Vierzig
»Wenigstens stehe ich aufrecht«

Warthrop beschloss, das Kind meiner Obhut anzuvertrauen.
»Falls das Schlimmste eintritt, bringst du ihn auf dem Weg zurück, den wir gekommen sind«, instruierte er mich. »Den Pfad hinunter und aus den Bergen raus. Begib dich nach Süden, zurück ans Meer. Gishub dürfte relativ sicher sein, bis die Dagmar wiederkommt.«
»Lassen Sie es doch Awaale holen!«, protestierte ich. »Ich will bei Ihnen bleiben.«
»Du bist kämpferisch, Will Henry«, erkannte er an. »Mehr Torrance-kämpferisch als Kearns-kämpferisch, hoffe ich, aber …«
»Ist schon in Ordnung«, warf Awaale ein. »Walaalo hat seine eigenen Abmachungen einzuhalten. Aber dein Herr hat recht, wenigstens in dieser Beziehung. Mach dir keine Sorgen: Ich werde den Jungen mit meinem Leben beschützen!«
Kearns drückte sich in der Nähe der Spaltenöffnung herum und starrte ins Dunkel, wo die Leiche der Frau gekrümmt auf dem Stein lag.
»Die Stelle ist perfekt. Perfekt!«, hauchte er. »Wir hätten es nicht besser einrichten können, Pellinore. Ich werde meinen alten Ansitz da drüben nehmen, auf dem Vorsprung an der östlichen Felswand dort. Sie können den nördlichen Zugang nehmen und Awaale das andere Ende, bei den Felsbrocken da hinten, die den Ausgangspunkt des Wegs markieren. Ah, dieser Teufel Minotaur! Ich werde mir seinen Kopf nichtsdestoweniger holen!«
»Minotaur?«, echote der Doktor.
»Mein Name für ihn. Ein großer, brutaler Kerl, fast so groß wie unser Pirat hier. Bin schon seit Tagen hinter ihm her. Er ist kein hirnloses Tier wie die andern. Er ist äußerst gerissen, war vermutlich ein Anführer in seinem Dorf, und er ist sehr, sehr stark. Man kann ihn nicht übersehen: Mitten aus der Stirn wächst ihm ein langer Stachel – der Platzhirsch sozusagen. Durchstreift die Gegend immer im Rudel, vier oder fünf bei meiner letzten Zählung, aber das Pwdre ser fällt sie schnell, wie Sie wissen, Pellinore. Also sind sie vielleicht auch um zwei oder drei dezimiert, falls kein Versprengter sich der Sache angeschlossen hat. Eine einzelne Kugel wird ihn nicht niederstrecken; er trägt drei von meinen mit sich herum und zeigt keine Anzeichen, dass er langsamer wird. Das letzte Mal, als ich auf ihn schoss – nun, das war ganz interessant. Die Wunde blutete beträchtlich, und normalerweise ist es das Blut, das die Raserei auslöst, aber beim Minotaur versammelten sich die Übrigen um die Stelle, und einer nach dem andern leckte unterwürfig daran, ein Lehnseid unter Fäulern. Es war ergreifend, wirklich, in Anbetracht dessen, dass ihre Lebenserwartung inzwischen in Wochen gemessen werden kann.«
Er hob den Kopf, und wir horchten mit ihm – aber ich hörte nichts als den Wind, der sich am Felsen rieb.
»Es kommt etwas!«, flüsterte er. »Ich schlage vor, wir nehmen unsere Positionen ein, Gentlemen. Schießt erst auf mein Zeichen hin, oder wenn ihr keine andere Wahl habt! Am besten wartet, bis sie durch den Köder abgelenkt sind; dann ist es wie auf Fische in einem Fass schießen. Haltet Ausschau nach meinem Freund dem Minotaur!«
Er stieg den Pfad hinauf; Warthrop folgte ihm im Abstand von ein paar Schritten. Awaale klopfte mir auf die Schulter, nahm sein Gewehr und machte sich in die andere Richtung davon. Ich zog mich vorsichtig ans hinterste Ende der Spalte zurück und kauerte mich hin, nahm das Kind unbeholfen auf den Schoß und dachte darüber nach, wie dumm ich doch war, mich so in eine Ecke drücken zu lassen, ohne Fluchtmöglichkeit und ohne Mittel zur Verteidigung. Mein Schicksal – und das des Kindes – lag ganz in den Händen eines psychopathischen Mörders, der gern auf den Somali-Namen für »der Böse« hörte.
Das Baby wimmerte im Schlaf. Ich fuhr ihm mit den Fingerspitzen leicht übers Gesicht, berührte geschlossene Augenlider, die kleine Stupsnase, die weichen Wangen. Es hatte einmal ein anderes Kind gegeben, vor noch gar nicht so langer Zeit, über das ich in einem dreckigen Mietskasernenflur hinweggeschritten war, das ich im Stich gelassen hatte, als es in meiner Macht gestanden hatte, es zu retten, das ich später in einem überfluteten Keller wiedergefunden hatte, wo es in Stücken in ungeklärtem Abwasser schwamm. Du bist meine Erlösung, der Schlüssel zum Gefängnis meiner Sünde, hatte Awaale gesagt. Indem ich dich rette, werde ich mich selbst vor dem Gericht bewahren. Damals, das gebe ich gerne zu, hatte ich eine ausgesprochen warthropsche Reaktion auf diese Worte. Ein unlogischer Schritt, dachte ich, von einer zufälligen Begegnung zu göttlicher Intervention. Aber ist nicht jeder Vertrauensvorschuss von Natur aus unlogisch? Kaufe die Zeit aus, hatten die Sterne zu mir herabgesungen. Ich dachte an ihr Lied, während ich das Gesicht des Kindes liebkoste.
Kaufe die Zeit aus. Falls es so weit käme, beschloss ich, würde ich den Jungen hierlassen und versuchen, sie wegzulocken – ein Verlassen, das dieses Mal nicht verdammen, sondern erlösen würde, das nicht verurteilen, sondern erretten würde.
Der Nordwind brachte ein Geräusch von den Gipfeln, ein hohes Kreischen, das ich nur mit dem eines Schweins im Schlachthaus vergleichen kann, ein durch Mark und Bein gehendes Quieken, das mir nicht menschlich vorkam, und einen entsetzlichen Moment lang war ich überzeugt, dass es nicht Typhoeus’ Kinder waren, die wegen Kearns’ »Köder« kamen, sondern Typhoeus selbst. Ich stellte mir vor, wie das Magnificum den Berg hinabstieg, das bleiche Fleisch glitzernd und mit gemein spitzen Stacheln überzogen, der mächtige Rachen, von dem glänzende Klümpchen Pwdre ser tropften, weit aufgesperrt, ein schwarzer Behemoth vom doppelten Umfang eines Mannes und der dreifachen Höhe und mit einem Gesicht, das absolut leer war, einem Gesicht, das kein Gesicht war, dem gesichtslosen Gesicht, das Pierre Lebroque in der Agonie vollkommener Erkenntnis den Ausruf entrissen hatte: »Nullité! Weiter ist es nichts! Nichts! Nichts! Nichts!«
Dieser erste schrille Schrei wurde von einem anderen beantwortet und dann von noch einem anderen, jeder aus einer anderen Richtung, und sie kamen näher, die Rufe folgten schneller aufeinander, dauerten aber weniger lang, bis sie dem kurzen, hysterischen Kläffen von Hyänen auf der Jagd glichen. Dann, unvermittelt, nichts als der Wind. Es war schrecklich, hier zu sitzen und nicht zu wissen, was draußen vor sich ging. Nach allem, was ich wusste, hätten sie direkt draußen sein und auf irgendein Signal warten können, bevor sie lossprangen. Ich tastete den Boden ab nach einem Stein, einem Stock, irgendetwas, was ich als Waffe hätte benutzen können. Vor meinem geistigen Auge sah ich Mr Kendall die Treppe herunterspringen und seine schwarzen Augen mein Gesichtsfeld ausfüllen.
Und dann hörte ich, ganz deutlich, ein Reißgeräusch und ein lautes Knirschen, so wie es sich anhört, wenn man ein Hühnerbein vom Rumpf abreißt. Etwas – nun, mehr als ein Etwas – schluchzte, ein schreckliches, schnüffelndes, schluckaufartiges Klagen – die Tränen der Verdammnis, die bittere Verzweiflung des Abgrunds, und ich wusste, dass sie sie fraßen, sie in Stücke rissen und sich die tropfenden Innereien in die Mäuler stopften, zornig mit den Zähnen knirschten und mit so erbittertem Hunger kauten, dass mehr als einer sich schon die eigene Zunge durchgebissen hatte. Und von seinem Bergthron blickte Typhoeus magnificum, der prächtige Vater, auf seine Kinder herab und lächelte.
Kearns schrie von seinem Posten herunter und gab damit das erwartete Signal. Ich hörte nur sechs Schüsse, zwei aus Kearns’ Büchse, die übrigen aus Warthrops Revolver, aber ihre Echos huschten und sausten den Pass entlang und jagten einander bis auf den Grund. Als ein großer Schatten vor der Öffnung vorbeiflitzte, schrie ich leise auf, und dann erkannte ich, dass es Awaale war, der zum Schauplatz des Gemetzels rannte. Ich stand auf und ging nach draußen. Ich verspürte jetzt keine Furcht, nur die vertraute ekelerregende Neugier, zu sehen, was nicht gesehen werden sollte, was die meisten nicht würden sehen wollen, was ich aber sehen musste.
Es waren sieben Leichen, wo zuvor nur eine gewesen war, eine über die andere drapiert in einem verwirrenden Durcheinander von Gliedmaßen. Ich musste über einen Bach aus Blut schreiten, der sich seinen gewundenen Weg über den Abhang nach unten suchte.
»Sehr schöne Arbeit, Warthrop«, sagte John Kearns gerade. »Vier zu meinen beiden. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie so ein guter Schütze sind!«
»Aber wie ist das möglich?«, fragte Awaale, dessen Stimme vor Verwunderung und Abscheu zitterte. »Diese Frau ist ganz alt, und doch trägt sie ein Kind unter dem Herzen!«
»Es ist kein Kind, das sie unter dem Herzen trägt«, sagte Kearns mit einem Lächeln. »Treten Sie zurück, Gentlemen, und ich werde es Ihnen zeigen.«
Er zog ein Bowiemesser aus dem Stiefel und beugte sich über die alte Frau, die zusammengerollt auf der Seite lag; unter der verfilzten Masse ihrer stahlgrauen Haare hatte sich eine Blutlache gebildet. Kearns stach sie nicht, sondern vollzog einen schnellen, flachen Einschnitt in ihren Unterleib und machte anschließend einen Satz zurück. Der Schnitt pulsierte einmal, und dann platzte ihr Bauch mit einem lauten Pop! auf und spie einen feinen, klaren Nebel und eine übel riechende Suppe wässrigen Bluts und geschrumpfter Eingeweide aus. Kearns lachte herzlich und sagte: »Seht ihr? Sie ist nicht schwanger. Sie hat nur entsetzliche Blähungen!«
Angewidert wandte Awaale sich ab, aber Warthrop schien von dem Phänomen fasziniert zu sein und verglich es mit Fällen gestrandeter Wale, deren verwesende Körper sich mit Gasen füllen, die von bestimmten Bakterien in den Gedärmen erzeugt werden, was dazu führt, dass sie irgendwann buchstäblich explodieren. Das erklärte die aufgeplatzten Bäuche und blutigen Wände in dem Leichenhaus in Gishub.
»Entweder eine im Pwdre ser enthaltene Substanz oder die Reaktion des Körpers auf das Ausgesetztsein …«, grübelte Warthrop.
»Ich dachte mir, dass es Ihnen gefällt! Erinnern Sie sich noch an den Russen, von dem ich Ihnen erzählt habe, der, der besessen war von blank geputzten Schuhen? Ist ihm passiert. Hat zwei Männer vollgespritzt, während Sidorov ihn untersuchte.«
Der Doktor nickte geistesabwesend. »Ich sehe Ihren Minotaur nicht.«
»Nein.« Kearns seufzte. »Wieder einmal entkommt er meinen Fängen. Aber ich bin noch nicht mit ihm fertig. Ehe das hier vorüber ist, wird sein Kopf an der Wand meines Arbeitszimmers hängen, das kann ich Ihnen versichern!«
* * *
Es folgte eine langatmige Debatte zwischen Kearns und dem Monstrumologen darüber, was wir als Nächstes tun sollten. Wir waren alle erschöpft und brauchten dringend Schlaf, doch Kearns bestand darauf, dass wir den Schauplatz unverzüglich verließen. Er wusste von noch wenigstens einem weiteren Trupp Fäuler in der weiteren Umgebung und machte sich Sorgen, dass es mit unserm Glück – oder unserer Munition – zu Ende gehen könnte. Warthrop rief Kearns ins Gedächtnis, dass er selbst den Ort »die perfekte Stelle« genannt hatte, und meinte, es sei besser, eine Falle zu stellen als einen Hinterhalt zu riskieren.
»Weiter oben gibt es eine Höhle, ungefähr eine Meile von hier«, kam Kearns ihm entgegen. »Ich schätze, wir könnten da hingehen. Aber es ist wirklich am besten, ihre Zeiten einzuhalten – tagsüber schlafen und nachts jagen.«
»Ich verstehe«, sagte Warthrop. »Aber wir werden nicht viel von diesem zuwege bringen, wenn wir nicht etwas von jenem machen! Komm, Will Henry, ich nehme das Kind jetzt. Hol unser Gepäck und meine Instrumententasche! Kearns und ich werden die Führung übernehmen; du und Awaale bilden die Nachhut. Leise jetzt und schnell!«
Und so drangen wir tiefer ins Herz der Berge ein. Der Weg war nicht leicht, mit Steinen übersät – manche so groß wie ein Einspänner – und von tiefen Spalten zerrissen und manchmal so schmal, dass wir gezwungen waren, uns seitwärts zu drehen und mit dem Rücken an der steilen Felswand entlangzuscheuern, während unsere Zehen über den brüchigen Rand lugten – tausend Fuß über dem zerklüfteten Boden. Die Luft wurde dünn und kalt. Der Wind drückte von oben auf uns herab und brannte scharf auf unseren Wangen. Ich merkte, wie mein Gesicht taub wurde.
»In meinem Land gibt es eine alte Redensart, walaalo«, sagte Awaale irgendwann. »›Gehe nicht sehenden Auges in die Schlangengrube.‹ Über dieses Sprichwort habe ich mir früher immer den Kopf zerbrochen. Jetzt nicht mehr!« Er lachte leise. »Meinst du, diese Viper Kearns könnte von Gott gesandt sein?«
Die Vorstellung war so absurd, dass ich ungewollt lachen musste. »Wovon sprichst du?«, fragte ich.
»Das Kind! Kearns jagt es bis dorthin herunter, wo wir sind, und jetzt werde ich es sicher zurück zu seinen Leuten bringen.«
»Nur dass er gesagt hat, diese Leute würden es umbringen.«
Awaale fluchte leise, doch er lächelte dabei. »Ich sage ja nur, dass Gott mich vielleicht für den Kleinen geschickt hat – nicht für dich.«
»Das ergibt mehr Sinn«, antwortete ich. »Ich wollte sie umbringen, Awaale. Der Revolver war einen Zoll weit von ihrem Kopf entfernt, und ich krümmte den Finger am Abzug …«
»Aber du hast nicht geschossen.«
»Nein. Ich sah, dass er an ihrer Brust trank, und geriet in Panik.«
»Ah! Du meinst, du wurdest geschickt, um ihn zu retten!«
»Ich bin nicht dazu vorgesehen, irgendwen zu retten!«, brauste ich auf. Ich war auf einmal sehr wütend. »Ich bin hier, um dem Doktor zu dienen, und der ist hier, um … um der Wissenschaft zu dienen, und das ist alles. Das ist alles.«
»Ach, walaalo!« Er seufzte. »Du bist mehr Pirat, als ich es je war.«
* * *
Kearns’ Höhle war eigentlich ein Labyrinth aus kleinen Kammern; diese standen durch Tunnel in Verbindung, die von einer Million Jahre Monsunregen, der sich den Weg durch winzige Risse im Gestein gefressen hatte, in den Fels gegraben worden waren. Die Natur ist alles andere als ungeduldig. Die tiefste Kammer war auch die größte und vermutlich die sicherste, aber Kearns warnte uns davor, dort zu kampieren, denn sie war das Zuhause von Abertausenden Fledermäusen, und ihr Guano lag einen Fuß dick auf dem Boden.
Es waren die Fledermäuse, die mich am nächsten Morgen weckten, als sie in einem schwindelerregenden Ballett aus Schwarz und Braun über unseren Köpfen flatterten und auf dem Weg zu ihren Schlafplätzen aufgeregt kreischten. Ich war der Letzte, der aufstand, und fand den Doktor und Awaale draußen vor der Höhle vor, wo das Findelkind sich schlaff auf Warthrops Schoß wand.
»Wo ist Dr. Kearns?«, fragte ich.
»Er kundschaftet den Pfad aus; jedenfalls hat er gesagt, dass er das tun würde.«
»Wie geht es dem Baby?«, erkundigte ich mich.
»Es hat Hunger«, antwortete er. »Und es ist sehr schwach.«
Das Kind kaute an den Knöcheln des Monstrumologen. »Aber es zeigt keine Symptome, obwohl es zweifellos durch die Milch seiner Mutter der Sternenfäule ausgesetzt war. Das lässt darauf schließen, dass es möglicherweise irgendeine Art natürlicher Immunität besitzt.« Er zeigte mit dem Kopf auf die Instrumententasche neben ihm. »Ich habe ihm Blutproben entnommen. Falls das hier sonst nichts bringt, sind wir vielleicht wenigstens imstande, ein Heilmittel für die Sternenfäule zu finden, Will Henry.«
Ein paar Minuten später kehrte Kearns zurück; er hatte sein Gewehr und eine kleine Ledertasche bei sich. Er kramte in seinem kleinen geheimen Ausrüstungslager im Inneren der Höhle herum und kam mit einem Bündel Lumpen wieder zum Vorschein, die er sorgfältig zu einem kegelförmigen Haufen arrangierte, bevor er sie in Brand steckte. Zuerst brannten die Lumpen heiß und hell, und dann fielen sie zu einem schwelenden Hügel zusammen.
»Es gibt kein anständiges Holz in diesen Bergen für ein ordentliches Feuer«, sagte er. Er suchte in seiner Tasche herum und förderte drei tote Spinnen zutage – die größten, die ich jemals gesehen hatte, größer als Awaales riesige Hand – und ließ sie in die Mitte der qualmenden Asche fallen. »Solifugae – Kamelspinnen. Sie müssen eine probieren, Pellinore. Ich habe einen gewissen Geschmack daran gefunden.«
»Wie weit ist es bis zu den Nistplätzen?«, fragte mein Herr, ohne auf Kearns’ Angebot einzugehen.
»Nicht weit. Ein halber Tag, wenn wir nicht anhalten, um zu rasten, und der Berg gute Laune hat. Er hat nämlich seine Launen. Gestern war er ausgesprochen wütend, hat aufgestampft und die steinernen Wangen aufgebläht. Er ist sehr stolz und schnell erzürnt. Einem gewissen Wissenschaftler, den ich kenne, gar nicht so unähnlich.«
»Das Kind ist am Verhungern«, warf Awaale ein, dessen Geduld mit Kearns nachließ. »Ich muss mich sofort auf den Weg nach Hoq machen. Kennt jemand den Weg?«
»Ich.« Kearns spießte eine der Spinnen mit der Spitze seines Messers auf und stopfte sich das ganze schwarz gewordene Knäuel in den Mund. Ein bisschen grünlich gelber Saft kullerte ihm übers Kinn; er wischte ihn sich mit dem Handrücken ab, während er nachdenklich kaute. »Aber ich wünschte, du würdest es dir noch einmal überlegen. Für uns wären deine Dienste viel wertvoller, und wie ich schon gesagt habe, ist es die oberste Pflicht der Dörfler, sich vor potenziellen Überträgern zu schützen. Sie werden das Kind umbringen … und wahrscheinlich jeden, der es trägt.«
Awaale versteifte sich und warf sich in die mächtige Brust. »Denken Sie, ich hätte Angst?«
»Nein, ich denke, du bist dumm.«
»Hoffnung ist nicht dumm. Vertrauen ist nicht dumm.«
»Du hast Nächstenliebe ausgelassen«, sagte Kearns mit einem boshaften Grinsen.
»Das reicht, Kearns«, sagte der Monstrumologe müde. »Ich bin mit Awaale einer Meinung. Es ist wahr: Das Kind ist vielleicht dem Tod geweiht. Es ist ebenfalls wahr, dass ohne Awaale wir vielleicht dem Tod geweiht sind. Aber die Alternative ist schlimmer. Es ist eigentlich gar keine Alternative.«
Warthrop erhob sich. Er schien über uns aufzuragen, so groß und unüberwindlich wie die himmelhohen Gipfel, die unser Lager umgaben, ein Koloss, gemeißelt aus Fleisch und Blut, gegen den die mächtigen Knochen der Erde schwächlich wirkten.
»Sie mögen vor langer Zeit über den Rand der Welt gefallen sein, John, aber für mich gilt das nicht. Noch nicht jedenfalls. Barmherzigkeit zu zeigen ist nicht naiv. Sich wider das Ende der Hoffnung zu behaupten ist nicht Dummheit oder Wahnsinn. Es ist fundamental menschlich. Natürlich ist das Kind dem Untergang geweiht. Wir alle sind dem Untergang geweiht; wir sind alle von Geburt an durch die Sternenfäule vergiftet. Das heißt nicht, dass wir wie Sie der verführerischen Irreführung der Verzweiflung erliegen sollten, der dunklen Strömung, die uns zu ertränken sucht. Sie halten mich vielleicht für dumm, Sie mögen mich einen Narren und einen Verrückten nennen, aber wenigstens stehe ich aufrecht in einer gefallenen Welt. Wenigstens bin ich noch nicht wie Sie vom Rand in den Abgrund gestürzt.
Nun bringen Sie mich zu ihm, damit ich mit meinen Lippen kundtun kann, was ich mit meinen Augen gesehen habe. Die Zeit ist gekommen, die Zeit auszukaufen, also bringen Sie mich zu ihm, verdammt noch mal! Bringen Sie mich zum Magnificum!«