Rande eines Abgrunds einer völlig anderen Art zu stehen. Das hier war kein Knoten, der sich in meiner Brust loswickelte; das hier war die Luft selbst, die ganze Atmosphäre, die sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ausdehnte. Ich wusste nicht recht, was ich wegen alldem machen sollte – außer vielleicht sie zu küssen, aber Lilly Bates tatsächlich zu küssen beinhaltete … na ja, sie zu küssen.

»Wirst du mich vermissen?«, fragte sie.

»Ich werde es versuchen.«

Sie fand meine Antwort außerordentlich witzig; sie rollte sich auf den Rücken und brüllte vor Lachen. Ich wurde rot und wusste nicht, ob ich mich beleidigt oder geschmeichelt fühlen sollte.

»Oh!«, rief sie und setzte sich auf und griff in ihre Handtasche. »Das hätte ich ja fast vergessen! Hier, ich habe etwas für dich.«

Es war eine Fotografie von ihr. Ihr Lächeln war ein bisschen unnatürlich, fand ich, aber mir gefiel ihr Haar. Es war in Korkenzieherlocken gelegt, was das Lächeln mehr als wettmachte.

»Na, was meinst du? Es ist ein Talisman, und damit du dich nicht so einsam fühlst. Du hast es mir zwar nie gesagt, aber ich glaube, du bist ganz schön oft einsam.«

Ich hätte vielleicht widersprochen; Zanken war unsere normale Form der Unterhaltung. Aber ich war im Begriff wegzugehen, und sie hatte mir gerade ihre Fotografie gegeben, und vor einem Moment hatte ich noch daran gedacht, sie zu küssen, deshalb dankte ich ihr für ihr Geschenk und machte mit dem Packen weiter – das heißt, ich räumte in der Tasche um, was schon eingepackt war. Manchmal, wenn Lilly um mich herum war, kam ich mir vor wie ein Schauspieler, der nicht wusste, was er mit seinen Händen anstellen sollte.

»Schreib mir!«, sagte sie.

»Was denn?«

»Einen Brief, eine Postkarte, ein Telegramm … Schreib mir, während du weg bist.«

»In Ordnung«, sagte ich.

»Lügner!«

»Ich verspreche es, Lilly. Ich werde dir schreiben.«

»Schreib mir ein Gedicht!«

»Ein Gedicht?«

»Na ja, es muss nicht unbedingt ein Gedicht sein, nehm ich an.«

»Das ist gut.«

»Wieso ist das gut? Du willst kein Gedicht schreiben?« Sie zog einen Schmollmund.

»Ich habe bloß noch nie eins geschrieben. Der Doktor schon. Der Doktor war Dichter, bevor er Monstrumologe wurde. Ich wette, das hast du nicht gewusst!«

»Ich wette, du hast nicht gewusst, dass ich das wusste. Ich habe sogar ein paar seiner Gedichte gelesen!«

»Jetzt lügst du aber! Der Doktor sagt, er hat sie alle verbrannt.«

Bei einer Lüge ertappt zu werden, brachte Lillian Bates nicht aus der Fassung. Sie machte einfach ohne eine Spur von Reue weiter.

»Weshalb hat er das gemacht?«

»Er hat gesagt, sie waren nicht besonders gut.«

»Ach, das ist doch Unsinn!« Sie lachte wieder. »Wenn man jedes schlechte Gedicht verbrennen würde, das geschrieben wurde, würde der Qualm eine Woche lang die Sonne verdunkeln!«

Sie beobachtete, wie ich meinen Hut aus dem obersten Fach des Wandschranks zog. Beobachtete, wie ich ihn in meinen Händen drehte. Beobachtete mein Gesicht, als ich mit dem Finger über die Näherei auf dem Innenband strich: W.J.H.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Das ist mein Hut.«

»Na, dass es ein Hut ist, sehe ich auch! Er sieht zu klein aus für dich.«

»Nein«, sagte ich. Ich stopfte den Hut in die Tasche. Er war sein erstes – nein, sein einziges – Geschenk an mich gewesen. Ich war entschlossen, ihn nie zu verlegen.

»Er passt«, sagte ich.

* * *

Ich hatte den Traum in jener Nacht – meiner letzten Nacht in New York und der letzten Nacht, in der ich ihn haben sollte.

Der Verschlossene Raum. Adolphus, der an seinen Schlüsseln herumfummelte.

Der Doktor hat gesagt, du würdest das sehen wollen.

Der Karton auf dem Tisch und der Deckel, der nicht abgehen will.

Ich kriege ihn nicht auf.

Der Karton zittert. Er äfft meinen Herzschlag nach. Was ist in dem Karton?

Dummer Junge! Du weißt, was es ist. Du hast schon immer gewusst, was in dem Karton ist. Es ist nicht das, was darin ist, wovon er wollte, dass du es siehst: Es ist der Karton!

Ich nehme ihn in die Hand. Der Karton zittert in meiner Hand. Er schlägt im Takt mit meinem Herzen. Ich hatte mich geirrt; es war nicht der des Doktors: Er gehörte mir.

* * *

Am nächsten Morgen war ich nicht pünktlich um sechs zum Frühstück unten. Mrs Bates kam nach oben, um nach mir zu sehen; ich hörte, wie sie die Treppe hochhastete, und dann wurde die Schlafzimmertür aufgerissen, und sie stand schnaufend im Eingang. Ich bemerkte, dass sie einen Briefumschlag in der Hand hielt.

»William! O Gott sei Dank! Ich dachte, du hättest uns schon verlassen!«

»Ich würde doch nicht gehen, ohne mich zu verabschieden, Mrs Bates. Das wäre nicht korrekt.«

Sie strahlte. »Nein! Nein, das wäre es ganz sicher nicht. Und hier bist du nun also, und da ist deine Tasche mit all deinen Sachen, und ich vermute einmal, dass du es dir nicht anders überlegt hast?«

Ich teilte ihr mit, dass ich das nicht hatte. Eine peinliche Stille entstand zwischen uns.

»Nun denn«, sagte ich schließlich und räusperte mich. »Ich sollte besser gehen.«

»Du musst Mr Bates noch Auf Wiedersehen sagen«, wies sie mich an. »Und ihm für alles danken, was er getan hat.«

»Jawohl, gnädige Frau.«

»Und, vergib mir, William, aber wirklich, du musst glauben, ich sei verrückt geworden, wenn du denkst, ich lasse dich mit dieser Frisur aus dem Haus gehen!«

Sie fand den Kamm neben dem Waschtisch und fuhr mir damit mehrere Male durch die Haare. Das Ergebnis schien sie nicht zufriedenzustellen.

»Hast du einen Hut?«

»Ja, gnädige Frau.«

Als ich in meiner Tasche nach dem Hut mit meinen Initialen kramte, hörte ich einen Laut, der sich wie der leise Schrei eines verwundeten Tiers anhörte, und blickte zu ihr hinüber.

»William, ich muss mich entschuldigen!«, sagte sie. »Ich habe kein Bon-Voyage-Geschenk für dich, aber zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, dass ich praktisch keine Kenntnis von deiner Abreise hatte. Man hat mich damit im letzten Moment buchstäblich überrascht

»Sie müssen mir nichts schenken, Mrs Bates.«

»Es ist … üblich, William.«

Sie setzte sich aufs Bett. Ich blieb neben meiner kleinen Tasche stehen und drehte den Hut in den Händen. Sie tippte mit dem Umschlag auf ihren Schoß.

»Es sei denn, du würdest das hier als Geschenk betrachten«, sagte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Umschlag.

»Was ist das?«

»Es ist eine schriftliche Zusage der Privatschule Exeter, eine der angesehensten Vorbereitungsschulen des Landes, William. Mr Bates ist ein Ehemaliger; er hat es für dich arrangiert.«

»Was arrangiert?«

»Deine Aufnahme! Fürs Herbsthalbjahr!«

Ich schüttelte den Kopf; ich verstand es nicht. Der Hut drehte sich; der Umschlag tippte weiterhin auf ihr Knie.

»Bleib bei uns!«, sagte sie. Und dann, als würde sie sich selbst verbessern: »Bleib bei mir. Ich weiß, dass es vielleicht noch zu früh ist, dich ›Sohn‹ zu nennen, aber wenn du bleibst, verspreche ich dir, dass ich dich wie meinen Sohn lieben werde. Ich werde dich beschützen; ich werde für dich sorgen; ich werde nicht zulassen, dass dir ein Leid geschieht.«

Ich setzte mich neben sie. Mein Hut in meinen Händen, der Umschlag in ihrem Schoß, und der abwesende Mann zwischen uns.

»Mein Platz ist beim Doktor.«

»Dein Platz! William, dein Platz ist da, wo der liebe Herr es bestimmt! Hast du daran einmal gedacht? Im Leben gibt es die albernen Geschenke, die wir einander geben, und es gibt die wahren Geschenke, die Geschenke jenseits allen weltlichen Wertes. Es ist kein zufälliger Umstand, dass du zu mir gekommen bist. Es ist Gottes Wille. Das glaube ich. Das glaube ich mit ganzem Herzen.«

»Wenn es Gottes Wille ist«, sagte ich, »würde er dann nicht dafür sorgen, dass ich nicht weggehen kann

»Du vergisst sein größtes Geschenk, William. Dieses Geschenk sperrt nicht ein; es befreit. Ich könnte mich weigern, dich gehen zu lassen. Ich könnte einen Anwalt engagieren, die Sache der Polizei melden. Ich könnte dich wie einen Truthahn zusammenschnüren und in diesem Zimmer einschließen, aber das werde ich nicht. Ich werde dich nicht zwingen zu bleiben. Ich bitte dich zu bleiben. Wenn du möchtest, William, werde ich auf die Knie fallen und dich anflehen.«

Mrs Bates fing an zu weinen. Sie weinte, wie sie alles andere tat, mit großer Würde; es lag eine Vornehmheit in ihren Tränen, eine Größe, die das Weltliche transzendierte – opernhaft möchte ich sie nennen, und das meine ich im besten Sinne des Wortes.

Ich blickte auf den Hut hinab. Ein albernes Geschenk, so hatte sie ihn genannt. Vielleicht war er albern im Vergleich zu dem höchsten Geschenk. Welches Geschenk wäre das nicht? Und vielleicht war auch ich albern, dass ich irgendeine Bindung dazu empfand oder zu dem Mann, der ihn mir geschenkt hatte. Daraus kann wenig Gutes erwachsen, Will Henry. Ich sah auf die Stelle, wo mein Finger hätte sein sollen. Das war nichts, der geringste Verlust. In der warmen Küche backt eine Frau ihrem kleinen Jungen einen Apfelkuchen. Ein Mann liegt auf dem Boden, breitet die Arme aus und verwandelt sich in ein Schiff mit tausend Segeln.

Und in der Arena sind zwei identische Türen 

Sie streckte die Hand aus und legte sie mir auf die Wange. Sie wusste es. Sie hatte nie irgendeinen Zweifel gehabt, da, wo Zweifel von Bedeutung sind, welche Tür ich wählen würde.