EINS
»Ein äußerst gefährliches Gift«
Nach mehreren Jahren des Dienstes für den Monstrumologen trat ich an ihn heran mit dem Gedanken, im Interesse der Nachwelt eine oder zwei seiner denkwürdigsten Fallstudien aufzuzeichnen. Natürlich wartete ich damit, bis er in einer seiner besseren Stimmungen war. Sich an Pellinore Warthrop zu wenden, während er einem seiner häufigen Anfälle von Melancholie frönte, konnte gefährlich für das körperliche Wohlbefinden sein. Einmal, als ich diesen unbesonnenen Zug machte, warf er einen Band von Shakespeares Tragödien nach meinem Kopf.
Der Moment bot sich bei der Zustellung der Tagespost, unter der sich ein Brief von Präsident McKinley befand, in dem dieser Warthrop für seinen Dienst am Vaterland beim zufriedenstellenden Abschluss »jenes eigenartigen Vorfalls in den Adirondacks« dankte. Der Doktor, dessen Ego so robust wie einer von Mr P. T. Barnums Kraftprotzen aus der Nebenvorstellung war, las ihn dreimal laut vor, bevor er ihn meiner Obhut anvertraute. Ich war unter anderem sein Registrator – oder besser gesagt, ebenso wie alles andere. Nichts außerhalb seiner Arbeit konnte die Laune des Monstrumologen mehr aufhellen als eine leichte Berührung mit Prominenz. Es schien irgendeine tiefe Sehnsucht in ihm zu stillen.
Über das Heben seiner moribunden Stimmung und der damit – zumindest vorübergehend – verbundenen Gewährleistung meiner körperlichen Unversehrtheit hinaus lieferte der Brief auch das perfekte Entree für meinen Vorschlag.
»Das war schon ziemlich eigenartig, nicht wahr?«, fragte ich.
»Hm? Ja, ich denke schon.« Der Monstrumologe war in die jüngste Ausgabe der Saturday Evening Post vertieft, die ebenfalls an diesem Tag angekommen war.
»Es ergäbe eine tolle Geschichte, wenn sie jemand erzählen würde«, wagte ich zu äußern.
»Ich habe daran gedacht, ein kleines Stück fürs Journal vorzubereiten«, erwiderte er. Das Journal der Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaft der Monstrumologie war die offizielle Vierteljahresschrift der Gesellschaft.
»Ich dachte an etwas mehr für die breite Öffentlichkeit Bestimmtes. Ein Artikel für die Post zum Beispiel.«
»Ein interessanter Gedanke, Will Henry«, sagte er. »Aber gänzlich undurchführbar. Ich habe dem Präsidenten das Versprechen gegeben, dass die Angelegenheit streng vertraulich bleibt, und ich bezweifle nicht, dass, sollte ich meinen Schwur brechen, ich mich in Fort Leavenworth eingesperrt wiederfinden könnte, nicht gerade der ideale Ort, um meine Studien zu verfolgen.«
»Aber wenn Sie etwas im Journal veröffentlichen würden …«
»Ach, wer liest denn das schon?«, schnaubte er verächtlich und winkte ab. »Es ist das Wesen meiner Profession, Will Henry, im Verborgenen zu arbeiten. Ich meide die Presse aus sehr gutem Grund – um die Öffentlichkeit zu schützen und um meine Arbeit zu schützen. Man stelle sich vor, was die Bekanntmachung dieser Angelegenheit anrichten würde – der Sturm der Panik und der gegenseitigen Beschuldigungen! Ha, der halbe Staat New York würde sich leeren, und der Rest würde auf meiner Schwelle erscheinen, um mich am nächsten Baum aufzuknüpfen!«
»Manche würden vielleicht auch sagen, dass Ihre Handlungen nichts weniger als heldenhaft waren«, hielt ich ihm entgegen. Wenn ich schon nicht an seine Vernunft appellieren konnte, wollte ich mich an sein Ego wenden.
»Manche haben das«, erwiderte er, womit er sich auf den Brief des Präsidenten bezog. »Und das muss genug sein.«
Aber nicht ganz genug; ich wusste, was er meinte. Mehr als einmal hatte er an seinem Krankenbett meine Hand ergriffen und mich mit diesen dunklen, hinterleuchteten Augen, die fast verrückt vor Kummer und Verzweiflung waren, flehentlich angeblickt, mich angebettelt, nie zu vergessen, sein Andenken über das Grab hinauszutragen. Du bist alles, was ich habe, Will Henry. Wer sonst wird sich meiner erinnern, wenn ich nicht mehr bin? Ich werde der Vergessenheit anheimfallen, und die Welt wird mein Ableben nicht bemerken, noch wird es sie kümmern!
»Na schön. Dann ein anderer Fall. Die Sache in Campeche, bei Calakmul …«
»Was soll das werden, Will Henry?« Er funkelte mich über das Magazin an. »Kannst du nicht sehen, dass ich zu entspannen versuche?«
»Holmes hat seinen Watson.«
»Holmes ist eine fiktive Figur«, legte er dar.
»Aber er basiert auf jemand Realem.«
»Ach!« Er lächelte mich durchtrieben an. »William James Henry, hast du etwa literarische Ambitionen? Ich bin verblüfft!«
»Dass ich literarische Ambitionen haben könnte?«
»Dass du überhaupt irgendwelche Ambitionen hast.«
»Nun«, sagte ich und holte tief Luft. »Die habe ich.«
»Und die ganze Zeit über hatte ich mir die Hoffnung gestattet, du möchtest als Student der anomalen Biologie in meine Fußstapfen treten!«
»Warum sollte ich nicht beides sein können?«, fragte ich. »Doyle ist Arzt!«
»War«, korrigierte er mich. »Und kein besonders erfolgreicher obendrein.« Er hatte die Zeitschrift hingelegt. Endlich hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. »Ich will zugeben, dass die Vorstellung mich neugierig macht, und ich hätte keine Einwände, wenn du dich daran versuchtest, aber ich behalte mir das Recht vor, alles zu überprüfen, was du zu Papier bringst. Neben meinem eigenen Ruf habe ich auch das Vermächtnis meines Berufsstands zu schützen.«
»Selbstverständlich«, sagte ich eifrig. »Es würde mir im Traum nicht einfallen, etwas zu veröffentlichen, ohne mich zuerst Ihrer Zustimmung zu versichern.«
»Aber nichts über unsere Schwierigkeiten in den Adirondacks!«
»Eigentlich schwebte mir dieser Fall von vor ein paar Jahren vor – der Zwischenfall in Sokotra.«
Seine Miene verfinsterte sich. Seine Augen brannten. Er richtete einen Finger auf mein Gesicht und sagte: »Auf gar keinen Fall! Hast du mich verstanden? Unter keinen Umständen wirst du jemals etwas Derartiges tun! Was für eine Frechheit, Will Henry, so etwas auch nur vorzuschlagen!«
»Aber wieso, Dr. Warthrop?«, fragte ich, bestürzt ob der Heftigkeit seiner Reaktion.
»Du kennst die Antwort auf diese Frage ganz genau! Oh, ich hätte es mir denken können! Ich hätte es wissen müssen!« Er erhob sich aus seinem Sessel, und die Gewalt seiner Leidenschaft ließ ihn beben. »Jetzt sehe ich ihn, den wahren Born deiner Ambitionen, Mr Henry! Du würdest nicht verewigen, sondern erniedrigen und in Schande bringen!«
»Dr. Warthrop, ich würde nichts Derartiges …«
»Dann frage ich dich, weshalb du von allen Fällen, die wir untersucht haben, denjenigen ausgesucht hast, der mich im schlechtestmöglichen Licht dastehen lässt? Ha! Siehst du, ich habe dich ertappt! Es gibt nur eine vernünftige Antwort auf diese Frage: Rache!«
Ich konnte meine Verwunderung über diese Anschuldigung nicht verbergen. »Rache? Rache wofür?«
»Für die empfundene schlechte Behandlung natürlich!«
»Wieso meinen Sie, ich sei schlecht behandelt worden?«
»Oh, das ist ja ganz schlau von dir, Will Henry – meine Worte zu zergliedern, um deine Perfidität zu verschleiern! Ich habe nicht zugegeben, dich schlecht zu behandeln; ich habe lediglich auf deine Empfindung der Schlechtbehandlung hingewiesen.«
»Na schön«, sagte ich. Es gab nur sehr wenige Diskussionen, die man gegen ihn gewinnen konnte. Genau genommen hatte ich noch nie auch nur eine einzige gewonnen. »Sie suchen den Fall aus!«
»Ich will den Fall nicht aussuchen! Das Ganze war von Anfang an deine Idee! Aber du hast gezeigt, wes Geistes Kind du bist, und so sei versichert, dass ich alles desavouieren werde, was du unter dem Deckmantel des Bewahrens meines Vermächtnisses zu veröffentlichen wagst! Holmes hatte seinen Watson, in der Tat! Und Cäsar hatte seinen Brutus, nicht wahr?«
»Ich würde nie etwas tun, um Sie zu verraten«, sagte ich ruhig. »Ich habe Sokotra vorgeschlagen, weil ich dachte …«
»Nein!«, schrie er und machte einen Schritt auf mich zu. Ich schreckte zurück, als erwartete ich einen Schlag, obwohl er in all unseren gemeinsamen Jahren nie handgreiflich geworden war. »Ich verbiete es! Ich habe zu lange und zu hart daran gearbeitet, die Erinnerung an diesen verfluchten Ort aus meinem Gedächtnis zu verbannen! Du wirst diesen Namen in meiner Gegenwart nie wieder erwähnen, hast du mich verstanden? Nie wieder!«
»Wie Sie wünschen, Doktor«, sagte ich. »Ich werde nie wieder davon sprechen.«
* * *
Und das tat ich auch nicht. Ich ließ die Sache fallen und habe sie bis heute auch nicht wieder aufs Tapet gebracht. Es wäre außerordentlich schwierig – nein, unmöglich –, jemanden unsterblich zu machen, der die wiedergegebenen Tatsachen ableugnet. Jahre vergingen, und in dem Maße, wie seine Fähigkeiten mit ihnen schwanden, erweiterten sich meine Pflichten, bis sie auch das Abfassen seiner Briefe und Abhandlungen umfassten. Ich rechnete mir meine Bemühungen nicht als Verdienst an und fand auch keine Anerkennung vom Monstrumologen dafür. Grimmig redigierte er meine Arbeit und strich alles, was seiner Ansicht nach den Beigeschmack von dichterischer Zügellosigkeit trug. In der Wissenschaft, sagte er mir, gibt es keinen Raum für romantische Vorträge oder Grübeleien über die Natur des Bösen. Dass er selbst in jungen Jahren ein Dichter gewesen war, durchtränkte die Aufgabe mit Pathos und Ironie.
Es hat mich oft vor ein Rätsel gestellt, welche Freude er daran fand, sich selbst genau die Dinge zu versagen, die ihm Freude bereiteten. Aber ich bin nicht der Erste, der darlegt, dass Liebe eine komplizierte Sache ist. Es ist wahr, dass der Monstrumologe seine Arbeit liebte – sie war, neben mir, alles, was er hatte –, aber seine Arbeit war nur eine Erweiterung seiner selbst, die erstgeborene Nachkommenschaft seines maßlosen Ehrgeizes. Seine Arbeit mag ihn auf diese seltsame und abscheuliche Insel geführt haben, aber sein Ehrgeiz war es, der ihn beinahe zugrunde gerichtet hätte.
* * *
Es begann an einem eisig kalten Februarabend des Jahres 1889 mit dem Eintreffen eines Pakets in dem Haus in der Harrington Lane. Die Lieferung war unerwartet, aber nicht ungewöhnlich. Nachdem ich fast drei Jahre lang Lehrling des Monstrumologen gewesen war, war ich an das mitternächtliche Klopfen an der Hintertür gewöhnt, an den verstohlenen Wechsel der Frachtgebühr und an den Doktor, der sich aufführte wie ein Kind an Weihnachten, wenn er mit vor Vorfreude fiebrig glühenden Wangen sein Geschenk ins Kellerlaboratorium trug, wo die Schachtel ausgepackt und ihr widerlicher Inhalt in all seiner makabren Pracht enthüllt wurde. Was an dieser speziellen Zustellung ungewöhnlich war, war der Mann, der sie brachte. Im Laufe meines Dienstes am Monstrumologen hatte ich genug unappetitliche Charaktere gesehen, Männer, die für einen Dollar und ein Schlückchen Whiskey die eigene Mutter verkauft hätten – willige Söldner im Dienste der Naturwissenschaft der anomalen Biologie.
Aber von diesem Schlag war der Mann nicht, der zitternd in der Gasse stand. Obschon verdreckt von einer viele Meilen langen Reise, trug er einen teuren, pelzbesetzten Mantel, der offen stand und einen maßgeschneiderten Anzug enthüllte. Am kleinen Finger seiner linken Hand glitzerte ein Diamantring. Auffälliger als seine Aufmachung war sein Auftreten: Der arme Kerl schien fast verrückt vor Panik. Er ließ seine Fracht auf der hinteren Veranda liegen, drängte sich ins Zimmer, packte den Doktor am Revers und fragte gebieterisch, ob dies Harrington Lane 425 sei und er – der Doktor – Pellinore Warthrop.
»Ich bin Dr. Warthrop«, sagte mein Herr.
»Oh, Gott sei Dank! Gott sei Dank!«, rief der gequälte Mann mit heiserer Stimme. »Jetzt habe ich es geschafft! Es ist direkt da draußen. Nehmen Sie es, nehmen Sie es! Ich habe Ihnen das verdammte Ding gebracht! Jetzt geben Sie es mir! Er hat gesagt, Sie hätten es. Schnell, bevor es zu spät ist!«
»Mein guter Mann«, entgegnete der Doktor gelassen. »Ich will die Fracht gerne bezahlen, wenn der Preis akzeptabel ist.« Obwohl er über beträchtliche Mittel verfügte, war der Monstrumologe unglaublich knausrig.
»Der Preis? Der Preis!« Der Mann lachte hysterisch. »Sie sind es nicht, der bezahlen wird, Warthrop! Er hat gesagt, Sie hätten es. Er hat versprochen, Sie würden es mir geben, wenn ich es Ihnen brächte. Nun halten Sie sein Versprechen!«
»Wessen Versprechen?«
Unser ungeladener Gast schrie wie am Spieß, krümmte sich und fasste sich an die Brust. Der Doktor fing ihn auf, bevor er auf dem Boden auftraf, und manövrierte ihn vorsichtig in einen Sessel.
»Der Teufel soll ihn holen – zu spät!«, wimmerte der Mann. »Ich komme zu spät!« Er rang flehentlich die Hände. »Komme ich zu spät, Dr. Warthrop?«
»Diese Frage kann ich nicht beantworten«, erwiderte der Doktor, »denn ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Er hat mir gesagt, Sie würden mir das Gegenmittel geben, wenn ich es brächte, aber ich wurde in New York aufgehalten. Ich habe den Zug verpasst und musste auf den nächsten warten – mehr als zwei Stunden musste ich warten. O Gott! Den ganzen Weg hierherzukommen, nur um am Ende zu sterben!«
»Das Gegenmittel? Das Gegenmittel wofür?«
»Für das Gift! ›Bringen Sie mein kleines Geschenk zu Warthrop in Amerika, wenn Sie leben wollen‹, hat er mir gesagt, der Unhold, der Teufel! Das habe ich, und deshalb müssen Sie! Ach, aber es ist hoffnungslos! Ich fühle es jetzt – mein Herz – mein Herz …«
Der Doktor schüttelte jäh den Kopf und wies mich mit einem Fingerschnippen an, ihm den Instrumentenkoffer zu bringen.
»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun«, hörte ich ihn zu dem Mann sagen, als ich davonhastete. »Aber Sie müssen sich zusammenreißen und mir in klaren und einfachen Worten erzählen …«
Als ich zurückkam, war unser gepeinigter Kurier in Ohnmacht gefallen: Die Augen rollten ihm im Kopf, die Hände zuckten im Schoß, aus seinem Gesicht war sämtliche Farbe geschwunden. Der Doktor nahm das Stethoskop aus dem Koffer und hörte das Herz des Mannes ab, wobei er sich tief über die bebende Gestalt beugte und dabei die Beine weit spreizte, um das Gleichgewicht zu wahren.
»Galoppiert wie ein durchgegangenes Pferd, Will Henry«, murmelte der Monstrumologe. »Aber keine Anomalien oder Unregelmäßigkeiten, die ich feststellen könnte. Rasch, ein Glas Wasser!«
Ich erwartete, dass er dem Not leidenden Mann etwas zu trinken einflößen würde; stattdessen kippte ihm Warthrop den gesamten Inhalt des Glases über den Kopf. Die Augen des Mannes klappten jäh auf. Der Mund formte ein überraschtes O.
»Welche Art von Gift hat er Ihnen verabreicht?«, fragte mein Herr mit strenger Stimme. »Hat er es gesagt? Antworten Sie!«
»Tip … Tipota … vom Pyritbaum.«
»Tipota?« Der Doktor runzelte die Stirn. »Von was für einem Baum?«
»Pyrit! Tipota, vom Pyritbaum auf der Insel der Dämonen!«
»Die Insel der Dämonen! Aber das ist ja … außergewöhnlich. Sind Sie ganz sicher?«
»Scheiße! Ich denke, ich werde mich wohl noch daran erinnern, womit er mich vergiftet hat!«, stieß der Mann aufgebracht hervor. »Und er hat gesagt, Sie hätten das Gegengift! Oh! Oh! Es ist so weit!« Er griff sich mit den Händen an die Brust. »Mein Herz explodiert!«
»Das denke ich nicht«, sagte der Doktor langsam. Er trat zurück und musterte den Mann aufmerksam, indes die dunklen Augen mit jenem unheimlichen hinterleuchteten Feuer in ihren Höhlen herumhüpften. »Wir haben noch ein paar Momente … aber nur ein paar! Will Henry, bleibe bei unserem Gast, während ich das Antidot zusammenmische!«
»Dann bin ich nicht zu spät?«, erkundigte sich der Mann ungläubig, als dürfte er sich nicht erkühnen, sich Hoffnung zu gestatten.
»Wann wurde das Gift verabreicht?«
»Am Abend des Zweiten.«
»Dieses Monats?«
»Ja, ja – natürlich diesen Monat! Ich wäre mausetot, wenn es letzten Monat gewesen wäre, so viel steht fest!«
»Natürlich – vergeben Sie mir. Tipota wirkt zwar langsam, aber so langsam nun auch wieder nicht! Ich bin sofort wieder da. Will Henry, rufe mich augenblicklich, falls sich der Zustand unseres Freundes ändert!«
Der Doktor stürmte die Treppe zum Kellergeschoss hinunter und ließ die Tür dabei ein Stück weit offen stehen. Wir konnten hören, wie gläserne Gefäße aneinanderstießen, das Klingen und Klirren von Metall, das Zischen eines Bunsenbrenners.
»Was, wenn er sich irrt?«, stöhnte der Mann. »Was, wenn es zu spät ist? Meine Sehkraft schwindet – das passiert doch kurz vor dem Ende! Man wird blind, und das Herz zerplatzt – zerplatzt in tausend Stücke in der Brust! Dein Gesicht, Kind. Ich kann dein Gesicht nicht sehen. Es ist in der Dunkelheit verschwunden. Die Dunkelheit kommt! Oh, möge er für alle Ewigkeit im tiefsten Kreis der Hölle brennen – der Unhold – der Teufel!«
Der Doktor kam wieder ins Zimmer gesprungen, in der Hand eine Spritze mit olivgrüner Flüssigkeit. Bei seinem Eintreten setzte sich der Sterbende mit einem Ruck im Sessel auf und rief: »Wer ist das?«
»Ich bin’s, Warthrop«, antwortete der Doktor. »Lassen Sie uns Ihnen diesen Mantel ausziehen. Will Henry, hilf ihm bitte.«
»Sie haben das Gegengift?«, fragte der Mann.
Der Doktor nickte knapp, zog den Ärmel des Mannes hoch und stieß die Nadel ins Fleisch.
»Das wär’s!«, sagte Warthrop. »Das Stethoskop, Will Henry. Danke.« Er lauschte ein paar Sekunden lang dem Herzschlag des Mannes, und ich dachte, es müsste ein Gaukelbild des Lichts sein, denn ich erspähte etwas die Lippen des Doktors umspielen, das wie ein Lächeln aussah. »Ja. Wird beträchtlich langsamer. Wie fühlen Sie sich?«
In die Wangen des Mannes war ein wenig Farbe zurückgekehrt, und seine Atmung hatte sich beruhigt. Was auch immer der Doktor ihm gegeben hatte, hatte eine heilsame Wirkung. Er sprach zögernd, als könne er sein Glück nicht fassen. »Besser, denke ich. Ich fange an, wieder scharf zu sehen.«
»Gut! Es wird Sie möglicherweise erleichtern zu erfahren, dass –«, begann der Monstrumologe, ehe er sich selbst unterbrach. Vielleicht war ihm in den Sinn gekommen, dass der Mann schon genug Qualen erlitten hatte. »Es handelt sich um ein sehr gefährliches Gift. Immer tödlich, schleichend wirkend und symptomlos bis zum Ende, aber die Auswirkungen sind gänzlich reversibel, wenn das Gegenmittel rechtzeitig verabreicht wird.«
»Er hat gesagt, Sie wüssten, was zu tun ist.«
»Da bin ich ganz sicher. Sagen Sie mir, wie sind Sie zu der Bekanntschaft mit John Kearns gekommen?«
Die Augen unseres Gastes weiteten sich erstaunt. »Wie können Sie denn bloß seinen Namen wissen?«
»Es gibt nur einen Menschen, den ich kenne – und der mich kennt –, der jemandem einen solch teuflischen Streich spielen würde.«
»Streich? Einen Menschen zu vergiften, ihn auf die Türschwelle des Todes zu schleudern, um ihn ein Paket ausliefern zu lassen – das ist ein Streich für Sie?«
»Genau!«, rief der Doktor und vergaß sich – und was die leidende Seele vor ihm durchgemacht hatte – einen Moment lang. »Das Paket! Will Henry, trage es hinunter ins Kellergeschoss und setze einen Topf für Tee auf! Ich bin sicher, Mr …«
»Kendall. Wymond Kendall.«
»Mr Kendall könnte eine Tasse vertragen, denke ich. Nun mach fix, Will Henry! Ich vermute, wir haben eine lange Nacht vor uns.«
Das Paket, ein in gewöhnliches braunes Papier eingeschlagener Holzkasten, war nicht besonders schwer oder unhandlich. Ich transportierte es schnell ins Laboratorium, legte es auf den Arbeitstisch des Doktors und kehrte nach oben zurück, wo ich die Küche leer vorfand. Ich hörte, wie sich ihre Stimmen im Salon hoben und senkten, während ich den Tee zubereitete und meine Gedanken ein Wirrwarr aus schrecklicher Vorahnung und besorgniserfüllter Erinnerung waren. Es war nicht ganz ein Jahr vergangen seit meiner ersten Begegnung mit dem Mann namens John Kearns – falls das sein Name war. Er schien mehr als einen zu haben. Cory hatte er sich genannt und Schmidt. Es gab noch einen anderen Namen, denjenigen, den er sich im Herbst vergangenen Jahres selbst gegeben hatte, denjenigen, mit dem sich die Geschichte an ihn erinnern würde, denjenigen, der seine wahre Natur am besten beschrieb. Er war kein Monstrumologe wie mein Herr. Es war mir damals nicht klar, was er war, abgesehen von einem Experten in den dunkleren Regionen der Welt der Natur – und für das menschliche Herz.
»Er hatte eine Wohnung von mir in der Dorset Street in Whitechapel angemietet«, hörte ich Kendall sagen. »Er war nicht die Art Mieter, die man im East End normalerweise findet, und offensichtlich hätte er sich etwas Besseres leisten können, aber er sagte mir, er sei gern nah bei seiner Arbeit im Royal London Hospital. Dieser Arbeit schien er sich mit Leib und Seele verschrieben zu haben; er sagte mir, er würde für nichts anderes leben. Wissen Sie, das Komische ist, ich mochte ihn; ich mochte Dr. Kearns sehr. Er war ein blendender Unterhalter … mit einem wunderbaren, wenn auch etwas verdrehten Sinn für Humor … sehr belesen und immer pünktlich mit der Miete. Als er also zwei Monate zu spät damit dran war, dachte ich, irgendetwas müsse ihm zugestoßen sein. Schließlich ist es ja Whitechapel. Dr. Kearns hielt sehr späte Zeiten ein, und ich fürchtete, er könnte von Raufbolden abgepasst worden sein – oder Schlimmerem. Also beschloss ich, mehr aus Sorge um sein Wohlergehen als um die Rückstände, nach ihm zu sehen.«
»Ich nehme an, Sie fanden ihn wohlauf vor«, äußerte der Doktor.
»Oh, er war die Verkörperung von Gesundheit und guter Laune! Derselbe alte Kearns. Bat mich auf einen Schluck Tee herein, als sei alles in Ordnung, erzählte mir, er sei in letzter Zeit von einem besonders lästigen Fall beansprucht worden, einem Obermaat bei der britischen Marine, der an einem mysteriösen tropischen Fieber litt. Kearns schien völlig verblüfft – wenngleich gerührt – von meiner Sorge um sein Wohlergehen. Als ich die Sache mit der Miete zur Sprache brachte, brachte er seinen Verdruss zum Ausdruck, gab diesem seinem Fall die Schuld und versicherte mir, ich würde sie, plus Zinsen, bis zum Ende der Woche haben. So besänftigt war ich durch seine redegewandte Begründung – und auch ein bisschen verlegen, ihn bei wichtiger Arbeit gestört zu haben –, dass ich mich tatsächlich dafür entschuldigte, gekommen zu sein, um einzukassieren, was mir rechtmäßig zustand. Oh, er ist des Teufels eigene Brut, dieser Dr. John Kearns!«
»Er kann gut mit Worten umgehen«, gab der Doktor zu. »Unter anderem. Ah, da ist ja Will Henry mit dem Tee!«
Als ich den Salon betrat, stand der Monstrumologe am Kaminsims und fuhr mit einem Finger nachdenklich die Nase der Büste des alten griechischen Philosophen Zenon auf und ab. Unser Gast lag auf dem Diwan, das hagere Gesicht noch gerötet von seinem Martyrium. Mit zitternder Hand griff er nach der Tasse.
»Der Tee«, murmelte er. »Es muss der Tee gewesen sein.«
»Das Medium für das Gift?«, fragte der Doktor.
»Nein! Das hat er mir injiziert, als ich wieder zu Sinnen kam.«
»Ah, Sie meinen, er hat Ihnen heimlich irgendeinen Schlaftrunk verabreicht!«
»So muss es gewesen sein. Es kann keine andere Erklärung geben. Ich dankte ihm für den Tee – oh, wie muss er meine Dankbarkeit genossen haben! – und war nicht mehr als zwei Schritte von der Tür weg, als der Raum sich zu drehen begann und alles schwarz wurde. Als ich wach wurde, waren viele Stunden vergangen – die Nacht war zur Gänze hereingebrochen –, und da stand er neben mir, grausig grinsend.
›Sie hatten einen kleinen Anfall‹, sagte er.
›Ich befürchte es‹, sagte ich. Ich fühlte mich total ausgelaugt und vollkommen hilflos, jeglicher Lebenskraft beraubt. Allein meinen Kopf zu drehen, um ihn anzublicken, erforderte jede Unze Kraft in meinem Körper.
›Glück für Sie, dass es Sie in Anwesenheit eines Arztes getroffen hat!‹, bemerkte er mit völlig ehrlicher Miene. ›Ich dachte mir schon, dass etwas mit Ihnen los ist, als ich Sie das erste Mal sah, Kendall. Ein bisschen grün um die Nasenspitze. Klar, Sie haben wahrscheinlich zu hart gearbeitet, um die Armen und Unterdrückten auszubeuten und Mieten für Löcher einzutreiben, die eine Ratte ein Zuhause zu nennen sich schämen würde – ein Fall von Miethai-Erschöpfung, ist meine Vermutung. Ich würde vorschlagen, Sie ziehen einen Urlaub auf dem Land in Betracht. Ein bisschen frische Luft schnappen. Die Atmosphäre dieser Viertel ist ja völlig faulig, erfüllt wie sie ist vom Gestank menschlichen Leidens und der Hoffnungslosigkeit. Machen Sie eine kleine Reise! Ein Tapetenwechsel würde Wunder wirken.‹
Ich verwahrte mich vehement gegen diese beleidigenden Bemerkungen. Ich bin kein Miethai, Dr. Warthrop. Ich stelle eine notwendige Dienstleistung zur Verfügung, und nur ein- oder zweimal habe ich jemanden auf die Straße gesetzt, weil er die Miete nicht gezahlt hat. So vollkommen war meine Empörung, dass ich ihn für diese üblen Verhöhnungen meines Charakters geschlagen hätte, aber ich konnte die Hand nicht einmal einen Zoll weit vom Bett erheben.
›Ich bin überaus froh, dass Sie vorbeigeschaut haben‹, fuhr er in diesem seinem unerträglichen vergnügten Tonfall fort. ›Gott persönlich muss Sie geschickt haben – Gott oder etwas sehr Ähnliches. Sehen Sie, dem Postversand kann ich es nicht anvertrauen, und selbst kann ich nicht gehen – ich muss morgen Abschied nehmen von dieser gesegneten Insel –, und in dieser Umgebung einen verlässlichen Kurier zu finden hat sich als schwieriger erwiesen, als ich vorhergesehen habe. Man kann sich einfach auf niemanden aus dem Ghetto verlassen – aber das muss ich Ihnen ja nicht erzählen! Und da kommen auf einmal Sie, Kendall! Zugestellt wie das beste Geschenk – vollkommen zufriedenstellend und gänzlich unerwartet. Die Antwort auf das Gebet eines Mannes, der nie betet! Das ist doch ein ausgesprochen glücklicher Zufall, gelinde gesagt, finden Sie nicht?‹«
Kendall hielt inne, nippte an seinem Tee und starrte eine Weile schweigend ins Leere. Er hatte den gehetzten Blick eines Mannes, der mit knapper Not einem Zusammenstoß mit dem Engel des Todes entgangen war, was er buchstäblich ja auch war.
»Nun ja, ich will zugeben, dass ich nicht wusste, was ich denken sollte, Dr. Warthrop. Was sollte ich denn denken? Binnen eines Moments und ohne Warnung war ich aller meiner Fähigkeiten beraubt worden, und jetzt lag ich benommen da, die Gedanken verschwommen, gelähmt auf seinem Bett, und er blickte höhnisch auf mich herab. Was sollte ein Mann da denken?
›Es handelt sich um eine Kleinigkeit‹, fuhr er fort. ›Eine Bagatelle eigentlich. Aber es sollte lieber früher als später zugestellt werden. Wenn es das ist, wofür ich es halte, und es das verkörpert, was ich denke, dass es verkörpert, wird er es schnell haben wollen. Eine Verzögerung könnte ihn das ganze Spiel kosten, und das würde er mir nie verzeihen.‹
›Wer?‹, fragte ich. Verstehen Sie, ich war zu diesem Zeitpunkt völlig außer mir, denn es war mir endlich aufgegangen, dass er der Grund für mein plötzliches und geheimnisvolles Gebrechen war. ›Wer würde Ihnen nie verzeihen?‹
›Warthrop! Warthrop natürlich! Der Monstrumologe. Nun erzählen Sie mir nicht, Sie hätten noch nie von ihm gehört! Er ist ein sehr teurer Freund von mir. Man könnte uns Brüder nennen, in einem spirituellen Sinn selbstverständlich, obwohl wir nicht unterschiedlicher sein könnten. Zum einen ist er viel zu ernst, und für jemanden, der sich selbst Wissenschaftler nennt, besitzt er eine merkwürdige romantische Ader. Hat einen Erlöserkomplex, wenn Sie meine Meinung hören wollen. Will die ganze verdammte Welt vor sich selbst retten, wohingegen meine Devise immer ›leben und leben lassen‹ war. Na, eines Tages tötete ich eine große Spinne – und wurde anschließend von Gewissensbissen verzehrt, denn was hatte diese Spinne mir denn jemals getan? Reichen allein meine überlegenen geistigen Fähigkeiten und Körpergröße, um mich besser zu machen als meine achtbeinige Mitbewohnerin? Ich habe mich nicht mehr dazu entschieden, ein Mensch zu sein, als sie eine Spinne. Waren wir nicht beide ebenbürtige Spieler im großen Plan, jeder die Rolle ausfüllend, die uns zugewiesen wurde – bis ich den heiligen Bund zwischen uns und dem, der uns erschuf, brach? Das ist genug, um die Seele eines Mannes entzweizureißen!‹
›Sie sind verrückt!‹, sagte ich ihm; ich konnte nicht anders.
›Ganz im Gegenteil, mein lieber Kendall‹, entgegnete das Ungeheuer. ›Es ist Ihr großes Glück, sich in der Gesellschaft des geistig gesündesten Menschen auf der ganzen Welt zu befinden. Es hat mich Jahre gekostet, mich von aller Verblendung und Verstellung zu befreien, den Mantel der selbstgerechten Überlegenheit, in den wir Menschen uns hüllen, abzuwerfen. In diesem Sinne ist die Spinne uns überlegen. Sie stellt nicht ihre Natur infrage. Sie ist von keinem Selbstempfinden belastet. Der Spiegel ist für sie nichts als eine Glasscheibe. Sie ist rein, so unschuldig wie Adam vor dem Sündenfall. Selbst Warthrop, dieser unverbesserliche Moralist, würde mir da zustimmen. Ich habe nicht mehr Recht, die Spinne zu töten, als Sie, mich zu beurteilen. Sie, Sir, sind der Hase bei dieser Teegesellschaft; ich bin Alice.‹
Er zog sich einen Moment lang zurück, während ich dalag, als drückte mich ein tonnenschwerer Felsblock nieder, kaum fähig, den nächsten Atemzug zu tun. Als er wiederkam, hielt er die Spritze in der Hand. Ich will gern zugeben, Warthrop, dass ich noch nie eine solche Angst erlebt hatte. Der Raum begann sich erneut zu drehen, aber nicht aufgrund irgendeines Schlaftrunks, sondern vor schierem Entsetzen. Hilflos beobachtete ich, wie er das Glas antippte und auf den Kolben drückte. Ein einzelner Tropfen hing an der Nadelspitze und glitzerte im Lampenlicht wie der feinste Kristall.
›Wissen Sie, was das ist, Kendall?‹, fragte er sanft, und dann kicherte er lange und leise. ›Natürlich wissen Sie es nicht! Ich werde phrasenhaft. Es handelt sich um ein sehr seltenes Toxin, das aus dem Saft des Pyritbaums destilliert wird, ein interessantes Beispiel für eine der bösartigeren Pflanzen des Schöpfers, heimisch auf einer einzigen Insel, welche sich vierzig Seemeilen vom Galapagosarchipel entfernt befindet, genannt die Insel der Dämonen. Ich liebe diesen Namen, Sie nicht? Er ist so … sinnträchtig. Aber jetzt werde ich poetisch.‹
Er kam nahe heran – so nahe, dass ich mein eigenes Spiegelbild in den dunklen, unbewegten Tümpeln, die seine Augen waren, sehen konnte. Oh, diese Augen! Sollte ich sie in tausend Jahren noch einmal sehen, es wäre zu früh! Schwärzer als das schwärzeste Loch, leer – so leer von … von allem, Dr. Warthrop. Nicht menschlich. Nicht tierisch. Nicht irgendetwas.
›Man nennt es Tipota‹, flüsterte er. ›Denken Sie daran, Kendall! Wenn Warthrop Sie fragt, womit ich Sie gestochen habe, dann sagen Sie ihm das. Sagen Sie ihm: ›Es ist Tipota. Er hat mich mit Tipota vergiftet!‹«
Mein Herr nickte ernst, aber entdeckte ich da einen Anflug von Belustigung in seinen Augen? Ich wunderte mich, was an dieser schrecklichen Geschichte der Monstrumologe auch nur im Mindesten komisch finden konnte.
»Er steckte mir ein Stück Papier in die Tasche – ja! Hier ist es; ich habe es immer noch.«
Er hielt es hoch, sodass der Doktor es sehen konnte.
»Ihre Adresse – und der Name des Giftes, falls ich ihn vergessen sollte. Ihn vergessen! Als ob ich diesen verfluchten Namen jemals vergessen würde! Er sagte mir, ich hätte zehn Tage. ›Mehr oder weniger, mein lieber Kendall.‹ Mehr oder weniger! Dann hielt er mir – während diese schreckliche glitzernde Nadel in seiner Hand einen Zoll vor meiner Nase schwebte – einen Vortrag darüber, wie hochgeschätzt dieses Gift sei; dass der Zar von Russland einen geheimen Vorrat im kaiserlichen Tresor aufbewahre; wie es von den alten Griechen und Römern geschätzt wurde (›Es heißt, das war es, was Kleopatra wirklich tötete‹); dass es die bevorzugte Methode von Attentätern sei, weil es so schleichend wirke und dem Täter dadurch ermögliche, meilenweit weg zu sein, bis dem Opfer das Herz in der Brust explodiere. Dieser schauderhaften Rede folgte eine umfassende Beschreibung der Auswirkungen des Giftes: Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, nervöse Unruhe, rasende Gedanken, Herzklopfen, paranoide Wahnvorstellungen, übermäßiges Schwitzen, verstopfte Gedärme in manchen Fällen oder Durchfall in anderen –«
Der Doktor nickte knapp. Er war ungeduldig geworden. Ich wusste, was es war. Der Kasten. Das Paket zog an ihm, lockte ihn. Was immer Kearns diesem redseligen Engländer anvertraut hatte, es war wertvoll genug (zumindest im monstrumologischen Sinne), um für seine erfolgreiche Zustellung den Tod eines Menschen zu riskieren.
»Ja, ja«, sagte Warthrop. »Ich bin mit den Auswirkungen von Tipota vertraut – genauso vertraut, wenngleich nicht so intim, wie …«
Nun war es Kendall, der unterbrach, denn er war mehr dort als hier und würde es auch immer sein, hilflos auf Kearns’ Bett liegend, während der Geistesgestörte sich über ihn beugte und im Lampenlicht boshaft angrinste. Ich bezweifle, dass der arme Mann dieser schäbigen Wohnung in Londons East End jemals ganz entkommen würde, nicht im wahrsten Sinne. Bis zu seinem Tod würde er ein Gefangener dieser Erinnerung bleiben, ein Sklave in Diensten Dr. John Kearns’.
»›Bitte‹, flehte ich ihn an«, fuhr Kendall fort. »›Bitte, um Gottes willen!‹
Schlecht gewählte Worte, Dr. Warthrop! Bei der Erwähnung des Namens der Gottheit veränderte sich sein ganzes Auftreten, als ob ich die Jungfrau selbst profaniert hätte. Das schaurige Grinsen verschwand, die Mundwinkel hingen herunter, die Augen wurden zu Schlitzen.
›Um wessentwillen, haben Sie gesagt?‹, fragte er in einem gefährlichen Flüsterton. ›Um Gottes willen? Glauben Sie an Gott, Kendall? Beten Sie gerade zu ihm? Wie sonderbar. Sollten Sie nicht lieber zu mir beten, denn ich halte Ihnen gerade den Tod buchstäblich einen Zoll vor die Nase? Wer hat jetzt mehr Macht – ich oder Gott? Bevor Sie ›Gott‹ antworten, denken Sie gut nach, Kendall! Falls Sie recht haben, und ich steche Sie mit meiner Nadel, beweist das, dass Sie recht oder unrecht haben? Und welche Antwort wäre schlimmer? Falls recht, dann zieht Gott mich Ihnen doch wohl vor. Tatsächlich muss er Sie für Ihre Sünde verachten, und ich bin bloß sein Instrument. Falls unrecht, dann beten Sie zu nichts.‹ Er fuchtelte mir mit der Nadel dicht vorm Gesicht herum. ›Nichts!‹ Und dann lachte er.«
Wie kontrapunktisch hielt er in seiner Erzählung inne und weinte bittere Tränen.
»Und dann sagte er, das widerliche Scheusal: ›Wieso beten Menschen zu Gott, Kendall? Ich habe es nie begriffen. Gott liebt uns. Wir sind seine Schöpfung, wie meine Spinne; wir sind seine Lieblinge. Doch wenn wir uns tödlicher Gefahr gegenübersehen, beten wir zu ihm, uns zu verschonen! Sollten wir nicht stattdessen zu demjenigen beten, der uns tatsächlich vernichten will, der von Anfang an nach unserer Vernichtung getrachtet hat? Was ich sagen will, ist … Beten wir nicht zum falschen Wesen? Wir sollten den Teufel anflehen, nicht Gott. Verstehen Sie mich nicht falsch; ich will Ihnen nicht vorschreiben, wohin Sie Ihre Bittgesuche zu richten haben. Ich weise nur auf deren Unlogik hin – und mache vielleicht eine Andeutung über die Ursache hinter der merkwürdigen Wirkungslosigkeit des Gebets.‹«
Kendall machte eine Pause, um sich verärgert das Gesicht abzuwischen, und sagte: »Nun ja, ich nehme an, Sie können sich denken, was er als Nächstes getan hat.«
»Er injizierte Ihnen Tipota«, tippte mein Herr. »Und binnen Sekunden verloren Sie das Bewusstsein. Als Sie erwachten, war Kearns fort.«
Unser gepeinigter Gast nickte. »Und an seiner statt das Paket.«
»Und Sie machten sich geradewegs auf, die Überfahrt nach Amerika zu buchen.«
»Ich dachte natürlich darüber nach, zur Polizei zu gehen …«
»Aber Sie bezweifelten, dass man solch einer extravaganten Geschichte Glauben schenken würde.«
»Oder in einem Krankenhaus Hilfe zu suchen …«
»Und zu riskieren, dass man dort das Gegenmittel für ein so seltenes Toxin nicht kennen würde.«
»Mir blieb keine Wahl, als zu tun, was er von mir verlangte, und zu hoffen, dass er die Wahrheit gesagt hatte, was anscheinend der Fall war, denn ich fühle mich wieder ganz wie der Alte. Oh, ich kann Ihnen nicht sagen, welche Qualen die letzten acht Tage waren, Dr. Warthrop! Was, wenn Sie nicht da gewesen wären? Was, wenn diese zwei Stunden Verzögerung in New York zwei Stunden zu viel gewesen wären? Was, wenn er sich geirrt und Sie das Gegengift nicht gekannt hätten?«
»Nun, ich war; sie waren nicht; und ich habe. Und da sind Sie, gesund und munter und nur ein bisschen mitgenommen!« Rasch wandte sich der Doktor an mich und sagte: »Will Henry, bleibe bei unserem Gast, während ich einen Blick auf diese ›Kleinigkeit‹ von Dr. Kearns werfe. Vielleicht ist Mr Kendall nach den erlittenen Strapazen hungrig; kümmere dich darum, Will. Wenn Sie mich entschuldigen, Mr Kendall – John hat erwähnt, dass eine Verzögerung mich das ganze Spiel kosten könnte.«
Mit diesen Worten floh der Monstrumologe aus dem Zimmer. Ich hörte, wie er schnellen Schrittes durch die Diele eilte, das Knarren der Tür zum Kellergeschoss und dann den Donner seines Abstiegs ins Laboratorium. Ein betretenes Schweigen senkte sich über den Raum. Ich fühlte mich etwas verlegen wegen des Doktors jähen und unhöflichen Weggangs. Warthrop war nie jemand gewesen, der die strenge Etikette feiner viktorianischer Gesellschaft beachtete.
»Möchten Sie gern etwas essen, Mr Kendall?«, fragte ich.
Mit geröteten Wangen holte Kendall tief Luft und sagte: »Ich habe mich gerade quer über den ganzen Atlantischen Ozean gekotzt und geschissen. Nein, ich möchte nicht gern etwas essen.«
»Noch eine Tasse Tee?«
»Tee! Ach du lieber Gott!«
So saßen wir ein paar Momente nur mit dem Ticken der Kaminuhr als Gesellschaft, bis er schließlich einnickte, denn wer wusste schon, wie lange es her war, seit er zum letzten Mal geschlafen hatte? Ich versuchte – und schaffte es nicht –, mir das unvorstellbare Entsetzen vorzustellen, das er empfunden haben musste, während er wusste, dass er sich mit jedem Ticken der Uhr der letzten Tür näherte, jener Eingangstür in die Vergessenheit, die sich nur in eine Richtung öffnet, dass jede Verzögerung riskant, jeder verlorene Moment gefährlich war. Schätzte er sich glücklich – oder hielt er es für mehr als Glück?
Und dann kam mir der Gedanke, dass er Kearns die Antwort auf dessen Frage schuldig geblieben war: Zu wem sollten wir beten? Schaudernd fragte ich mich, zu wem er wohl gebetet hatte – und wer genau ihn erhört hatte.