Vierundvierzig
»Ein gefallener Stern«

»Erzähl es mir noch einmal!«, sagte der Doktor.
Ich tat es ohne Zögern, und mein Blick war so unerschütterlich wie meine Geschichte. Kearns hatte tatsächlich Lunte gerochen und mir keine andere Wahl gelassen, als mich zu verteidigen.
»Er stand also im Begriff, dich aus nächster Nähe zu erschießen«, wiederholte der Monstrumologe zweifelnd. »Mit einer Winchester-Büchse.«
»Ja, Doktor. Er zielte damit genau auf meine Brust und sagte mir, dass es ihm leidtäte, er aber keine andere Wahl habe.«
»So wie du. Keine andere Wahl.«
»Ja, Sir.«
»Also hast du ihm in den Hals gestochen. Während er dir ein Gewehr an die Brust hielt.«
»Ja, Sir.«
»Wie hast du das geschafft? Nahe genug heranzukommen mit dem Lauf einer Winchester zwischen euch?« Es fiel ihm offenbar schwer, es sich vorzustellen.
»Ich schlug das Gewehr mit der linken Hand weg und stieß mit der rechten zu.«
»Du hast es weggeschlagen?«
»Ich meine, ich habe es weggestoßen. Er hat es nie losgelassen.«
»Und er hat die ganze Zeit über nicht gemerkt, dass du ein Messer in der Hand hast?«
»Ich hatte es hinter meinem Rücken versteckt.«
»Als er also das Gewehr hob, um dich zu erschießen«, sagte er langsam, »fuhr deine rechte Hand blitzschnell hinter deinen Rücken, mit der linken schlugst du das Gewehr weg, und im selben Moment zogst du mit der rechten das Messer und stachst ihm in den Hals?«
»Ja.«
»Ja?«
»Ja, Sir.«
Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Das war geistesgegenwärtig.«
»Ja, Sir. Ich meine, danke, Sir.«
»Und ausgesprochen schnelle Reflexe. Das musst du mir irgendwann einmal demonstrieren.«
»Ich musste ihn töten, Dr. Warthrop.«
»Hm. Ja. Ich nehme an, das musstest du, Will Henry. Selbsterhaltung ist dein unbestreitbares Recht.«
»Ich musste es tun«, beteuerte ich beharrlich. »Für uns beide.«
»Mir gefiel der Plan besser, als er beinhaltete, ihn den Pfad hinunterzulocken, damit ich ihm eins über den Schädel ziehen kann.«
»Ich hatte es nicht geplant. Es ist einfach … passiert.«
»Habe ich gesagt, dass du es geplant hast, Will Henry? Nun, das wäre etwas ganz anderes. Es wäre nicht wie das, was in Aden passiert ist. Es war nicht nötig, John Kearns zu töten.«
»Trotzdem ist es besser, dass er tot ist.«
Er runzelte die Stirn. Sein Blick suchte meinen, und noch immer sah ich nicht weg.
»Wieso, Will Henry?«
»Wenn wir ihn einfach nur hiergelassen hätten, hätte er vielleicht einen Weg gefunden, die Insel zu verlassen. Ich glaube, er hätte tatsächlich einen Weg gefunden, weil er … weil er John Kearns ist.«
»Und? Welche Rolle spielt das, solange wir entkommen?«
»Es spielt eine Rolle, Sir, weil Sie immer noch eine Bedrohung für ihn darstellen würden. Sie wissen zu viel. Sie haben zu viel gesehen.«
Es trat ein Schweigen ein. Er sah mich an, und ich erwiderte seinen Blick, während die letzten Sterne am Himmel allmählich verblassten.
»Ich glaube, das haben wir beide, Will«, sagte er, womit er zwar das Schweigen zwischen uns brach, jedoch die Sache, die schweigend zwischen uns lag, unangetastet ließ.
* * *
In der zehnten Stunde unseres letzten Tages auf der Insel des Blutes öffneten sich die mächtigen Arme der Berge vor uns, und wir erblickten die Ebene, die sich zum Meer hin erstreckte. Der Tag war hell und heiß und fast windstill, und ich sah mehrere prächtig gefärbte Eidechsen, die sich auf den Felsen sonnten. Ein Schmetterling flatterte auf Flügeln von schillerndem Blau vorbei. Der Monstrumologe wies mich auf ihn hin und sagte: »Schau ihn dir an! Meilenweit keine Blume – er muss sich verirrt haben.«
Eine ungeschlachte Gestalt erschien unter uns zwischen den beiden Felsbrocken, die den Anfang des Pfades markierten. Zuerst schlug mein Herz höher. Das muss Awaale sein!, dachte ich. Ich beschleunigte meine Schritte; der Monstrumologe packte mich an der Schulter und zog mich zurück. Wir blieben stehen und beobachteten, wie die riesige Gestalt mühsam auf uns zuschlurfte. An ihrem mächtigen Körper hingen Lumpen herab; ihre Füße waren nackt und von den scharfkantigen Steinen aufgerissen und hinterließen blutige Abdrücke. Ihr gewaltiger Mund stand offen; ihre Augen waren schwarz und starr; ihre Hände waren groß und blutverkrustet. Aus ihrer breiten Stirn ragte ein Horn heraus. Wir hatten den Minotaur gefunden.
Ich hob Kearns’ Gewehr. Neben mir gab der Monstrumologe einen leisen, protestierenden Laut von sich, legte die Hand auf den Lauf und drückte ihn herunter.
Das Kind Typhoeus’ hob den schweren Kopf, und sein Mund verzog sich zu einem Knurren gequälter Wut; der blutdurchsetzte Speichel des Pwdre ser schimmerte in der Vormittagssonne. Er wankte auf uns zu, zu schwach zum Laufen, und verlor den Halt. Er fiel hin. Mit einem Beben der enormen Schultern drückte er sich vom felsigen Untergrund hoch, indes Tränen von Pwdre ser über sein verwüstetes Gesicht strömten, und das Licht durchdrang das durchsichtige Fleisch, und ich konnte deutlich bis auf seine Knochen sehen. Er erhob sich, schwankte, fiel wieder hin. Er warf den Kopf in den Nacken; die schwarzen Augen betrachteten den ungetrübten Himmel und weinten.
»›Suchet einen gefallenen Stern‹«, sagte der Monstrumologe, »›und Ihr werdet nur auf irgendeine stinkende Gallerte stoßen, die, beim Stürzen durch den Horizont, einen Moment lang einen Anschein von Herrlichkeit angenommen hat.‹«
In seinen Augen glänzten Tränen des Mitleids. Beide weinten sie, das Monster und der Mann, der gefallene Stern und der ihn Suchende.
Und wenn ich meinen Fuß auf die Gestade der Insel des Blutes setze, um die Fahne des Eroberers einzupflanzen, wenn ich den Gipfel des Abgrunds erreiche, wenn ich das Wesen finde, das wir alle fürchten und das wir alle suchen, wenn ich mich umdrehe, um dem Gesichtslosen ins Antlitz zu schauen, wessen Gesicht werde ich da sehen?
Der Mann hob den Revolver auf die Augenhöhe des Monsters.
* * *
Wir fanden Gishub vor, wie wir es verlassen hatten, aufgegeben, eine Stadt der Toten. Jahre würden vergehen, bevor das Leben wieder Einzug hielt. Die Gefallenen würden verbrannt werden, ihre Asche der Erde wieder übergeben, aus der sie gekommen waren, die Häuser leer geräumt und gereinigt, und eine andere Generation würde sich aufs Meer begeben für die Ernte. Das Leben würde zurückkehren. Das tut es immer.
Wir warteten auf Awaale. Ich zweifelte nicht daran, dass er kommen würde. Alle Namen bedeuten etwas, hatte er mir erzählt. Wir saßen im länger werdenden Schatten eines Drachenblutbaums, und die pralle Sonne wanderte zum Horizont, und die Luft war durchflutet von goldenem Licht. Das Licht tanzte auf dem Laub, das leise über meinem Kopf sang. Ich blickte den Abhang hinunter zum Meer und sah, balancierend auf dem Rand der Welt, ein Schiff mit tausend Segeln. Mein Vater hatte einen Weg gefunden, sein Versprechen zu halten, durch den ungewöhnlichsten Menschen.
Der Arm dieses Menschen legte sich um meine Schulter. Seine Stimme sprach in mein Ohr.
»Ich werde dich nie wieder verlassen, Will Henry. Ich werde dich nie im Stich lassen. Solange ich lebe, werde ich auf dich aufpassen. So wie du mich aus der Dunkelheit herausgebracht hast, so werde ich die Dunkelheit von dir fernhalten. Und wenn die Flut mich überwältigen sollte, werde ich dich auf meine Schultern heben; ich werde nicht zulassen, dass du ertrinkst.«
Es war sein Moment des Triumphs. Der Moment, da er sich umgedreht und dem Ding ins Gesicht geblickt hatte, das wir alle fürchten und das wir alle suchen.
Fast konnte ich sie hören, die Fahne des Eroberers, wie sie in der Brise knatterte.
* * *
Bei Einbruch der Dunkelheit gingen wir hinunter ans Ufer. Die Dagmar war zwischen dem nassen Sand und dem Horizont vor Anker gegangen, und zwischen uns und der Dagmar fuhr ein Dingi auf der hereinkommenden Strömung, um uns nach Hause zu bringen.
»Awaale?«, sagte ich.
»Er kommt vielleicht nicht, Will«, sagte der Doktor. »Kearns hat vielleicht recht gehabt.«
Ich dachte an einen Mann, der wie ein Koloss in einer gefallenen Welt stand und ein Kind in den Armen wiegte und mit donnernder Stimme sagte: Barmherzigkeit zu zeigen ist nicht naiv. Sich wider das Ende der Hoffnung zu behaupten ist nicht Dummheit oder Wahnsinn. Es ist fundamental menschlich.
»Nein«, sagte ich. »Sie hatten recht, Doktor.«
Ich zeigte nach Osten, wo ein Mann barfuß in der krachenden Brandung ging, ein Riese von einem Mann, dessen dunkle Haut in den letzten Strahlen der sterbenden Sonne leuchtete. Selbst aus der Entfernung konnte ich sein breites Lächeln sehen. Ich wusste, was dieses Lächeln bedeutete. Und er, der blutdürstige Pirat, dessen Herz nicht länger belastet war, hob die Hand und winkte mit kindlicher Freude.
* * *
Von Sokotra nach Aden, dann von Aden nach Port Said, wo Fadil sein Versprechen hielt und uns ein Festmahl von fasieekh und kofta bot und mich seinen Zwillingstöchtern, Astarte und Dendera, vorstellte. Er sagte ihnen, sie könnten es schlechter treffen als Ophois zu heiraten, das Mündel Mihos’, Hüter des Horizonts. Möglicherweise habe ich Port Said verlassen und war mit einer von ihnen verlobt; ich bin mir nicht sicher.
Bevor wir den Dampfer nach Brindisi bestiegen, schickte Warthrop ein Kabel nach New York:
DAS MAGNIFICUM IST UNSER.
»›Das Magnificum ist unser‹?«, echote ich. Ich befürchtete, mein Herr hätte seinen Verstand fahren lassen.
»Na ja, den Russen gehört es auf jeden Fall nicht!«, meinte er mit einem Lächeln. »Wir haben der schrecklichen Bestie ›die Zähne gezogen‹.« Er tätschelte seine Instrumententasche. »Ich hoffe, du kannst die Ironie davon würdigen, Will Henry. Ein gesunder Sinn fürs Ironische ist der beste Weg, sich seine geistige Gesundheit zu bewahren in einer Welt, der sie oft verloren gegangen ist; ich empfehle ihn wärmstens. Aber man wird uns keinen heldenhaften Empfang bereiten, es wird keine Auszeichnungen oder Paraden zu unseren Ehren geben. Unser Sieg über Typhoeus wird weder verkündet noch besungen werden. Eine Niederlage für Pellinore Warthrop. Ein Triumph für die Monstrumologie.« Dann korrigierte er sich. »Nein. Für die Menschheit.«
* * *
Übers Mittelmeer nach Brindisi, wo wir den Zug nach Venedig bestiegen. Der Doktor schickte mich auf einen besonderen Botengang, einen, der sich als eine ziemliche Herausforderung für einen dreizehnjährigen Jungen herausstellte. »Gib dich nicht mit den Erste-Klasse-Passagieren ab. Geh geradewegs in die dritte Klasse. Geld hat es so an sich, die Milch der Menschenliebe gerinnen zu lassen.« Schließlich gelang es mir, den gesuchten Gegenstand von einem Inder, der aus Bombay ausgewandert war, zu borgen.
»Normalerweise gebe ich mich ja nicht dem Aberglauben hin, aber vielleicht bringt es mir ja Glück«, gestand Warthrop, als er sich hinsetzte. Er lockerte seinen Kragen und hob das Kinn. Er beäugte die Rasierklinge, die in meiner Hand glänzte. »Ruhig jetzt! Wenn du mich schneidest, werde ich sehr ärgerlich und schicke dich ohne Abendessen ins Bett!«
Er begutachtete das Werk meiner Hände im Spiegel und befand es für ordentlich ausgeführt.
»Ob ich mir in Venedig einen Barbier suchen sollte?«, überlegte er laut, während er mit den Fingern durch seine schulterlangen Locken fuhr. Dann zuckte er die Schultern. »Ich sollte es nicht übertreiben, was?«
Es war schon deutlich nach neun Uhr abends, als wir in Venedig ankamen. Das dunkle Wasser der Kanäle glitzerte wie Diamanthalsbänder, und die Luft war feucht von nahendem Regen. Ich erkannte dieselben Leute in dem Klub wieder, die ich schon Wochen zuvor gesehen hatte, als wären sie nie gegangen, als stünde die Zeit still in Venedig.
Vielleicht tat sie das ja. Der Doktor bestellte sich ein Getränk bei demselben bassetgesichtigen Kellner; Bartolomeo kam heraus und setzte sich ans Klavier und trug dieselbe schwarze Weste und dasselbe weiße, schweißgetränkte Hemd; die Tür neben der Bühne öffnete sich, und hervor kam Veronica Soranzo in einem verblassten roten Abendkleid, das mit demjenigen, welches sie meinem Herrn gegeben hatte, identisch war. Bartolomeo spielte energisch, Veronica sang schlecht, und Pellinore sah hingerissen zu. Am Ende des Lieds kam sie an unsern Tisch, schlug ihm zum Gruß mit der flachen Hand auf die frisch rasierte Wange, nannte ihn bastardo und idiota, und von der Bühne lachte Bartolomeo.
»Du hast nie auf mein Kabel geantwortet«, sagte der Doktor zu ihr.
»Wie viele meiner Briefe hast du nicht beantwortet?«, erwiderte sie scharf.
»Ich dachte, du könntest tot sein.«
»Ich fürchtete, du könntest am Leben sein.«
»Hab Geduld.«
Sie musste wider Willen lachen.
»Was willst du, Pellinore?«, fragte sie. »Welches Monster jagst du jetzt?«
Er raunte ihr etwas ins Ohr. Ich sah, wie sie unter der dick aufgetragenen Schminke errötete.
»Aber warum, Pellinore?«, fragte sie.
»Warum nicht?«, entgegnete er mit einem Lachen. »Solange ich hier bin – und solange du hier bist –, aber am wichtigsten, solange wir beide noch können!«
Der Monstrumologe zog sie vom Stuhl hoch und in seine Arme. Bartolomeo verstand das Einsatzzeichen und fing an, einen Walzer zu spielen. Die Stammgäste an den Tischen hoben die Gläser und beachteten sie nicht. Bartolomeo beobachtete sie auch nicht; er war in die Musik vertieft. Ich war der Einzige, der ihnen zusah, wie sie im rauchigen gelben Licht tanzten, während draußen der Regen die Pflastersteine der Calle De Canonica küsste. Da war die Frau in Rot und der einsame Mann, der mit ihr tanzte, und der Junge, der ihnen zusah, allein.
Die Welt ist groß, und schnell ist vergessen, wie ganz klein wir sind. Wie die Sternenfäule verzehrt uns die Zeit. Er hatte gedacht, die Suche würde ihm Unsterblichkeit bringen, einen Triumph, der seinen kurzen Auftritt auf der Bühne überdauern würde. Er hatte sich geirrt. Pellinore Warthrop würde der Vergessenheit anheimfallen, seine noble Arbeit keine Anerkennung erfahren, sein Opfer von den Taten geringerer Männer überschattet werden. Er hätte sich in Verzweiflung ergehen können; er hätte auf den trockenen Knochen der Verbitterung und des Bedauerns herumkauen können.
Stattdessen kam er nach Venedig, und er tanzte.
Wir alle sind Jäger. Wir sind, wir alle, Monstrumologen. Und Pellinore Warthrop war der beste von uns. Denn er hatte den Mut aufgebracht, sich umzudrehen und dem schrecklichsten Monster von allen ins Gesicht zu sehen.