Vier

»Es ist menschlich, sich umzudrehen«

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Nach einer weiteren halben Stunde war es vollbracht. Wymond Kendall lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf einer nackten Matratze, ausgezogen bis auf die Unterwäsche, mit Hand- und Fußgelenken an die vier Pfosten gefesselt, und neben ihm war der Monstrumologe, der sich entschieden hatte, mit einer weiteren Gabe Morphium noch zu warten, auch wenn er die Spritze stets in Reichweite hatte – für den Fall, gab er zu, dass sein Vertrauen in die Rechtschaffenheit unserer Spezies falsch angebracht war.

Kendall stöhnte tief im Rachen. Dann gingen seine Augen flatternd auf. Warthrop erhob sich aus seinem Sessel und ließ die Hand beiläufig in die Jackentasche gleiten, wo ich ihn den Revolver hinstecken sehen hatte. Er schenkte der desorientierten Seele das, was ich das warthropsche Lächeln nenne – dünnlippig, unbeholfen; mehr Grimasse als Grinsen.

»Wie fühlen Sie sich, Mr Kendall?«

»Mir ist kalt.«

Er versuchte sich aufzusetzen. Dass er es nicht konnte, dämmerte ihm langsam, und die Erkenntnis zeigte sich in seiner Miene, die beinah komisch war in ihrer Gletscherwanderung von Schrecken zu unvermischtem Entsetzen. Er zerrte heftig an den Seilen. Die Bettpfosten knarrten. Der Rahmen bebte.

»Was hat das zu bedeuten, Warthrop? Lassen Sie mich frei! Lassen Sie mich sofort frei!«

Es war zu viel für den armen Mann. Binnen weniger als vierzehn Tagen fand er sich in derselben Lage wieder, in der er sich zu Beginn dieses seltsamen und unerwarteten Albtraums befunden hatte. Es musste ihm vorkommen, als sei er einem Wahnsinnigen entkommen, nur um von einem anderen gefangen genommen zu werden.

»Ich habe nicht die Absicht, Ihnen Schaden zuzufügen«, versuchte mein Herr ihn zu beruhigen. »Was ich getan habe, dient Ihrem eigenen Schutz – ebenso wie dem meinigen. Ich werde Sie gerne freilassen, wenn ich davon überzeugt bin, dass keiner von uns in Gefahr ist.«

»Gefahr?«, quiekste das von panischem Schrecken erfasste Opfer. »Aber Sie haben mir doch das Gegenmittel gegeben!«

»Mr Kendall, es gibt kein Gegenmittel für die Gefahr, von der ich spreche. Sie müssen mir jetzt die Wahrheit sagen. Auch wenn alle Menschen lügen, und die meisten Menschen mehr, als sie sollten oder auch nur müssen … Die Wahrheit in diesem besonderen Fall könnte für Sie buchstäblich befreiend sein.«

»Wovon reden Sie? Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt; ich habe Ihnen alles genau so erzählt, wie ich mich daran erinnere. Gütiger Gott, wie könnte ich eine solche Geschichte erfinden?«

Speichel flog von seinen Lippen. Warthrop trat einen Schritt zurück, hielt stumm die Hand hoch und wartete, bis der Mann sich beruhigt hatte, ehe er fortfuhr.

»Ich bezichtige Sie nicht einer falschen Einlassung, Kendall; ich bezichtige Sie der Auslassung. Sagen Sie mir die Wahrheit: Haben Sie es angefasst?«

»Es angefasst? Was angefasst? Was habe ich angefasst? Ich habe gar nichts angefasst!«

»Er hat Ihnen gesagt, Sie sollen es nicht anfassen. Ich bin sicher, das hat er. Er konnte es sich nicht erlauben, dass sein Kurier es berührte, und damit das Risiko seines Verlusts oder seiner Zerstörung eingehen. Er muss Ihnen eingeschärft haben, es nicht anzufassen.«

»Reden Sie von dem Paket? Sie glauben, ich hätte es aufgemacht? Warum hätte ich es aufmachen sollen?«

»Sie konnten es nicht ertragen. Das Nichtwissen. Wieso sollte Kearns so bizarre Maßnahmen ergreifen, um mir dieses Paket zu schicken? Was war darin, was so wertvoll war, dass er lieber einen Mord begehen würde als seine Zustellung zu riskieren? Sie hatten schreckliche Angst; Sie wollten es nicht öffnen, aber Sie mussten es öffnen. Ihr Verlangen ist verständlich, Mr Kendall. Es ist menschlich, sich umzudrehen, um Medusa ins Antlitz zu blicken, sich an den Großmast fesseln zu lassen, um das Lied der Sirenen zu hören, zurückzublicken, wie Lots Frau zurückblickte. Ich bin nicht böse auf Sie, dass Sie geschaut haben. Aber geschaut haben Sie. Berührt haben Sie es.«

Kendall hatte zu weinen begonnen. Sein Kopf wackelte auf der nackten Matratze hin und her. Er verdrehte die Arme, die Beine, und ich hörte, wie das Seil an seinem Fleisch scheuerte.

Der Monstrumologe schnappte sich die Lampe aus meiner Hand und hielt sie dicht vors Gesicht des gepeinigten Mannes. Kendall schauderte zurück; sein rechter Arm zuckte, als er instinktiv versuchte, die Augen abzuschirmen.

»Sie reagieren empfindlich auf Licht, nicht wahr, Mr Kendall?«

Warthrop gab mir die Lampe wieder. Der Doktor ergriff Kendalls rechten Zeigefinger mit der behandschuhten Hand, und der Mann zuckte vor Schmerz zusammen und biss sich fest auf die Unterlippe, um das Schluchzen zu unterdrücken.

»Dies war die Hand, nicht wahr? Die Hand, die das Ding im Kasten berührt hat. Die Hand, die berührt hat, was keine Hand berühren sollte.«

Der Doktor rollte den Finger des Mannes in seiner locker geschlossenen Hand.

»Ihre Gelenke schmerzen entsetzlich, stimmt’s? Überall, aber besonders in dieser Hand. Sie haben sich gesagt, es ist die Kälte oder vielleicht das Tipota oder beides. Es ist keins von beiden.«

Er schloss die Faust um den Ansatz von Kendalls Fingern und sagte: »Sie werden taub, richtig? Die Taubheit beginnt in den Spitzen derjenigen Finger, mit denen Sie es berührt haben, aber die Taubheit breitet sich aus. Sie sagen sich, das Seil schneidet die Blutzufuhr ab, oder im Zimmer ist es sehr kalt. Es ist keins von beiden.«

Warthrop ließ seine Hand los. »Ich kann nicht mit angemessener Gewissheit sagen, wie schlimm Sie leiden werden, Mr Kendall. Soweit ich weiß, ist Ihrer der erste der Wissenschaft bekannte verifizierbare Kontakt.«

»Kontakt, sagen Sie? Kontakt womit?«

»Die Waliser nennen es Pwdre ser: Sternenfäule.«

»Sternenfäule? Was zur Hölle ist das?«

»Eine recht poetische Beschreibung einer Substanz, die weder Fäule noch von den Sternen ist«, sagte der Doktor. Seine Stimme hatte jenen unerträglich trockenen Vorlesungston angenommen, den ich schon tausendmal gehört hatte. »Eigentlich ist es Teil des Verdauungsapparats, wie unser eigener Speichel, aber anders als unser Speichel ist es hochgradig giftig.«

»Na schön! Na schön, hol Sie der Teufel, ja, ja, ich habe es berührt – ich habe es berührt! Ich habe in diesen verdammten Kasten gegriffen und es gezwickt, aber das war alles! Ich hab’s nicht rausgenommen und damit geschmust – nur eine kleine Berührung, ein winziger Stupser, um zu sehen, was es ist! Das war alles. Das war alles!«

Der Doktor nickte ernst. Sein Gesichtsausdruck war der tiefen Mitgefühls.

»Das war vermutlich genug«, meinte er.

»Wieso bin ich an dieses Bett gefesselt?«

»Das habe ich Ihnen gesagt.«

»Wieso haben Sie mir die Kleider weggenommen?«

»Damit ich Sie untersuchen kann.«

»Was ist das Ding in dem Kasten?«

»Man nennt es ein Nidus ex magnificum.«

»Wofür ist es?«

»Sein Name erklärt die Funktion.«

»Wo kommt es her?«

»Tja, das ist das Rätsel, nicht wahr, Mr Kendall? Was hat John Kearns gesagt?«

»Nichts hat er gesagt!«

»Er ist eine Schlange, da würde ich Ihnen zustimmen, aber soweit ich weiß, ist sein Sputum weder giftig noch besonders klebrig; er hat den Nidus nicht angefertigt. Hat er vielleicht rein zufällig erwähnt, wo derjenige sein könnte, der ihn angefertigt hat?«

»Nein. Nein, hat er nicht. Ich habe es Ihnen erzählt … alles, was er gesagt hat … O Gott, das Licht. Das Licht verbrennt mir die Augen.«

»Hier, ich werde dieses Tuch darüberlegen. Ist das besser?«

»Ja. Bitte binden Sie mich los.«

»Ich wünschte, ich könnte. Möchten Sie etwas zu essen?«

»O Gott, nein! Nein. Mein Magen. Tut weh.«

»Mr Kendall, ich werde Ihnen jetzt eine kleine Probe Ihres Blutes entnehmen. Ein leichter Piekser … gut. Will Henry, noch ein Fläschchen bitte. Wo ist das andere? Hast du es verloren? Ah, da ist es ja! … Langsame, tiefe Atemzüge, Mr Kendall. Möchten Sie noch eine Spritze Morphium für die Nerven?«

»Ich will, dass Sie mich von diesem verdammten Bett losmachen!«

»Will Henry, würdest du bitte das Licht ausmachen? Und schließ die Tür!« Der Doktor nahm das Tuch weg. »Mr Kendall, ich will, dass Sie die Augen öffnen. Sehen Sie mich deutlich?«

»Ja. Ja, ich kann Sie sehen.«

»Tatsächlich? Ich kann Sie nicht sehen. Es ist stockdunkel im Zimmer. Sagen Sie mir, wie viele Finger halte ich hoch?«

»Drei. Warum?«

»Man nennt es Oculi Dei, Mr Kendall. Ich weiß nicht, wer ihm diesen anschaulichen Beinamen gegeben hat.«

»Was bedeutet das?«

»Die Augen Gottes.«

»Das weiß ich selbst. Es ist mir gelungen, ein paar Brocken Latein in der Schule aufzuschnappen, Dr. Warthrop. Ich frage danach, was es bedeutet

Der Monstrumologe wusste die Antwort nicht, oder wenn doch, so behielt er sie für sich.

Er zog mich auf den Flur und schloss die Tür.

»Eine außergewöhnliche Entwicklung, Will Henry, und nicht ohne einen ordentlichen Teil an Ironie. Er ist vergiftet worden – nicht durch Kearns’ Hand, sondern seine eigene – buchstäblich!«

»Wird er sterben?«

Warthrop gestand, dass er es nicht wusste. »Wir befinden uns in unbekannten Gewässern, Will Henry. Kein Opfer von Pwdre ser ex magnificum ist je geborgen, erst recht nicht studiert worden.« Zwar war seine Miene ernst, doch seine Stimme verriet seine Erregung. »Er könnte sterben; er könnte vollständig genesen. Eine gewisse Hoffnung habe ich. Schließlich war sein Ausgesetztsein winzig, und es existieren ein paar anekdotenhafte Berichte, nach denen Pwdre ser mit der Zeit etwas von seiner Wirkung verliert. Es könnte vom Alter des Nidus abhängen.«

»Sollten wir nicht … Möchten Sie, dass ich einen Doktor hole, Sir?«

»Zu welchem Zweck? Mr Kendall leidet nicht an einem Schnupfen, Will Henry. Der unglückliche Narr hat es geschafft, sein größtes Glück zu finden, indem er an den einen Menschen geraten ist, der sein Unglück am besten versteht. Ha! Nun muss ich mir diese Blutprobe ansehen. Bleib bei ihm, bis ich wiederkomme, Will Henry. Geh nicht fort. Unter keinen Umständen darf Mr Kendall allein gelassen werden! Und dass du mir nicht einnickst oder deinen Gedanken erlaubst, auf Wanderschaft zu gehen! Ich erwarte, von allem unterrichtet zu werden, was er tut oder sagt, während ich weg bin. Fass ihn nicht an; lass dich nicht von ihm anfassen. Und pass auf, Will Henry: Du bist ein Zeitzeuge!«

»Jawohl, Sir«, antwortete ich pflichtschuldig.

»Ich werde nicht lange brauchen. Hier, nur für den Fall; den solltest du besser haben.«

Er drückte mir den Revolver in die Hand.

* * *

»Wer ist da?«, rief Kendall laut, als ich den Raum wieder betrat. Der Doktor hatte seine Augen wieder zugedeckt und das Licht wieder angemacht, ehe er den Raum verlassen hatte.

»Ich bin’s. Will Henry«, antwortete ich.

»Wo ist der Doktor? Wo ist Warthrop?«

»Er ist unten in seinem Laboratorium, Sir.«

»Und versucht ein Heilmittel zu finden?«

»Ich … Ich weiß es nicht, Mr Kendall.«

»Was meinst du damit?«, schrie er. »Ist er ein Doktor oder ist er keiner?«

»Ist er, aber er ist keiner.«

»Was? Was hast du gesagt? Er ist einer, aber er ist keiner?«

»Er ist kein Doktor der Medizin.«

»Kein Doktor der Medizin? Was für ein Doktor ist er dann?«

»Er ist ein Monstrumologe, Sir.«

»Ein Monster …«

»Monstrum…«

»Monstrum…«

»…ologe.«

»Ologe?«

»Monstrumologe«, sagte ich.

»Monstrumologe! Das ist das Absurdeste, was ich jemals gehört habe! Was für ein Unsinn soll das sein?«

»Es ist ein Wissenschaftler«, sagte ich. »Ein Doktor der Naturphilosophie.«

»O du gütiger Christus!«, stöhnte er laut. »Ich bin von einem Philosophen entführt worden!« Seine Brust hob und senkte sich. »Wieso bin ich an dieses Bett gefesselt? Wieso bringt ihr mich nicht ins Krankenhaus?«

Ich gab ihm keine Antwort. Ich glaubte nicht, dass es irgendeinem Zweck dienen würde, ihm die Wahrheit zu sagen. Nervös streichelte ich den Lauf des Revolvers des Doktors. Weshalb war Kendall eigentlich ans Bett gefesselt? Weshalb hatte der Monstrumologe mir den Revolver gegeben?

»Hallo?«, rief er.

»Ich bin da.«

»Ich kann meine Hände und Füße nicht mehr spüren. Sei ein guter Junge und hilf mir!«

»Ich … Ich darf Sie nicht losbinden, Mr Kendall.«

»Habe ich denn von dir verlangt, mich loszubinden? Nur die Knoten ein bisschen lockern. Das Seil schneidet mir in die Haut.«

»Ich werde den Doktor fragen, wenn er zurückkommt.«

»Zurückkommt? Wo ist er hin?«

»Er ist im Laboratorium«, rief ich ihm ins Gedächtnis.

»Ich bin ein britischer Staatsbürger!«, schrie er schrill. »Mein Onkel ist ein Mitglied des Parlaments! Ich werde deinen ›Doktor‹ belangen wegen Körperverletzung, Entführung, Freiheitsberaubung und Folter eines ausländischen Staatsangehörigen! Sie werden ihn sicherlich hängen, und dich mit ihm!«

»Er versucht doch nur zu helfen, Mr Kendall.«

»Helfen? Indem er mich nackt auszieht und festbindet? Indem er sich weigert, mich zu einem richtigen Doktor zu bringen?«

Die Oberfläche des Revolvers war kühl unter meinen Fingern. Wo blieb die Dämmerung? Die Sonne würde bald aufgehen; sie musste einfach.

»Mir ist kalt«, wimmerte er. »Kannst du nicht wenigstens ein paar Decken über mich legen?«

Ich nagte an meiner Unterlippe. Der Mann zitterte unkontrolliert, die Zähne klapperten ihm buchstäblich im Kopf. Was sollte ich tun? Der Doktor hatte mir nicht verboten, ihn zuzudecken, aber ich war mir sicher, hätte er gewollt, dass er zugedeckt wäre, hätte er es selbst gemacht. Es würde sein Leiden ohne Frage lindern, wenn auch nur um ein Weniges – und war das nicht meine Aufgabe, meine simple menschliche Pflicht?

Ich legte den Revolver hin und nahm die Tagesdecke aus dem Wandschrank. Als ich mich hinabbeugte, um sie über seine zitternde Gestalt zu breiten, erhaschte ich einen Hauch eines vertrauten Geruchs, einen, den ich schon viele Male vorher gerochen hatte – den widerlich süßen Geruch faulenden Fleisches.

Ich hob den Kopf, um die Augen auf die Höhe seiner rechten Hand zu bringen, und sah, dass die Haut von einem rosigen Rot zu einem hellen Grau übergegangen war. Fast wirkte sie durchsichtig. Ich bildete mir ein, ich könnte direkt bis zu seinen Knochen sehen.

Die Hand, die es berührt hatte, das Ding, das Warthrop »wunderschön« genannt hatte, fing an, zu verwesen.

»Ich sterbe.«

Ich schluckte schwer und sagte nichts.

»Ausgequetscht, so fühle ich mich. Als ob eine riesige Faust mich ausquetschen würde, jeden Zoll, bis auf die Knochen.«

»Der Doktor wird alles tun, was in seiner Macht steht«, versprach ich ihm.

»Ich will nicht sterben. Bitte. Bitte lass mich nicht sterben!«

Seine verfaulenden Finger zerkrallten nutzlos die leere Luft.