Einundzwanzig

»Freut mich, Sie kennenzulernen«

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Ein Mann mit fahlem Gesicht erwartete uns bei unserer Ankunft in London in der Eingangshalle unseres Hotels, dem Great Western am Paddington Square. Er trug einen Überzieher aus Harris-Tweed über einem Kaschmiranzug und den schlechtesten Haarschnitt zur Schau, den ich je gesehen hatte; seine Haare sahen aus, als hätte jemand mit einem stumpfen Messer auf sie eingehackt. Später sollte ich erfahren, dass Dr. Hiram Walker Barbier gewesen war – unter anderem; er hatte sich auch einmal als Schafzüchter versucht –, bevor er das Feld der anomalen Biologie betreten hatte. Er hatte all seinen Kunden Lebewohl gesagt bis auf einen: sich selbst. Er rauchte Pfeife, ging am Stock, summte nervös durch die Nase und betrachtete die ganze Welt durch kleine, unstete Augen wie eine in die Enge getriebene Ratte. Diese Augen leuchteten beim Anblick der mächtigen Statur Jacob Torrances einen Moment lang mit unverhohlener Abneigung auf; offensichtlich war er nicht erfreut.

»Torrance!«, sagte er mit näselndem britischen Akzent. »Mit Ihnen hatte ich nicht gerechnet.«

»Sonst hätten Sie mir ein kleines Zeichen Ihrer Zuneigung mitgebracht?«

»Hemmm«, winselte Walker durch seine Alphornnase. Vogelschnell huschte sein Blick zu mir. »Und wer ist das?«

»Das hier ist Will Henry, der Sohn von Warthrops früherem Assistenten, James«, antwortete von Helrung und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Ich bin Dr. Warthrops Lehrling«, sagte ich.

»Ach ja. Genau. Ich erinnere mich, dich auf dem letzten Kongress gesehen zu haben. Bist gekommen, um deinen Herrn zu holen, was?« Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich an von Helrung. »Die Angelegenheit hat sich als komplizierter herausgestellt, als ich anfangs berichtet hatte, Dr. von Helrung. Sie weigern sich, ihn freizulassen.«

Langsam hob sich eine buschige weiße Braue, wanderte auf den Haaransatz des alten Mannes zu. »Was wollen Sie damit sagen?«

Walkers rastlose Augen durchstreiften die überfüllte Eingangshalle.

»Vielleicht sollten wir uns ein Fleckchen mit ein bisschen mehr Privatsphäre suchen. Seit ich Ihr Telegramm erhalten habe, habe ich das unerschütterliche Gefühl, verfolgt zu werden.«

* * *

Wir gingen nach oben in unsere Zimmer im zweiten Stock, die auf die Praed Street hinausgingen, wo von Helrung ein Kännchen Tee bestellte. Torrance ersuchte um etwas Stärkeres für sich, aber sein alter Lehrer zog es vor, dass sein ehemaliger Schüler einen klaren Kopf behielt.

»Es ist ja gerade der Whiskey, der ihn klar hält«, protestierte Torrance. Er zwinkerte Walker zu. »Der Stall für den wilden Hengst meiner Gelehrsamkeit.«

Hiram Walker antwortete ihm mit einem geringschätzigen Naserümpfen. »Ich bin jedes Mal überrascht, wenn ich Sie sehe, Torrance.«

»Tatsächlich? Und wieso ist das so, Sir Hiram?«

»Weil es plausibel ist anzunehmen, dass Sie bei einer Kneipenschlägerei ums Leben gekommen sind. Und hören Sie auf, mich so zu nennen!« Er nippte an seinem Tee und sagte zu von Helrung: »Es liegt nicht im Rahmen ihrer Vorschriften, einen Patienten an irgendwen außerhalb der unmittelbaren Familie herauszugeben, sofern nicht die Anweisung eines Richters oder die Empfehlung des behandelnden Arztes vorliegt.«

»Aber Sie haben ihnen doch bestimmt die Umstände des Falles dargelegt?«, fragte von Helrung. »Er wird unter falschen Angaben festgehalten.«

Walker schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts dargelegt. Ich habe nur eine ganz allgemeine Erkundigung eingeholt, weil ich die genauen Umstände des Falles nicht kenne. Er wurde, so sagte man mir, von seinem Neffen, einem Mr Noah Boatman, dorthin gebracht …«

Torrance lachte schallend. »Noah Boatman! Boatman – Arkwright. Raffiniert!«

»Darf ich fortfahren? Danke. Einem Mr Noah Boatman, der behauptete, sein ›Onkel‹ habe einen völligen geistigen Zusammenbruch erlitten, herbeigeführt durch den kürzlichen Tod seiner Frau, die von einem Tiger zerfleischt worden war und –«

»Einem was?«, wurde Walker von von Helrung unterbrochen.

»Einem Tiger. Einem bengalischen Tiger, während sie ihre Schwester in Indien besuchte. Er halte sich, seinem Neffen zufolge, für einen amerikanischen Monsterjäger mit Namen Pellinore Warthrop. Sein richtiger Name sei William James Henry, und … Bitte, Torrance, würden Sie ruhig sein? Von Helrung, vielleicht sollten wir ihm etwas Whiskey hochkommen lassen – eine Gallone, damit er trinken kann, bis er die Besinnung verliert. Nun, wo war ich gerade?«

»Sie haben uns genug erzählt«, sagte von Helrung mit einem schweren Seufzer. »Der Rest ist nicht schwer zu erraten. Mein Freund erwies dem hinterhältigen Intriganten einen Gefallen, indem er darauf beharrte, dass er tatsächlich ein amerikanischer Monsterjäger namens Pellinore Warthrop sei. Indem er also die Wahrheit sagt, bestätigt er die Lüge!«

»Es gibt aber noch mehr, Dr. von Helrung. Und hier wird es ziemlich … nun ja, bizarr. Warthrop behauptete auch, meinen Quellen zufolge, dass sein ›Neffe‹ ein britischer Doppelagent im Dienste der russischen Geheimpolizei sei.«

»Das ist es!«, rief Torrance und sprang aus seinem Sessel. Walker zuckte zusammen, als erwartete er einen vollen Frontalangriff. Aus seiner Tasse schwappte ein bisschen Tee. »›Sie werden mich wie einen Hund hetzen‹, hat er gesagt«, fuhr Torrance fort. »Das ist die erste Gruppe, von Helrung!«

»Wer?«, fragte von Helrung stirnrunzelnd. »Wer ist die erste Gruppe?«

»Die Ochranka! Oh, er ist ein Teufel, dieser John Kearns! Na klar! Ich bin ein Dummkopf, dass ich es nicht gesehen habe! Kein Wunder, dass Arkwright solche Angst hatte, dass er sich beschmutzt hat! Das erklärt die Furcht, und die Tatsache, dass er ein Doppelagent war, erklärt die gespielte Tapferkeit. Ich vermute jetzt, dass die Briten nicht einmal etwas vom Nidus wissen! Es ist durch und durch ein russischer Auftrag.«

»Vom Nidus?«, echote Walker, und seine kleinen Äuglein wurden noch mal so groß.

»Ich war gar nicht an der Reihe mit Reden«, sagte Torrance mit einem betretenen Blick in von Helrungs Richtung, dessen Wangen sich gerötet hatten.

»Die Russen haben einen Nidus ex magnificum entdeckt?«, fragte Walker.

»Wir wissen es nicht«, entgegnete von Helrung vorsichtig. »Es gibt viele unbeantwortete Fragen.«

»Das scheint mir auch so, Dr. von Helrung, und die meisten davon habe ich. Wer ist dieser Boatman oder Arkwright oder wie er auch immer heißt? Warum sollte er solche haarsträubenden Mühen auf sich nehmen, um Dr. Warthrop ungerechtfertigterweise einsperren zu lassen? Wieso war Warthrop überhaupt in London? Wer ist John Kearns, und was hat er mit der russischen Geheimpolizei zu tun?«

Von Helrung warf Torrance einen vernichtenden Blick zu.

»Was?«, wollte Torrance wissen. »Sie haben nie gesagt, dass es ein Geheimnis ist.«

»Es war Pellinores Wunsch, der Sache …« Er suchte nach dem passenden Wort. »Selbstständig nachzugehen.«

»Na klar doch!«, versetzte Torrance. »Typisch Warthrop, will den ganzen Ruhm für sich allein!«

»Den Ruhm für …?«, wandte sich Walker hilfesuchend an von Helrung.

Der alte Österreicher seufzte. Er blickte zur Decke und strich sich mit der Hand übers Kinn.

»Die Russen haben den Nidus nicht«, sagte er schließlich. »Wir haben den Nidus, die Briten haben Warthrop, und die Russen haben John Kearns.«

»Sie liegen zu zwei Dritteln richtig, von Helrung«, sagte Torrance. »Ich weiß nicht, ob die Russen Kearns haben, aber ich bin bereit, mit Sir Hiram um einen Haarschnitt zu wetten, dass sie das Magnificum haben.«

* * *

An diesem Punkt blieb von Helrung keine andere Wahl, als seinem englischen Kollegen alles zu erzählen, von der Überbringung des Nidus an jenem eiskalten Februarmorgen und dem entsetzlichen Tod seines widerwilligen Kuriers bis hin zum Verschwinden Warthrops und dem Schicksal des Verräters, der dafür verantwortlich war. Er betonte, mit einer in Torrances Richtung erhobenen Augenbraue, dass alles andere bloße Spekulation war. Wir wussten beispielsweise nicht, ob die Russen die Heimat des Typhoeus magnificum gefunden hatten.

»Tja, wie lange ist es jetzt her?«, fragte Torrance. »Über vier Monate? Jede Menge Zeit, wenn Warthrop es hingekriegt hat, was ja der Fall ist.«

»Und woher wollen Sie das wissen, Jacob?«, erkundigte sich von Helrung. Ich glaube, er fing an zu bedauern, Torrance zu unserer Rettungsmission hinzugezogen zu haben.

Torrance zuckte die Schultern. »Es ist schließlich Warthrop.«

»Beten wir, dass er es tatsächlich geschafft hat«, sagte Walker. »Ein lebendes Magnificum würde unserer Disziplin die Krone aufsetzen!«

»Ich glaube, der Zar kümmert sich einen Dreck um irgendwelche Kronen, solange es nicht seine eigene ist!«, sagte Torrance und lachte. »Wenn die Russen es haben, werden wir es so schnell nicht im Monstrumarium sehen!«

Von Helrung nickte. Seine Miene war sehr ernst. »Ich fürchte, Dr. Torrance hat recht, wenigstens in diesem speziellen Aspekt. Wenn das Magnificum in die falschen Hände geraten sollte …« Er schauderte. Der Gedanke war ihm unerträglich.

Torrance jedoch nicht so sehr; er schien von den Möglichkeiten fasziniert. »Das würde alles ändern, Gentlemen. Es würde das gesamte Gleichgewicht der Kräfte in Europa verschieben – womöglich in der Welt. Alexander eroberte die Hälfte davon. Überlegen Sie mal, was er mit in Monsterrotz getauchten Pfeilen erreicht hätte!«

»Muss das sein, Torrance?«, nörgelte Walker. »Wieso sind Sie überhaupt Monstrumologe geworden?«

»Na ja, ich bringe schon gern Lebewesen um …«

»Genug!«, rief von Helrung. Er ließ seine pummelige Hand auf den Tisch donnern. »Wir vergessen, weshalb wir hier sind! Zuerst kümmern wir uns um die Befreiung Pellinores. Dann kümmern wir uns um Monsterrotz.« Er wandte sich an Walker. »Wir können nicht vor einen Richter gehen, und wir werden seinen Arzt nicht überzeugen. Was bleibt uns da noch?«

»Wie ich schon gesagt habe, falls entschieden wird, dass er weder eine Gefahr für sich selbst noch für die Öffentlichkeit darstellt, könnte er an ein Familienmitglied übergeben werden.«

»Hm«, brummte Torrance. »Zu schade, dass sein Neffe tot ist.«

»Wir müssen vorsichtig vorgehen, um keinen Verdacht zu erregen, sonst finden wir uns in Räumen wieder, die an Pellinores Aufenthaltsort angrenzen«, grübelte von Helrung. »Sie sind von seinem Zustand überzeugt, sonst hätten sie ihn schon entlassen. Eine List könnte Erfolg haben, aber wir haben keine Möglichkeit, ihn vorzuwarnen. Wie kann er eine Rolle spielen, wenn er das Manuskript nicht lesen kann?«

»Das kann er nicht«, sagte Torrance. »Aber das muss er auch nicht.« Er sah Walker an. »Wir werden jemanden brauchen, der sich für uns verbürgt. Jemanden, den der Leiter dort kennt und dem er vertraut und der bereit wäre, eine Nebenrolle zu spielen. Fällt Ihnen da vielleicht jemand ein?«

Walker dachte einen Augenblick nach, währenddessen er an den Überresten seiner erloschenen Zigarre saugte. Dann lächelte er um den von seinen Zähnen eingedrückten Stummel herum, und seine Rattenaugen glitzerten boshaft.

»Beim heiligen Georg, ich glaube, das tut es!«

* * *

Walkers Kleindarsteller war ein gedrungener, sportlich aussehender Mann Anfang dreißig mit sehr dunklem, kurz geschnittenem Haar und sogar noch dunkleren, tief liegenden Augen. Wir trafen uns mit ihm am nächsten Morgen ein paar Meilen westlich von London vor dem Torhaus der Irrenanstalt Hanwell.

Nachdem er von Helrung und mich vorgestellt hatte (Torrance war auf Drängen von Helrungs hin zurückgeblieben; ich denke, Meister Abram war besorgt, seine Anwesenheit könnte aus einer heiklen Situation eine gefährliche werden lassen), besprach Walker schnell unseren hastig entworfenen Plan, mit dem Warthrops sofortige Entlassung erreicht werden sollte. Sein Bekannter schlug ein paar Änderungen in unserem Manuskript vor, schien aber insgesamt zufrieden mit dem Entwurf unseres kleinen Komplotts.

»Ich bin Warthrop ja schon einmal begegnet«, erzählte er uns. »Muss 77 oder 78 während meines Studiums an der Universität in Edinburgh gewesen sein. Er war gekommen, um sich mit Dr. Bell wegen irgendeiner Sache zu beraten – Genaues weiß ich nicht. Bell machte ein großes Geheimnis daraus. Er gab eine auffallende Figur ab, daran erinnere ich mich noch – sehr groß und hager und mit den durchdringendsten schwarzen Augen, die mitten durch einen durchzuschneiden schienen. Er schüttelte mir die Hand und sagte, ganz beiläufig, als würde er eine Bemerkung übers Wetter machen: ›Freut mich, Sie kennenzulernen. Sie sind unlängst aus London zurückgekehrt, wie ich bemerke.‹ Ich war verblüfft. Woher hatte er das gewusst? Bell schwor mir später, dass er es ihm nicht gesagt hatte, und ich muss zugeben, dass ich dem Leugnen meines alten Professors nie so richtig glaubte. Ich hatte immer vorgehabt, Warthrop zu fragen, woher er es gewusst hatte –«

Von Helrung schnitt dem gesprächigen Schotten das Wort ab und sagte: »Und wir sind hocherfreut, Ihnen die Gelegenheit dazu bieten zu können! Ich bin mir sicher, Pellinore wird sich an die Begegnung erinnern. Sein Gedächtnis ist so außerordentlich wie seine Beobachtungsgabe und seine Deduktionsfähigkeiten. Es ist eine große Ungerechtigkeit, dass er hier ist. Ich versichere Ihnen, Sir, er ist nicht verrückter als Sie oder ich, und wir werden für immer in Ihrer Schuld stehen, weil Sie uns helfen, seine schleunige Befreiung aus seinem einsamen Aufenthalt hinter diesen Mauern zu beeinflussen! Gehen Sie voran, Sir, und wir werden folgen!«

Und das tat er, durchs Torhaus, wo der Wächter uns anwies, uns im Büro des zuständigen Angestellten anzumelden, das sich im Hauptgebäude befand, einem schlichten – wenn auch irgendwie imposanten – dreistöckigen Bauwerk auf der anderen Seite der weitläufigen vorderen Anlagen. Als wir über den Kiesweg darauf zugingen, begann mein Herz zu rasen, während meine Augen nach dem Doktor suchten. Ich war aufgeregt, besorgt und ein bisschen verängstigt. Sollte unser ungestümer Plan fehlschlagen, würde er womöglich nie mehr durch die Tore dieses Ortes hinausgehen.

Den Monstrumologen sah ich nicht, aber ich sah andere Patienten, die sich mit Gartenscheren und Gießkannen um Sträucher kümmerten; manche trugen Wäscheladungen und Brotkörbe aus dem Waschhaus und der Bäckerei, und einige schlenderten in gemächlicher Besichtigung über den gut gepflegten Rasen, versunken in ernster Unterhaltung oder sich krümmend in sorgenfreiem Lachen, als wären sie Urlaubszeltler auf einem sonntäglichen Spaziergang im Park und nicht Patienten in einer Irrenanstalt. Damals wusste ich es noch nicht, aber Hanwell war seiner Zeit bei der Behandlung der Geisteskranken ein gutes Stück voraus. Hätte man einen armen Kerl aus einer amerikanischen Anstalt – Blackwell’s Island beispielsweise – nach Hanwell gesteckt, er hätte womöglich geglaubt, gestorben und in den Himmel gekommen zu sein.

Ich glaube allerdings nicht, dass Warthrop mit mir einer Meinung wäre.

* * *

Unser Mitverschwörer trug uns im Empfangsbüro ein.

»Das sind Dr. Hiram Walker, Mr Abraham Henry und Enkelsohn. Sie sind gekommen, um den Leiter zu sprechen«, informierte er den Angestellten. »Und bitte teilen Sie ihm mit, dass Dr. Conan Doyle bei ihnen ist.«