Zweiundzwanzig

»Ich würde mit Freuden sterben«

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»Arthur Conan Doyle! Es ist mir wirklich ein Vergnügen, Sir!«, sagte der Leiter der Hanwell-Irrenanstalt, als er uns in sein Privatbüro führte. »Ich muss Ihnen gestehen, dass ich ein ganz leidenschaftlicher Verehrer Ihrer Werke bin. Meine Frau übrigens auch. Sie wird grün vor Neid werden, wenn ich ihr erzähle, dass ich den Schöpfer des großen Sherlock Holmes kennengelernt habe!«

Conan Doyle nahm das Lob bescheiden entgegen; genau genommen schien es ihm fast peinlich zu sein, und schnell wechselte er das Thema.

»Ich hoffe, Sie hatten die Gelegenheit, meine Mitteilung heute Morgen zu lesen«, sagte er.

»Ja, ich habe sie hier irgendwo«, sagte der Leiter, wobei er die Papierstapel auf seinem Schreibtisch durchwühlte. »Ich werde sie behalten, wenn Sie nichts dagegen haben, als Erinnerung an … Ah, da ist sie ja; ich habe sie. Ah, ja, William Henry. Ein äußerst interessanter Fall.«

»Dies ist Dr. Walker, ein guter Freund von mir und Mr Henrys Leibarzt«, sagte Conan Doyle. »Und dieser Gentleman ist Mr Abraham Henry, Williams Vater, und das ist sein Enkelsohn, Williams ältestes Kind, William jr.«

»Billy«, warf von Helrung ein. »Die Familie nennt ihn Billy, Herr Doktor

»Sie sind Deutscher, Mr Henry?«

»Ich bin Österreicher, aber mein Sohn William ist in Amerika zur Welt gekommen.«

Der Leiter der Anstalt war überrascht. »Aber Mr Boatman behauptete, Ihr Sohn sei britischer Staatsangehöriger.«

»Das ist er auch, das ist er auch!«, antwortete von Helrung schnell. »Noah hat Sie nicht getäuscht, Herr Doktor. William wurde in Amerika geboren, wanderte aber in dieses Land aus, als er zwanzig war, um Medizin zu studieren – an der Universität von …« Er hatte sich in die Klemme manövriert. So hastig waren unsere Vorbereitungen gewesen, dass wir es versäumt hatten, jede Seite in Warthrops fiktiver Vorgeschichte auszufüllen.

»Edinburgh«, sprang Conan Doyle ein. »Schätzungsweise ein Jahr, nachdem ich sie verlassen hatte.«

»Und dann verliebt er sich in ein Mädchen hier, heiratet und wird britischer Bürger«, schloss von Helrung mit einem lauten Seufzer der Erleichterung.

»Ah, Annabelle!«, sagte der Leiter.

»Wer?«

»Annabelle. Mr Henrys Frau, Ihre Schwiegertochter.«

»Ach! Verzeihen Sie einem alten Mann den Mangel seiner Fähigkeiten! Ich dachte, Sie hätten etwas anderes über … etwas anderes gesagt. Jawohl, die arme, liebe Annabelle! Er liebte sie mit einer Liebe, die mehr als Liebe war, in diesem Königreich am Meer.«

»Ja«, stimmte der Leiter mit einem leichten Stirnrunzeln zu. »Allerdings erwähnte Mr Boatman nie, dass die Ehe Kinder hervorgebracht hat. Eigentlich erzählte er uns, dass er, Mr Boatman, die einzige Familie sei, die William habe.«

»Nun, da hat mein Enkel Noah recht, gewissermaßen.«

»Gewissermaßen?«

»Ich will es Ihnen erklären.«

»Ich warte ungeduldig darauf«, erwiderte der Leiter mit einem verwirrten Blick in Conan Doyles Richtung, der unverbindlich lächelte. Der Autor trommelte nervös mit den Fingern auf seine Melone.

Von Helrung gab sein Bestes. »Noahs Mutter – Williams einziges Geschwisterteil – starb tragischerweise im Alter von zweiundzwanzig, als Noah erst drei Jahre war – die Schwindsucht. Er war ihr einziges Kind. Zu dieser Zeit lebte ich mit meiner Frau Helena in Massachusetts, wo wir William und Gertrude großgezogen …«

»Gertrude?« Der Anstaltsleiter hatte angefangen, sich Notizen zu machen. Das war keine ermutigende Entwicklung.

»Ja, sie ist Williams Schwester, Noahs Mutter, und meine liebe tote Tochter, Helena.«

»Helena?«

»Ich meine Gertrude. Sie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten; ich habe sie oft versehentlich Helena genannt.« Er kratzte sich am Kopf, zuckte mit den Schultern, seufzte. »Jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich war.«

Walker klinkte sich behilflich ein: »Gertrude ist gerade gestorben.«

»Gertrude, ja.« Von Helrung nickte traurig. »Sie war zu jung. Zu jung!«

»Also wuchs Noah bei seinem Vater auf, Ihrem Schwiegersohn?«

»Eine Zeit lang, bis er starb, als Noah siebzehn war.«

»Wie ist er gestorben?«

»Er ertrank.«

»Ertrank?«

»Er hatte eines Nachts zu viel getrunken und fiel von seinem Fischerboot in die Themse – sehen Sie, er hatte sich nie von Helenas Tod erholt …«

»Gertrude«, korrigierte Walker ihn. »Helena ist noch nicht gestorben.«

»Williams Mutter lebt noch?«

»O nein, ich bin nur noch nicht zu ihr gekommen. Mein geliebtes Weib schied letztes Jahr an der Wassersucht dahin – und damit begann es, würde ich sagen.«

»Begann … was?«

»Williams langsamer Marsch in die Dunkelheit. Er hatte ein sehr enges Verhältnis zu seiner Mutter, enger als die meisten Söhne, würde ich sagen. Und als dann der Tiger seine liebliche Annabelle in Stücke riss!« Von Helrungs Unterlippe bebte; er versuchte, eine Träne hervorzuzwingen. »Ach, möge Gott meinem Jungen gnädig sein! Darf ich ihn jetzt sehen, Herr Doktor

»Ich fürchte, ich bin immer noch ein wenig verwirrt, Mr Henry, was die Familiengeschichte anbelangt. Sehen Sie das hier? Das ist das Einlieferungsformular, unter Eid unterzeichnet von Ihrem Enkel, in dem erklärt wird, dass Mr Henry keine lebenden Verwandten außer ihm selbst hat. Das ist eine Unstimmigkeit, die geklärt werden muss, bevor wir ihn entlassen können.«

»Ähm. Wenn ich dürfte.« Walker legte die Hand auf von Helrungs Arm. »Noah Boatman hat seit Jahren keinen Kontakt mehr mit der Familie gehabt.«

»Das schwärzeste Schaf!«, warf von Helrung den Tränen nah ein.

»Ich möchte keine abfälligen Bemerkungen über Mr Boatmans Charakter machen«, fuhr Walker fort. »Es ist durchaus nachvollziehbar, dass er glaubte, er wäre der einzige noch lebende Verwandte, da er seit Jahrzehnten von Abraham weder etwas gesehen noch gehört hatte.«

»Aber bestimmt wüsste er doch von Williams Kindern!« Der Leiter der Anstalt sah jetzt mich an. Ich wand mich auf meinem Stuhl.

»Ich habe die Kinder in Amerika großgezogen«, sagte von Helrung hastig.

»Sie haben sie großgezogen? Wieso?«

»Weil sie …« Von Helrung begann in Panik zu geraten.

»Es ist etwas delikat; ich hoffe, Sie können das verstehen«, warf Walker sich in die Bresche.

»Ich bemühe mich angestrengt darum, Dr. Walker.«

»Sie sind die Kinder aus Williams erster Ehe«, sagte von Helrung. Walker neben ihm versteifte sich plötzlich, als hätte ihm jemand sehr hart ins Kreuz geschlagen.

»Seiner ersten Ehe?«, fragte der Leiter nach.

»In Amerika, bevor er hierherkam und Isabel kennenlernte.«

»Annabelle«, korrigierte Walker ihn.

»Ja. Die Kinder leben bei uns – mir. Meine Frau ist an der Wassersucht gestorben.« Von Helrung schwang seinen dicken Arm um meine Schulter. »Die Wassersucht.«

»Nun«, meinte der Leiter der Anstalt bedächtig. »Ich nehme an, der einzige Weg, dies aufzuklären, ist, mit Mr Boatman zu sprechen.«

»Ahhh! Mein Gott!«, rief von Helrung aus. Er sank auf seinem Stuhl nach vorn.

»Gleich werden Sie mir erzählen, dass Mr Boatman tot ist, stimmt’s?«, fragte der Leiter.

Es war schon ironisch, dachte ich später, dass dies das einzige Körnchen Wahrheit in dem ganzen Lügenhaufen war.

* * *

Hätten wir nicht das literarische Idol des Anstaltsleiters rekrutiert, ich glaube nicht, dass unserem schlecht durchdachten und noch schlechter ausgeführten Plan Erfolg beschieden gewesen wäre. Der Anwesenheit von Conan Doyle war es vermutlich zu verdanken, dass wir nicht sogleich hochkant aus der Anstalt hinausbefördert wurden – oder dort eingesperrt, bis ein qualifizierter Arzt uns untersuchen konnte.

»Ich fürchte, ich muss ein bisschen Verantwortung für William Henrys Zustand übernehmen«, gestand Conan Doyle.

»Sie, Dr. Doyle?«

»Nach dem, was Dr. Walker mir mitgeteilt hat, hat es den Anschein, dass zumindest ein Teil seiner Wahnvorstellungen auf meinen Geschichten basiert.«

»Welcher Teil soll das denn sein? Ich habe den Patienten ausführlich befragt, und ich entsinne mich nicht, dass er …«

»Nun, zum einen sein Beruf. Es besteht nicht so viel Unterschied zwischen einem beratenden Detektiv und einem Monsterjäger – es handelt sich eher um eine Abgrenzung als um einen Unterschied. Und natürlich«, fügte er beiläufig mit einem Zucken seiner kräftigen Schultern (Conan Doyle war ein famoser Kricketspieler und begeisterter Golfer) hinzu, »der Name.«

»Wessen Name?«

»Mr Henrys Name. Nicht sein richtiger Name; der Name, den er für sich ausgesucht hat, Pellinore Warthrop.«

»Es tut mir leid, Dr. Doyle. Ich entsinne mich nicht, diesen Namen in Ihrem Werk gesehen zu haben.«

»Weil Sie kein Amerikaner sind. In den Staaten ist Holmes’ Name Warthrop.«

»Tatsächlich?«

»Es ist nicht ungewöhnlich, den Namen einer Figur zu ändern, um ihn dem Geschmack einer bestimmten Kultur anzupassen.«

Der Leiter der Anstalt verlieh seiner Verwunderung Ausdruck. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass Großbritanniens Sherlock Holmes Amerikas Pellinore Warthrop war. Es schien ihn bis aufs existenzielle Mark zu erschüttern, denn wenn Holmes nicht, na ja, Holmes wäre, dann wäre er nicht Holmes!

»Kann ich ihn jetzt sehen?«, flehte von Helrung. »Ich versichere Ihnen, Sir, er wird mich, seinen Vater, kennen, und wenn nicht mich, so Billy hier, seinen Sohn. Wir würden ihn mit uns nach Amerika zurücknehmen, aber wenn Sie Nein sagen, dann können wir das nicht. Haben Sie Erbarmen und schicken Sie uns nicht fort ohne wenigstens die Chance, Abschied zu nehmen!«

An diesem Punkt gab der Anstaltsleiter dann nach. Ich bezweifle, dass er auch nur eine Sekunde lang ein Wort von unserer haarsträubenden Geschichte glaubte, aber er war jetzt neugierig – ungemein neugierig – darauf zu sehen, wie dieses bizarre Stück wohl enden mochte. Er läutete nach dem Wärter von Warthrops Station, der gleich darauf erschien.

»Wo befindet sich Mr Henry heute Morgen?«, erkundigte sich der Leiter.

»Auf seinem Zimmer, Sir, wie gewöhnlich. Nach dem Frühstück habe ich ihn gefragt, ob er gerne einen Spaziergang im Garten machen würde, aber er hat wieder abgelehnt.«

»Hat er heute Morgen sein Frühstück zu sich genommen?«

»Sir, er hat es mir an den Kopf geschleudert.«

»Er hat also heute wieder seine fünf Minuten.«

»Ja, Sir, und zwar fünf der schlechteren.«

»Vielleicht werden seine Besucher seine Stimmung aufhellen. Bitte sagen Sie ihm Bescheid. Wir werden jeden Augenblick oben sein.« Er wandte sich uns zu. »Letzte Woche hat Mr Henry einen Hungerstreik beendet – den dritten, seit er nach Hanwell kam. ›Ich würde mit Freuden sterben‹, sagte er mir. ›Aber ich will verdammt sein, wenn ich Ihnen diese Genugtuung gebe!‹ Ich muss sagen, Dr. Walker, Ihr Patient hat eine hoch komplexe Wahnvorstellung entwickelt, die detailreichste und komplizierteste, die mir je untergekommen ist. Einen ›Philosophen in der Naturwissenschaft der anomalen Biologie‹ nennt er sich, einen Monstrumologen, einen von einigen Hundert anderen auf der Welt, die sich dem Studium und der Ausrottung gewisser böswilliger Spezies widmen, für die er der führende Experte zu sein behauptet. Er behauptet, einer ›Gesellschaft‹ dieser sogenannten Monstrumologen anzugehören, die in der Stadt New York ihren Sitz hat, und deren Präsident …«

»… ich bin«, beendete von Helrung traurig seinen Satz. »Ich kenne diese Geschichte, Herr Anstaltsleiter. Gott sei’s geklagt, ich habe sie viele Male gehört. Für William bin ich nicht Abraham Henry, einfacher Schuhmacher aus Stubenbach, sondern Abram von Helrung, das Oberhaupt dieser imaginären Gesellschaft der Monstrumologen. Und der junge William hier – nicht mehr William, nein! Sondern Will Henry, sein treuer Lehrling, der ihm bei dieser seiner mythischen Monsterjagd hilft.«

»Sogar mich schließt er in seine Fantasien ein«, warf Walker ein. »Ich bin, so scheint es, ebenfalls ein Mitglied der Monstrumologengesellschaft, ein Rivale gewissermaßen auch, erheblich versierter und daher eine Bedrohung für ihn …«

Von Helrung räusperte sich lautstark und sagte: »Ich will ihn mit nach Hause nehmen. Er stellt für niemanden eine Gefahr dar – außer man ist zufällig ein dreiköpfiger Drache! Mein Enkel, Gott schenke seiner Seele Frieden, hätte nie die Bürde auf sich nehmen sollen, die richtigerweise seinem Vater gehört. Als ich hörte, dass er hier ist, bin ich umgehend gekommen. Sobald ich meinen Jungen wiedersehe, werde ich sofort wieder gehen. Wollen Sie mich jetzt zu meinem Jungen bringen, Herr Anstaltsleiter, um seine und meine eigene Bürde zu erleichtern?«

* * *

Wir wurden in den zweiten Stock geleitet, wo die gefährlichsten Insassen untergebracht waren. Es gab keine Riegel an den Türen, aber die Schlösser waren stabil und die Möbel in den Zimmern am Boden angeschraubt. Zum eigenen Schutz der Patienten waren einige Räume mit Gummi ausgekleidet, aber keiner trug Fußfesseln oder war auf irgendeine Weise eingeschränkt, ein weiteres humanes Unterscheidungsmerkmal der hanwellschen Philosophie. Mir kam der Gedanke, dass Warthrop ein weitaus schlimmeres Schicksal hätte erleiden können als die Zwangsunterbringung in einem Haus der Wahnsinnigen. Ohne Zweifel war es eine Qual für ihn gewesen; ohne Frage hatte er darunter gelitten, geistig gesund zu sein und genau diese geistige Gesundheit als Beleg seiner Verrücktheit angeführt zu bekommen, aber er war am Leben. Er war am Leben.

Der Stationswärter wartete im Flur auf uns. Der Leiter nickte ihm zu, der Wärter schloss die Tür auf und stieß sie weit auf, und auf dem kleinen Bett auf der anderen Seite sah ich meinen Herrn sitzen, der einen weißen Morgenrock und Pantoffeln trug, die in dem Lichtstrahl, der durch das Fenster hinter ihm fiel, zu leuchten schienen. Er war blass und dünn und ausgezehrt, aber am Leben, sein Exil vorbei, am Leben – der Monstrumologe.