Achtundzwanzig

»Das Problem mit Venedig«

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Der Doktor war nicht erfreut, dass seine große Suche nach dem höchsten Preis in der Monstrumologie durch einen sechsstündigen Aufenthalt in Venedig verzögert werden würde – ungeachtet der Tatsache, dass es sich um Venezia handelte, La Serenissima, die Königin der Adria, eine der schönsten – wenn nicht die schönste – Städte auf Erden.

Wir kamen gegen drei Uhr nachmittags an einem warmen, strahlenden Spätfrühlingstag an; die nach Westen ziehende Sonne verwandelte die Kanäle in Bänder aus Gold, und die Gebäude, die die östlichen Ufer säumten, glänzten wie Juwelen. Die lieblichen Serenaden der Gondolieri hüpften aus ihren Booten und tanzten fröhlich hinter uns her, entlang jedes engen Sträßchens und jeder schmalen Gasse, und goldenes Licht sammelte sich in den Torbögen der kleinen Läden und Restaurants und auf den schmiedeeisern umkränzten Balkonen, die aufs Wasser hinausblickten.

Ah, Venedig! Du lehnst dich zurück wie eine schöne Frau in den Armen des Geliebten, bloßarmig und sorgenfrei, das schlagende Herz erfüllt von reinem Licht. Ich wünschte, wir hätten sechzig Mal sechs Stunden geschmiegt an deinen taubenetzten Busen verweilen können! Ein Knabe wandert in einem trockenen Land aus Staub und Knochen, aus ausgebleichten, geborstenen Felsen und im Mahlen des Windes in wasserloser Jahreszeit umher. Die Wehklage der ausgedörrten Erde, die Qual der Knochen und des Staubes und der geborstenen Felsen, an denen der heiße Wind nagte; dies war sein Zuhause, dies sein Erbbesitz … Und dann dreht der Knabe sich um. Er dreht sich um und erblickt Venedig, das singt in goldenem Lichte, und er ist hingerissen, denn seine Anmut ist umso herzzerreißender angesichts dessen, was er geerbt hat.

Der Monstrumologe schien jeden Seitenweg und jeden kleinen Kanal dieser schwimmenden Stadt zu kennen, mit jedem winzigen Geschäft und jedem Straßencafé vertraut zu sein. »Ich habe während meiner europäischen Phase ein oder zwei Sommer hier verbracht«, so drückte er sich aus. Vielleicht kehrte er zu seinen Tagen als aufstrebender Dichter zurück; es klang wie etwas, was ein Künstler von sich selbst sagen mochte: »meine europäische Phase«. In einem Café an der Piazzetta di San Marco in der Nähe der Lagune nahmen wir ein frühes Abendessen zu uns, eine willkommene Atempause, nachdem wir zwei Stunden ohne klare – wenigstens kam es mir so vor – Absicht oder Bestimmung im Sinn durch die Stadt gewandert waren. Der Doktor bestellte sich einen caffè und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um die milde Luft zu genießen und die schönen Frauen, die es so reichlich in Venedig zu geben schien und deren sorgloses Lachen zwischen der Libreria und der Zecca widerhallte wie das Wasser, das im Brunnen der Piazza sprudelte.

Er nippte an seinem Espresso und gestattete seinem Auge, verträumt über die gefällige Landschaft zu schweifen, und sein Blick war so träge wie die Wasser des Canalasso.

»Das ist das Problem mit Venedig«, sagte er. »Sobald man es einmal gesehen hat, kommt einem jeder andere Ort im Vergleich trüb und langweilig vor, sodass man ständig daran erinnert wird, wo man nicht ist.«

Sein Blick wurde von zwei hübschen jungen Damen angezogen, die Arm in Arm am Molo entlangspazierten, wo die Sonne funkelte und goldene Lichtblitze aufs blaue Wasser sprühte. »Dasselbe trifft auf so ungefähr alles andere Venezianische zu.«

Nachdenklich strich er sich über den neuen Backenbart. »Auch auf die Monstrumologie. Auf eine andere Weise. Du warst lange genug bei mir, Will Henry; du weißt bestimmt, was ich meine. Würde das Leben ohne sie nicht … nun ja, langweilig scheinen? Ich sage nicht, dass sie immer erfreulich oder auch nur angenehm für dich war, aber kannst du dir vorstellen, wie stumpfsinnig und unendlich grau das Leben wäre, wenn du sie aufgeben müsstest?«

»Ich habe es mir schon vorgestellt, Sir.«

Er blickte mich aufmerksam an. »Und?«

»Ich war … Ich hatte die Gelegenheit, zu …« Ich konnte ihn nicht ansehen. »Ich wohnte bei Dr. von Helrungs Nichte, während Sie weg waren – Mrs Bates –, und sie bot mir an, mich zu adoptieren …«

»Dich adoptieren!« Er wirkte höchst erstaunt. »Wozu?«

Mein Gesicht fühlte sich warm an. »Zu meinem Besten, denke ich.«

Er schnaubte verächtlich, sah meine verletzte Miene, stellte die Tasse ab und sagte: »Und du hast nein gesagt.«

»Mein Platz ist bei Ihnen, Dr. Warthrop.«

Er nickte. Was hatte dieses Nicken zu bedeuten? Stimmte er mir zu, dass mein Platz bei ihm war? Oder pflichtete er bloß meiner Entscheidung bei, ungeachtet seiner eigenen Meinung? Er sagte es nicht, und ich traute mich nicht zu fragen.

»Weißt du, ich war da«, sagte er. »In der Nacht, als du geboren wurdest. Deine Mutter wohnte vorübergehend in einem unserer Gästezimmer – eine Frage der Bequemlichkeit. Meiner Bequemlichkeit, meine ich. Ich hatte gerade ein frisches Exemplar bekommen und brauchte die Unterstützung deines Vaters bei der Sektion. Wir waren im Keller, als deine Mutter die Wehen bekam, deshalb hörten wir ihre Schreie erst, als wir einige Stunden später hochkamen. James stürmte nach oben, kam wieder herunter und zerrte mich dann an ihr Bett.«

Ich starrte ihn ungläubig an. »Ich bin in der Harrington Lane geboren worden?«

»Ja. Deine Eltern haben es dir nie erzählt?«

Ich schüttelte den Kopf. Das war nichts, wonach ich sie gefragt hätte. »Und Sie haben mich auf die Welt geholt?«

»Habe ich das gesagt? Was habe ich gerade gesagt? Ich habe gesagt, ich wurde von deinem aufgeregten Vater an dein Bett gezerrt. Meiner Erinnerung nach waren die Worte deiner Mutter: ›Lass diesen Mann nicht in meine Nähe kommen!‹« Er kicherte. »Ich hatte den Eindruck, deine Mutter mochte mich nicht besonders.«

»Sie hat Vater gesagt, Ihre Arbeit würde ihn eines Tages umbringen.«

»Tatsächlich? Hm. Eine vorausahnende Bemerkung, auch wenn die Vorhersage auf indirekte Weise wahr wurde.« Er fuhr sich über die Barthaare am Kinn und betrachtete die Statue des heiligen Theodors mit dem getöteten Drachen oben auf der Granitsäule ganz in der Nähe.

»Haben Sie es getan, Dr. Warthrop?«

»Habe ich was getan?«

»Mich auf die Welt geholt.«

»Ich bin keine Hebamme, Will Henry. Und Arzt bin ich auch nicht. Ich weiß, wie man Lebewesen tötet, Lebewesen aufschneidet, Lebewesen konserviert. Wie kommst du auf den Gedanken, das würde mich qualifizieren, Leben in die Welt zu bringen?« Er sah mich dabei allerdings nicht an, und ich fand es sehr schwer, ihn anzusehen. Er schlug die Beine übereinander und legte die Hände aufs angehobene Knie, die feingliedrigen Finger verschränkt. Waren das die ersten Hände, die mich gehalten hatten? Waren das die Augen, die mich zuerst erblickten, und die Augen, die ich zuerst erblickte? Aus Gründen, die ich nicht in Worte fassen konnte, war dies ein schwindelerregender Gedanke.

»Wieso haben Sie es mir nicht gesagt?«, fragte ich.

»Es gehört nicht zu den Dingen, die in einer Unterhaltung auf natürliche Weise zur Sprache kommen«, antwortete er. »Wieso die betroffene Miene, Will Henry? Ich bin auch in diesem Haus zur Welt gekommen. Das bringt – soweit ich weiß – nicht gleich das Kainsmal mit sich.«

* * *

Wir verweilten bis Sonnenuntergang auf der piazzetta. Der Doktor trank vier Espressos, den letzten in einem einzigen Schluck, und als er aufstand, schien sein ganzer Körper in den Kleidern zu vibrieren. Ohne einen Blick zurück ging er davon und überließ es mir, nach besten Kräften in der wachsenden Menge Schritt zu halten, vorbei an der prächtigen Basilica di San Marco, dann einbiegen auf die Piazzetta dei Leoncini. Dort verlor ich ihn im Gedränge, dann erblickte ich ihn wieder, als er den Platz verließ und mit großen Schritten durch die Calle de Canonica auf den Kanal zuging.

Vor einem offenen Eingang blieb er abrupt stehen und verharrte absolut regungslos, ein bemerkenswertes Bild: nach der Heftigkeit der Bewegung jetzt so unbewegt wie eine Statue in der samtenen Abenddämmerung. Ich hörte ihn murmeln: »Ich frage mich, ob … Wie lange ist es her?« Er sah auf seine Uhr, ließ sie zuklappen und bedeutete mir, ihm ins Innere zu folgen.

Wir betraten einen schwach erleuchteten Raum mit niedriger Decke, der vollgestopft mit Holztischen war, die meisten davon unbesetzt, und in dessen rückwärtigem Teil sich eine kleine Bühne befand. Die Plattform war leer bis auf ein altes Klavier, das an die Wand geschoben war. Der Doktor setzte sich an einen Tisch dicht bei der Bühne, unter ein Tanzcaféplakat, das es irgendwie schaffte, sich am bröckelnden Gips der Wand festzuhalten. Ein bassetgesichtiger Mann mittleren Alters, der eine fleckige Schürze trug, fragte uns, was wir trinken wollten. Warthrop bestellte noch einen caffè, seinen fünften, woraufhin der cameriere entgegnete: »Kein caffè. Wein. Wein oder spritz.« Der Monstrumologe seufzte und bestellte einen spritz. Er sollte unberührt stehen bleiben; Warthrop trank keinen Alkohol. Er fragte unseren Kellner mit dem traurigen Gesicht, ob jemand namens Veronica Soranzo noch in dem Klub sänge. »Sì. Sie singt«, sagte er und verschwand durch den Eingang rechts von der Bühne.

Der Doktor machte es sich auf seinem Stuhl bequem und lehnte den Kopf an die Wand. Er schloss die Augen.

»Dr. Warthrop?«

»Ja, Will Henry.«

»Sollten wir jetzt nicht wieder zum Bahnhof zurückgehen?«

»Ich warte.«

»Sie warten?«

»Auf eine alte Bekannte. Eigentlich auf drei alte Bekannte.«

Er öffnete ein Auge, schloss es wieder. »Und der erste ist gerade gekommen.«

Ich drehte mich auf meinem Stuhl um und sah einen ungeschlachten Mann mit Hängeschultern den Eingang ausfüllen. Er trug einen zerknitterten Mantel, der viel zu schwer für das milde Wetter war, und einen ramponierten Filzhut. Es waren nicht seine Haare – der Hut verbarg die meisten davon –, sondern seine Augen, an denen ich ihn erkannte. Ich atmete scharf ein und blinzelte, und er war verschwunden.

»Rurick!«, flüsterte ich. »Er ist uns hierher gefolgt?«

»Er folgt uns schon, seit wir das Bahnhofsgebäude verlassen haben. Er und sein haarloser Kollege, der kleine Gospodin Plešec, haben mit uns ganz Venedig durchwandert; sie saßen heute Nachmittag auf den Stufen der Basilica di San Marco, während wir unsere Getränke in der piazzetta genossen.«

»Was sollen wir tun?«

Seine Augen blieben geschlossen, sein Gesichtsausdruck gelassen. Er war völlig sorgenfrei. »Nichts.«

Was war los mit ihm? Rurick ist ein richtiger Unmensch, ein verdammtes, seelenloses Raubtier, hatte Arkwright gesagt. Warthrop musste denken, dass wir in diesem erbärmlichen Schuppen sicher waren, aber wir konnten nicht ewig hier sitzen bleiben.

»Das wären zwei alte Bekannte«, sagte der Doktor. »Rurick ist vorn, also muss Plešec die Rückseite im Auge behalten.« Er machte die Augen auf und setzte sich gerade hin. Kleine Gipsstücke von der zerbröckelnden Wand regneten hinter seinem Stuhl auf den Boden.

»Und da kommt Nummer drei!« Er beugte sich vor und stützte sich mit den Unterarmen auf den Knien ab. Seine Augen schimmerten im zittrigen Flackern der Gasflammen.

Ein Mann in zerknittertem weißem Hemd und schwarzer Weste tauchte im Eingang neben der Bühne auf, neigte sich in der Taille ein wenig dem spärlichen Publikum zu und setzte sich ans Klavier. Er hob die Hände hoch über die Tasten, ließ sie einen dramatischen Moment lang dort schweben, dann krachend herunterfallen und eine übermütige Wiedergabe von »A Wandring Minstrel I« aus Der Mikado anstimmen. Das Instrument war schlimm verstimmt und die Technik des Mannes fürchterlich, aber er war ein ausgesprochen körperbetonter Musiker, der selbigen in seiner Gesamtheit in seine Bemühungen einbrachte. Die Pobacken hüpften auf dem wackligen Schemel rhythmisch auf und ab, während er im Takt vor und zurück schwankte, ein menschliches Metronom, ein Mann, der sein Klavier spielte, als würde er von ihm gespielt.

Urplötzlich, ohne jede Überleitung, wechselte er zu Violettas Arie aus La Traviata, und eine Frau in einem verblassten roten Abendkleid erschien im Eingang, deren lange dunkle Haare ungehindert über die nackten Schultern wallten. Ihr Gesicht war dick geschminkt; dennoch war sie eine bemerkenswerte Frau am Scheitelpunkt ihrer Lebensmitte, wie ich schätzte, mit funkelnden schokoladebraunen Augen, die, wie die so vieler italienischer Frauen, von Verheißung ebenso wie von Gefahr kündeten. Ich kann nicht behaupten, dass ihre Stimme sich auf das Niveau ihres Aussehens emporschwang; genau genommen war sie nicht einmal besonders gut.

Ich warf einen verstohlenen Blick auf den Monstrumologen, der im Zustand völliger Verzückung lauschte. Ich fragte mich, was ihn wohl so bezauberte; ihr Gesang konnte es nicht gewesen sein.

Am Ende des Lieds schlug er auf den Tisch und rief: »Bravo! Bravissimo!«, während die anderen Gäste höflich klatschten und sich dann wieder still ihren Flaschen widmeten. Die Frau sprang leichtfüßig von der Bühne und rauschte geradewegs auf uns zu.

»Pellinore! Lieber, lieber Pellinore!« Sie küsste ihn leicht auf beide Wangen. »Ciao, amore mio. Mi sei mancato tanto.« Sie ließ die Hand über seine bärtige Wange gleiten und fügte hinzu: »Aber was ist das?«

»Gefällt er dir nicht? Ich finde, er lässt mich distinguiert aussehen. Veronica, das ist Will Henry, James’ Sohn und meine jüngste acquisizione

»Acquisizione!« Ihre braunen Augen tanzten vor Entzücken. »Ciao, Will Henry, come sta? Ich habe deinen Vater gut gekannt. È molto triste. Molto triste! Aber, Pellinore, perché sei qui a Venezia? Lavoro o piacere?«, fragte sie und ließ sich auf den Stuhl neben ihm gleiten. In diesem Moment kam unser Kellner mit dem spritz des Doktors zurück. Veronica schnippte ihm mit den Fingern zu, und er ging und kehrte Augenblicke später mit einem Glas Wein wieder.

»Es ist immer wieder ein Vergnügen, in Venedig zu sein«, antwortete der Monstrumologe. Er hob sein Glas, um ihr zuzuprosten, trank jedoch nichts.

Sir richtete diese lachenden Augen erneut auf mich und sagte: »Das Aussehen eines farabutto, die Worte eines politico

»Veronica sagt, sie mag meinen neuen Backenbart«, sagte der Doktor als Antwort auf meinen ratlosen Blick.

»Er lässt dich alt und müde aussehen«, meinte sie naserümpfend.

»Vielleicht ist es nicht der Bart«, erwiderte Warthrop. »Vielleicht bin ich alt und müde.«

»Müde, sì. Alt, niemals! Du bist keinen Tag gealtert, nicht eine Stunde, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Wie lange ist es jetzt her? Drei Jahre?«

»Sechs«, antwortete er.

»Nein! Schon so lange? Dann ist es ja kein Wunder, dass ich so einsam gewesen bin!« Sie wandte sich an mich. »Du wirst es mir verraten, ja? Was führt den großen Pellinore Warthrop den weiten Weg nach Venedig? Er steckt in Schwierigkeiten, stimmt’s?« Und dann zum Doktor: »Wer ist es diesmal, Pellinore? Die Deutschen?«

»Eigentlich sind es die Russen.«

Sie starrte ihn einen Moment lang ungläubig an, bevor sie sich in Lachen auflöste.

»Und die Briten«, ergänzte Warthrop, indem er leicht die Stimme hob. »Allerdings ist es mir gelungen, die abzuwimmeln, für eine Weile jedenfalls.«

»Sidorov?«, fragte sie.

Er zuckte mit der Achsel. »Vermutlich steckt er irgendwie mit drin.«

»Dann ist es also geschäftlich. Du bist nicht gekommen, um mich zu sehen!«

»Signorina Soranzo, wie könnte ich den ganzen Weg hierherkommen und dich nicht sehen? Für mich bist du Venedig.«

Ihre Augen verengten sich; das Kompliment kam nicht gut an.

»Ich nehme an, man könnte schon sagen, dass ich ein wenig in Schwierigkeiten stecke«, fuhr er hastig fort. »Das Problem ist zwiegestalt. Der erste Teil meines Problems ist sehr groß, schwer bewaffnet und lungert draußen auf der Calle de Canonica herum. Der zweite Teil ist, denke ich, in der Gasse hinter uns. Er ist nicht so groß, trägt aber ein Messer. Mein Problem wird durch die Tatsache verschlimmert, dass mein Zug fahrplanmäßig in einer Stunde geht.«

»Und?«, fragte sie. »Perché pensi di avere un problema? Bring sie um.« Sie sagte es beiläufig, als gäbe sie ihm eine Empfehlung, wie man Kopfschmerzen behandelt.

»Ich fürchte, das würde mein Problem noch weiter verschlimmern. Meine Aufgabe ist so schon schwierig genug, auch wenn ich nicht noch obendrein zum Flüchtling werde.«

Sie schlug ihm auf die Wange. Er blieb ganz still sitzen; er achtete peinlich darauf, nicht wegzusehen.

»Bastardo!« sagte sie. »Als ich hinausgehe und dich dort sitzen sehe, mein Herz, es … Sono stupido, ich hätte es wissen müssen. Sechs Jahre lang sehe ich dich nicht. Ich bekomme keinen einzigen Brief. Bis ich denke, du musst tot sein. Wieso sonst solltest du nicht kommen? Wieso sonst solltest du nicht schreiben? Du bist in der Branche des Todes, denke ich; du musst tot sein!«

»Ich habe nie vorgegeben, etwas zu sein, was ich nicht bin«, erwiderte der Monstrumologe steif. »Ich war völlig ehrlich zu dir, Veronica.«

»Du schleichst dich aus Venedig, ohne auch nur Lebewohl zu sagen, keine Mitteilung, kein gar nichts, wie ein Dieb in der Nacht. Das nennst du ehrlich?« Sie reckte das Kinn. »Sei un cardado, Pellinore Warthrop. Du bist kein Mann; du bist ein Feigling.«

»Frag Will Henry. Auf diese Weise sage ich immer Lebewohl.«

»Ich bin verheiratet«, sagte sie plötzlich. »Mit Bartolomeo.«

»Wer ist Bartolomeo?«

»Der Klavierspieler.«

Der Doktor konnte sich nicht entschließen, ob er erleichtert oder verletzt sein sollte. »Wirklich? Nun ja, er wirkt sehr … bestimmt.«

»Er ist hier!«, fuhr sie ihn an.

»So wie ich. Womit wir wieder bei meinem Problem wären.«

»Genau! Il problema. Ich wünsche dem Russen mit dem Messer Glück, damit er dein Herz findet!«

Mit einer dramatischen Bewegung wirbelte sie von ihrem Stuhl hoch, sodass sie ihm ermöglichte, sie am Handgelenk zu erwischen, bevor sie entkommen konnte. Er zog sie dicht an sich heran und flüsterte ihr eindringlich ins Ohr. Sie hörte mit geneigtem Kopf zu, während ihr Blick auf den Boden geheftet war. Ihr Herz war offensichtlich hin und her gerissen. Sind sie erst einmal in die warthropsche Umlaufbahn gezogen worden, finden es selbst die stärksten Herzen – und Frauen besitzen die stärksten von allen – schwer, wieder daraus auszubrechen. Sie hasste und sie liebte ihn, sehnte sich nach ihm und verabscheute ihn und verfluchte sich dafür, überhaupt etwas zu empfinden. Ihre Liebe verlangte, dass sie ihn rettete, ihr Hass, dass sie ihn vernichtete.

Der grausamste Aspekt der Liebe, hatte der Monstrumologe gesagt, ist ihre unantastbare Loyalität.

* * *

Veronica und Bartolomeo wohnten direkt über dem Nachtklub in einer beengten, spärlich möblierten Bleibe, die sie mit frischen Blumen und bunten Plaids und Kunstdruckplakaten aufzuhellen versucht hatte. Nach vorne zu gab es einen kleinen Balkon, der die Calle de Canonica überblickte. Die Balkontüren standen offen, als wir hineinkamen; die weißen Vorhänge bauschten sich im milden Wind, und ich konnte die Geräusche des venezianischen Straßenlebens von unten hören.

Bartolomeo gesellte sich zu uns; die Vorderseite seines Hemds war schweißgetränkt, und seine Augen hatten jenen fahrigen, jenseitigen Blick, der Künstlern und Wahnsinnigen allgemein ist. Er umarmte Warthrop, als wäre er ein lange verschollener Freund, und fragte ihn, wie ihm sein Spiel gefallen habe. Der Doktor entgegnete, dass ein Musiker seines Formats ein besseres Instrument verdiente, und Bartolomeo schlang die Arme um ihn und küsste ihn rührselig auf die Wange.

Der Monstrumologe erläuterte unsere missliche Lage und seine Idee, sie zu überwinden. Bartolomeo nahm den Plan mit der gleichen Begeisterung an, die er gerade noch dem Doktor angedeihen lassen hatte, machte sich jedoch Sorgen, dass ihre unterschiedliche Größe ein Problem darstellen könnte.

»Wir werden das Licht hier drin ausmachen«, sagte Warthrop. »Und Veronica wird sich zwischen Ihnen und der Straße positionieren. Der Mummenschanz wird nicht perfekt sein, dürfte uns aber die Zeit verschaffen, die wir brauchen.«

Der Doktor zog sich ins Schlafzimmer zurück, um sich zu entkleiden; Bartolomeo zog sich direkt aus, wo er stand, und lächelte dabei die ganze Zeit, amüsiert womöglich über meine Verwunderung ob seines entschieden unviktorianischen Mangels an Sittsamkeit.

Die Schlafzimmertür öffnete sich, und Veronica erschien mit den Kleidern des Doktors, lärmte auf Italienisch auf ihren Ehemann ein, ging ins Schlafzimmer zurück und knallte die Tür zu. »La signora è una tigre, ma lei è la mia tigre.« Die Kleider des Monstrumologen waren ihm zu groß – Bartolomeo war kein hochgewachsener Mann –, aber von der Straße aus, bei Nacht, bei matter Beleuchtung … Ich betete, dass der Doktor recht hatte.

Nach einigen weiteren Minuten öffnete sich die Schlafzimmertür erneut und Veronica kam heraus, gefolgt von einer anderen Frau – oder wenigstens einem frauenartigen Wesen, das Ähnlichkeit mit etwas aufwies, was in Mr P. T. Barnums Nebenvorstellung hätte unterkommen können und dasselbe verblasste rote Kleid trug, das nur wenige Momente zuvor noch die deutlich kurvenreichere Gestalt von Veronica Soranzo geschmückt hatte. Bei dieser grotesken Verspottung alles Weiblichen, von der hastig aufgetragenen Schminke bis hin zu den nackten Fersen des Doktors, die hinten über die Schuhe seiner Frau hinaushingen, brach Bartolomeo in schallendes Gelächter aus.

»Die Dame braucht, denke ich, eine Rasur«, hänselte er ihn.

»Dafür ist keine Zeit«, erwiderte Warthrop ernst. »Ich werde einen Hut brauchen.«

»Etwas mit Gold«, schlug Bartolomeo vor. »Um die Farbe Ihrer Augen zur Geltung zu bringen.«

Er hielt dem Doktor den Revolver hin, den er in der Jackentasche gefunden hatte.

»Geben Sie ihn Will Henry; ich habe keinen Platz dafür.«

»Wenn Sie eine kleinere Waffe trügen, könnten Sie sie in Ihr Strumpfband stecken.«

»Dein Mann gefällt mir«, sagte der Monstrumologe zu Veronica, während sie ihm einen breitkrempigen Hut auf den Kopf drückte.

»Er ist ein Idiot«, sagte sie, und Bartolomeo lachte. »Siehst du? Ich beleidige ihn, und er lacht.«

»Das macht einen guten Ehemann aus«, sagte Bartolomeo.

Veronica zischte etwas im Flüsterton, packte ihren Mann am Handgelenk und zerrte ihn zum Balkon.

»Du sagst nichts, verstanden? Du stehst an der Tür und senkst den Kopf und überlässt mir das Reden.«

»Ich dachte, du hättest gesagt, es würde Schauspielerei beinhalten.«

Sie spähte durch die Vorhänge nach unten auf die Straße. »Ich sehe diesen Mann nicht, den du beschreibst, Pellinore.«

»Er ist da«, versicherte Warthrop ihr, während er seinen Hut im Spiegel zurechtrückte.

Sie machte Anstalten hinauszugehen, blieb stehen, machte kehrt und ließ dann ihren Mann in seinen schlotterigen Kleidern, den Monstrumologen en miniature, stehen und kehrte an die Seite des Doktors zurück.

»Ich werde dich nie wiedersehen«, sagte sie.

»Das können wir nicht wissen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Non si capisce. Du bist ein Idiot wie er. Alle Männer sind Idioten. Ich sage, ich werde dich nie wiedersehen. Komm nie wieder her! Dank dir werde ich jedes Mal, wenn ich meinen Mann sehe, den Mann sehen, der er nicht ist.«

Sie küsste ihn: die Liebe. Dann schlug sie ihn: der Hass. Bartolomeo beobachtete alles lächelnd. Was kümmerte es ihn? Warthrop mochte ihr Herz haben, aber er, Bartolomeo, hatte sie.

Sie gingen auf den Balkon. Ihre Stimme, die geübt darin war, über weite, freie Flächen zu tragen, ertönte und sagte: »Wie kannst du es wagen, jetzt hierher zurückzukommen, nach all den Jahren! Ich bin inzwischen verheiratet, mit Bartolomeo. Ich kann nicht fortgehen, Pellinore. Ich kann nicht fortgehen! Was ist das? Was sagst du da, Pellinore Warthrop? Amore! Du sprichst von Liebe?« Sie lachte gefühllos. »Ich werde dich niemals lieben, Pellinore Warthrop! Ich werde nie wieder einen andern Mann lieben!«

»Nun, Will Henry.« Mein Herr-mit-Herrin seufzte. »ich glaube, das reicht; wir sollten besser gehen.«

* * *

Wir verließen das Haus durch die Vordertür, Warthrops Hand schützend auf meiner Schulter, eine (sehr große und zu fein angezogene) Gouvernante mit ihrem Schützling, und bewegten uns so schnell, wie der wackelige Gang des Doktors es zulassen wollte, die Calle de Canonica hinunter auf den Kanal zu. Der Doktor hielt den Kopf gesenkt, aber ich konnte nicht widerstehen und hielt mit verstohlenen Blicken Ausschau nach dem russischen Meuchelmörder. Ich entdeckte ihn in einem Bogengang auf der anderen Seite der Straße, wo er herumlungerte und so tat, als würde er Veronicas Vorstellung oben auf dem Balkon nicht zuhören. Ihre Schauspielkunst war nur wenig besser als ihr Gesang; dennoch schien sie ihren Zweck zu erfüllen: Rurick verließ seinen Posten nicht.

Unbehelligt erreichten wir den Rio di Palazzo und gingen an Bord einer Gondel, deren Führer ein Muster an Diskretion war. Er machte weder irgendeine Bemerkung, noch reagierte er auf sonst eine erkennbare Weise auf diese ausgesprochen hässliche Frau – oder diesen sehr seltsamen Mann –, der in sein Fahrzeug stieg. Er fragte sogar mit vollkommen ernster Miene, ob seine Passagiere gerne ein Lied hören möchten.

Die Geräusche der Straße verklangen. Das dunkle Wasser glitzerte wie das sternenüberzogene Firmament, als wir, ohne mehr als ein flüsterndes Kräuseln auf seiner glatten Oberfläche hervorzurufen, unter einer Kalksteinbrücke durchfuhren, die elfenbeinfarben im Licht der Mondsichel glänzte.

»Die Ponte dei Sospiri«, sagte der Monstrumologe mit leiser Stimme. »Die Seufzerbrücke. Siehst du die Gitter vor den Fenstern, Will Henry? Durch sie erhaschten Gefangene ihren letzten Blick auf die Schönheit Venedigs. Man sagt, dass Liebende gesegnet werden, wenn sie sich unter der Seufzerbrücke küssen.«

»Sì, signor – signorina … sì. So heißt es«, bestätigte unser leicht verwirrter Gondoliere.

»Vielleicht habe ich sie hier geküsst«, sagte Pellinore Warthrop zu sich selbst – dem Flüchtling, dem Gefangenen. »Ich erinnere mich nicht mehr.«