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WOCHEN SPÄTER führe ich ein Leben wie vor meinem Aufbruch nach Rom. Die einzigen Unterschiede bestehen darin, dass ich kein Klavier mehr übe und nicht mehr jeden Tag nach Köln zum Gymnasium fahre. Ich übernachte in meinem früheren Zimmer oben unter dem Dach, ich habe die alten Bücher um mich und lese manchmal ein wenig in ihnen, meine Schallplatten habe ich ins Blockhaus meines Vaters gebracht und sie in seine Schallplattensammlung einsortiert.
Eine regelmäßige Arbeit habe ich nicht, und meine Eltern drängen mich auch nicht, eine solche Arbeit zu suchen. Im Gegenteil, meine Mutter hat sich für eine längere Pause ausgesprochen, und mein Vater meint ebenfalls, dass ich nichts überstürzen, sondern erst wieder ganz gesund werden solle.
 
Ich trage weiter eine Bandage an der rechten Hand und fahre ab und zu in die Kölner Universitätskliniken, um mich dort untersuchen zu lassen. Der zuständige Arzt legt mir jedes Mal nahe, nicht wieder mit dem Klavierspiel zu beginnen, er redet eindringlich auf mich ein und erzählt von Fällen, in denen sich die Krankheit nach vorzeitigem Üben so sehr verschlimmert haben soll, dass der Patient nur mit hohen Dosierungen an Medikamenten leben konnte.
Wenn ich so etwas höre, nicke ich und tue so, als sei ich beeindruckt, das bin ich aber nicht, schließlich weiß ich, dass ich nie mehr Klavier spielen werde, nie mehr. Ich habe die Pianistenlaufbahn endgültig aufgegeben, und ich werde erst recht keine Anstrengungen unternehmen, einen Beruf zu erlernen, der sonst etwas mit dem Klavier zu tun hat. Obwohl ich das absolute Gehör habe, werde ich kein Klavierstimmer werden, und ein Klavierlehrer werde ich auch nicht werden, auf keinen Fall, niemals.
 
In diesen ersten Wochen nach meiner Rückkehr kann ich sogar überhaupt keine Musik mehr hören. Sobald ich aus dem Blockhaus meines Vaters Musik höre, suche ich nach einem Ort, an dem ich davon nichts mitbekomme. Nur die französischen Chansons, von denen meine Mutter noch immer täglich einige hört, sind erträglich.
 
Überhaupt fühle ich mich in der Gegenwart meiner Mutter wieder am wohlsten. Sie führt inzwischen ein Leben, das mindestens zur Hälfte mit Frankreich zu tun hat und von französischen Romanen und französischer Musik genährt und begleitet wird. Noch immer liest sie gern vor, ja, das Vorlesen ist sogar zu einer ihrer liebsten Beschäftigungen geworden. So gibt es in der kleinen Landbibliothek, die sie leitet, einmal in der Woche einen Vorleseabend, an dem sie in Fortsetzungen aus Romanen liest.
Da ich das gerne auch einmal erleben möchte, gehe ich mit ihr und höre mir eine solche Lesung an. Der Lesesaal ist mit Menschen überfüllt, sie sitzen zwischen den Bücherregalen bis zum Fenster, sie kommen aus allen Altersklassen, und die meisten von ihnen haben bestimmt noch nie einem Vorleser zugehört.
Wegen der schlechten Luft stehen die Fenster weit offen, so dass man die weiche Stimme meiner Mutter auf dem gesamten Kirchplatz hört. Auch dort draußen bleiben die Menschen manchmal stehen und hören zu, die Wirkung, die von dieser sacht auf und ab schwingenden, jeder Satznuance folgenden Stimme ausgeht, ist unglaublich.
Mutter liest Romane von Balzac, einen nach dem andern, sie will den ganzen Balzac vorlesen, in einer jahrelang sich fortsetzenden Vorlese-Reihe. Wenn sie zu Hause etwas im Stillen liest, widmet sie sich Stendhal, Flaubert und Proust, ich bitte sie, mir und nur mir aus den Romanen dieser Schriftsteller vorzulesen, und sie freut sich, dass ich mir das von ihr wünsche.
 
Und so sitzen wir wie in meinen Kindertagen im Wohnzimmer, trinken Tee, hören Chansons und reisen in Gedanken nach Frankreich. Mutter meint, dass solche Nachmittage wertvoller seien als jede Medizin, und Vater stimmt so kühnen Behauptungen jedes Mal zu, weil ihm auch noch keine Alternative für mein Leben einfällt. Ich selbst aber werde von Tag zu Tag ein wenig ruhiger. Ich schlafe morgens aus, gehe in der Umgebung spazieren, erledige für meine Mutter die Einkäufe und arbeite in dem großen Garten, der das Haus umgibt. Ich habe das Gefühl, in Rom einen steilen Weg hinauf in eine schwindelerregende Höhe gegangen und mitten auf diesem Weg abgestürzt zu sein. Ich habe alles gegeben und alles verloren, das rede ich mir ein, und mit der Zeit erscheint mir diese Version wirklich als meine Geschichte.
 
Die Sehnsucht nach der Ewigen Stadt freilich wird dadurch nicht schwächer. Ich träume noch immer von Rom, ich träume von Clara, und ich telefoniere heimlich mit Signora Francesca, um die brennende Sehnsucht wenigstens notdürftig zu stillen. Meist bitte ich sie, ein Fenster zu öffnen und mich die Geräusche aus dem Innenhof des römischen Wohnhauses hören zu lassen. Signora Francesca kommt diesem Wunsch gerne nach, sie versteht mich, und sie beendet jedes Telefonat mit den Worten: Johannes, Du weißt, hier ist für Dich immer ein Zimmer frei!
 
Es gibt Tage, an denen ich nahe dran bin, sofort wieder nach Süden zu reisen. Dann helfe ich mir, indem ich mich in mein Zimmer zurückziehe und über den Weltempfänger italienische Rundfunksender höre. Ich lege mich auf mein Bett und höre das Perlen der italienischen Sprache, ich stelle mir vor, ich sei in den römischen Straßen unterwegs. In der ersten Kapelle der Chiesa Sant’ Andrea della Valle im rechten Seitenschiff befindet sich welches Gemälde? Und in der ersten Kapelle rechts der Chiesa Santa Maria del Popolo hat der Maler Pinturicchio welche Szene gemalt?
Rom ist ein großes Puzzle, das ich wie in einem Spiel mit wechselnden Schwierigkeitsgraden zusammensetze. Ich spreche darüber mit niemandem, es ist ein Spiel, das ich brauche, um die stets latente Trauer nicht allzu mächtig werden zu lassen.
 
Meinen Eltern erzähle ich von meinen römischen Lehrern und Freunden, von meinen Konzerten und Auftritten. Für Mutter sind diese Erzählungen ein Pendant zu ihren Vorlesestunden, während mein Vater sich meine Geschichten still anhört, als warte er insgeheim noch auf einen besonderen Clou. Manchmal vermute ich, dass meine Eltern mir die Liebe zu Clara anmerken, diese große Lücke in meinen Geschichten muss doch spürbar sein, niemand von ihnen fragt mich aber nach einem solchen Thema.
Ich vermute, dass ein solches Nachfragen in Mutters Fall mit einer starken Eifersucht verbunden wäre. Diese Eifersucht ist nämlich bereits zu spüren, wenn ich nur kurz Signora Francesca erwähne und davon erzähle, wie gut ich mich mit ihr verstanden habe. In Deinen Briefen hast Du sie gar nicht so ausführlich erwähnt, sagt Mutter und tut so, als verschweige ich etwas. Selbst als ich eher nebenbei sage, dass die Signora schon weit über sechzig Jahre alt ist, reagiert Mutter bei jeder Erwähnung mit einer leichten Unruhe. In meiner unmittelbaren Nähe gibt es nur Männer und eigentlich auch nur ernste Männer, so stellt Mutter sich mein bisheriges Leben und wahrscheinlich auch das zukünftige vor.
Und ich?! Wie stelle ich mir mein Leben vor? Ich denke oft darüber nach, habe aber keinen zündenden Einfall. Das Einzige, was ich früher wirklich gut konnte, war Klavierspielen, zu mehr habe ich es nicht gebracht. Auch wenn ich mich frage, was mir denn Freude machen könnte, komme ich auf nichts Nennenswertes. Freude machen könnte mir höchstens, eine Gartenwirtschaft an einem Fluss zu betreiben, vielleicht würde es aber auch reichen, wenn ich als Kellner in einer solchen Gartenwirtschaft arbeiten würde.
 
Auf keinen Fall aber möchte ich noch einmal ein Projekt angehen, mit dem es hoch hinauf gehen soll. Ich möchte nicht hoch hinauf, nein, ich habe in dieser Hinsicht nicht mehr die geringsten Ambitionen. Deshalb tue ich mich auch mit den Gedanken an ein Studium schwer. Was könnte ich denn studieren? Vielleicht Landschaftsplanung oder Gartenbau, vielleicht Raumkomposition oder Spaziergangswissenschaft, wenn es denn so etwas gäbe.
Schon die bloße Vorstellung aber, einen Hörsaal betreten, Vorlesungen hören, Seminare besuchen und Prüfungen ablegen zu müssen, wirkt auf mich sehr abschreckend. Ich möchte mit dem sogenannten Ernst des Lebens nichts mehr zu tun haben, ich möchte mich dem Leben entziehen, am liebsten würde ich mein Leben damit verbringen, in Ruhe weiter mit meinen Eltern zusammenzuleben und ihnen dabei zu helfen, das Alter, so gut es geht, zu genießen.
 
Das Einzige, womit ich mich immer wieder beschäftige, sind meine alten Kladden, die in den grünen Kartons von Vaters Blockhaus untergebracht sind. Sie füllen etwa die Hälfte dieser Kartons, in der anderen aber sind die vielen Tausend Zettel, die Mutter während ihrer stummen Jahre beschrieben hat.
Wenn Vater tagsüber unterwegs und Mutter in der Bibliothek ist, ziehe ich mich in das stille Blockhaus zurück und lese in diesen Quellen. Mutters Zettel sind exakt datiert, mit Tages-, Stunden- und Minutenangabe. Ich erfahre, wo ich mich in diesen Zeiten aufgehalten, womit ich gespielt und welchen Eindruck ich auf meine Mutter gemacht habe. In solche Bemerkungen eingeschoben sind Notizen zum Wetter, zu dem, was Mutter gelesen und was sie an Gesprächsfetzen auf den Straßen aufgeschnappt hat, sowie zu bestimmten Waren, die dringend eingekauft werden sollen.
 
Manchmal kommt es vor, dass mein Hirn Phasen eines bestimmten Kindertages rekonstruiert und neu erzählt. Ich schließe dann die Augen und erlebe zum Beispiel noch einmal, wie ich an einem bestimmten Tag als Kind mit Mutter hinunter auf die Straße ging. Es ist ganz einfach, ich brauche die Notizen meiner Mutter nur in einen Text zu übertragen, der alles aus meiner Perspektive und von heute aus sieht: Es war der siebzehnte September 1956, ich hatte Durst, die Finger meiner Mutter rochen nach Zimt, wir hatten vergessen, die Fenster des Wohnzimmers zu schließen, deshalb regnete es am frühen Abend, als wir noch am Rhein saßen, hinein …
 
Ein noch größeres Vergnügen aber macht mir die Lektüre der Kladden mit meinen Reise-Notizen. Seltsamerweise ähneln die Eintragungen den Notizen meiner Mutter auf ihren Zetteln, sie sind jedoch eine Spur privater und emotionaler und enthalten allerhand erstaunte Ausrufe und Deklamationen, als hätte ich während dieser Reisen dann und wann einen Lyrik-Anfall bekommen: Schloss Vollrads im Rheingau, 13. September 1969, 19 Uhr: Wenn ich doch hoch oben, im alten Turm des Schlosses, wohnen dürfte! Wenn ich hinabsehen könnte, bis zum Rheintal und seinen Auen und Inseln! Ich würde Hymnen schreiben, Hymnen, die staunen machen!
 
Wenn ich so etwas lese, muss ich grinsen, was war ich vor meiner Rom-Zeit bloß für ein merkwürdig verspanntes Subjekt! Unaufhörlich hat sich dieses Subjekt Notizen gemacht, die Kladden machen sogar den Eindruck, als sei dieses Subjekt kein Pianist, sondern eher ein junger, romantischer Dichter, der halb Deutschland auf der Suche nach neuen Versen durchquert.
Die Musik dagegen kommt nur selten und meist nur in Zusammenhang mit dem Namen Schumann vor, manches Mal hat es sogar den Anschein, als halte sich der junge, unentwegt hymnisch deklamierende Dichter für eine Nachgeburt dieses über die Maßen verehrten Komponisten: Abends in Bacharach, Schumann-Stunde. Eine dunkle, leichte Zigarre, fünf Gläser Rheinwein, ein verstimmtes Klavier. Spielte etwas aus den »Davidsbündlertänzen«, die mir sehr gut gelangen …
 
Trotz ihrer Verspanntheit und ihres Überschwangs erregen mich diese Notizen. Irgendetwas Dunkles, Feuriges steckt in ihnen, irgendetwas wirkt weiter auf mich. Hätte ich bloß auf die überdrehten Partien verzichtet, und hätte ich meinen Gefühlen bloß nicht derart oft unkontrolliert Raum gelassen: As-Dur, das ist die zärtlichste, aber auch traurigste Dur-Tonart überhaupt! … Beethoven und Schubert haben in As-Dur gedichtet!
 
Ich ertappe mich dabei, wie ich ganze Passagen dieser Notizbücher umschreibe. Ich lege neue Kladden an und komponiere die Eintragungen zu kleinen Erzählungen. Die hymnischen Deklamationen lasse ich weg und vermeide überhaupt allzu stark Emotionales. Das Emotionale soll nicht benannt werden, aber auch nicht verschwinden, es soll unter der Oberfläche erscheinen – so will ich es jetzt: Mainz, 17. Dezember 1969. Am Rhein. Um den Vollmond fliegen Wolkenfetzen, die sich sofort wieder zerstreuen. Die fahle Himmelsdecke ist an einigen Stellen weit aufgerissen, ich kann die leuchtenden Sterne erkennen. Auf einem vorbeifahrenden Lastschiff flattern Wäschestücke an einer Leine, eine Tür ist so weit geöffnet, dass der Lichtschein auf ein neben der Wäsche stehendes Fahrrad fällt …
 
Das alles sind Spielereien, nicht mehr, ich vertreibe mir mit ihnen die Zeit und komme mir vor wie ein Lehrer, der die Notizen seines Meisterschülers korrigiert und in eine erträgliche Fassung bringt. Insgeheim aber bin ich dabei, dem jungen Mann, der ich war, eine andere, zweite Geschichte zu schreiben. Diese Geschichte ist durch die Rom-Zeit geprägt, und sie macht aus dem euphorischen jungen Subjekt, das ganz Deutschland wie ein junger Schumann bereist, eine gebrochene, melancholische Erscheinung, die weder ein Projekt noch sonst eine Zukunfts-Idee hat. Stattdessen reist sie, sie reist unentwegt, ihr ganzes früheres Leben ist nichts als Reisen und Unterwegs-Sein.
 
Mitten in diesen Spielereien werde ich durch einen Anruf von Walter Fornemann aufgeschreckt, der sich angewöhnt hat, ab und zu mit meiner Mutter zu telefonieren. Sie sprechen über französische Literatur und Musik, Fornemann empfiehlt bei solchen Gelegenheiten neue Schallplatten oder macht Vorschläge für Konzertbesuche in Köln, meine Mutter hört sich das an, ohne je daran zu denken, einem solchen Vorschlag zu folgen.
Diesmal erwähnt sie meine Rückkehr aus Rom, die sie vor Fornemann erst noch eine Weile geheim gehalten hat. Er will mich sofort sprechen, und da Mutter sich nicht zu helfen weiß, holt sie mich an den Apparat. Ich sage kaum ein Wort, ich wirke auf Fornemann erschreckend schweigsam, natürlich wittert er sofort, dass in Rom mit mir etwas geschehen ist. Was ist in Rom geschehen, Johannes?, fragt er gleich mehrmals, und ich weiche zweioder dreimal aus. Ich frage Dich zum letzten Mal, was ist in Rom geschehen?, sagt er schließlich mit besonderem Nachdruck.
Da antworte ich endlich: Es ist aus, ich spiele nicht mehr Klavier, ich bin gescheitert. Als Fornemann das hört, will er mich sofort sehen. Du kommst morgen nach Köln, sagt er und legt von sich aus fest, wo und wann wir uns treffen: Am Nachmittag …, Walter Fornemann und ich – wir werden uns am darauffolgenden Nachmittag am Rhein in Köln treffen.
Dort erzähle ich ihm die ganze Geschichte, von der er bisher nur jene positiven Bruchstücke kennt, die ihm meine Mutter früher einmal am Telefon erzählt hat. Fornemann hat geglaubt, dass ich mich auf dem besten Weg befand, nicht einmal im Traum hat er für möglich gehalten, dass ich mein römisches Studium irgendwann abbrechen würde. Du siehst kaputt aus, richtig kaputt, sagt er und möchte mich am liebsten gleich mit zu einem Friseur nehmen, damit mir dort die Haare gekürzt werden.
 
Wir gehen bis Rodenkirchen am Rhein entlang, machen wieder kehrt, gehen zurück und machen uns erneut auf den Weg Richtung Rodenkirchen. Fornemann drängt mich, dass ich mein Studium fortsetzen und ein guter Klavierlehrer werden soll. Ich lehne das ab, ich sage ihm, dass ich nie wieder Klavier spielen werde. Er ist so entsetzt, dass er ungewöhnlich laut wird, er nennt mein Verhalten dreist, armselig und undankbar, und er gerät außer sich, als ich ihm sage, dass mich seine Angriffe nicht erreichen, ja dass sie mich nicht einmal interessieren.
 
Eine halbe Stunde gehen wir schweigend nebeneinander her, dann macht Fornemann einen letzten Anlauf: Hast Du irgendeine Idee für die Zukunft? – Nein, die habe ich nicht. – Was soll denn aus Dir werden, Johannes? – Ein guter Kellner. – Du bist unverschämt, Du benimmst Dich wirklich unverschämt. – Warum ist der Vorsatz, ein guter Kellner zu werden, so unverschämt? – Darauf antworte ich nicht. – Was sollte ich denn Ihrer Meinung nach tun? Etwa in Kölsch-Kneipen das musikalische Hänneschen spielen? – Du wirst immer unverschämter. – Ja, das werde ich, verdammt noch einmal, Ihnen fällt doch auch nichts mehr ein, Sie sind doch genau wie ich mit Ihrem Latein am Ende! Warum reden Sie denn noch so lange herum, geben Sie es doch zu und halten Sie endlich den Mund!
 
Ich schreie Fornemann an, ich stehe am Rhein und tue etwas, das ich noch nie getan habe, ich beleidige meinen alten Lehrer, dem ich so viel verdanke. Ich spüre sofort, dass ich eine Grenze überschritten habe, und es tut mir auch sofort leid, noch nie habe ich mich so gehen lassen. Ich wende mich von Fornemann ab und blicke auf den Fluss, ich zittere, mir laufen Tränen übers Gesicht, verdammt, was ist denn bloß mit mir los?
Fornemann soll die Tränen nicht sehen, ich will ihm so einen entsetzlichen Auftritt ersparen, deswegen mache ich ein paar Schritte auf das Wasser zu. Es ist ganz leicht, sich das Leben zu nehmen …, warum geht mir dieser teuflische Gedanke gerade jetzt wieder durch den Kopf?
Ich hätte nach meiner Rückkehr aus Rom nicht sofort ins Haus meiner Eltern zurückkehren dürfen, ich hätte mich irgendwohin zurückziehen sollen, um mir zunächst meine Hilflosigkeit aus dem Leib zu schreien! Schreien, ja, ich hätte schreien sollen, tagelang schreien, nichts als schreien! Jetzt hat es mich zum falschen Zeitpunkt erwischt, jetzt bin ich in die Falle gelaufen.
 
Ich drehe mich wieder um und schaue Fornemann an: Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?! Warum gehen wir hier noch zusammen spazieren? Ich möchte allein gelassen werden, verstehen Sie, ich möchte mit Ihnen nichts mehr zu tun haben! Ergötzen Sie sich an Ihrem Debussy oder, besser noch, spielen Sie Chopin, machen Sie, was Sie wollen, aber nehmen Sie nie mehr mit mir Kontakt auf. Haben Sie verstanden?! Haben Sie endlich verstanden?!
 
Ich sehe, dass Fornemann schwer atmet, und ich sehe, dass ihm plötzlich die Mundwinkel nach unten sinken. Sein Gesicht verwandelt sich in eine fremde Maske, es ist eine Maske aus Stein, Fornemann schützt sich vor mir durch eine Maske, denke ich gleichzeitig und mache einen Schritt auf ihn zu.
Leben Sie wohl, sage ich und strecke ihm meine Hand entgegen, doch Fornemann rührt sich nicht. Ich halte ihm meine Hand aber weiter entgegen, ich halte meine Hand in die Luft, ein paar Sekunden halte ich sie ihm entgegen und sage dann: Hören Sie nicht auf den Mist, den ich rede, hören Sie nicht auf mich. Sie waren ein wunderbarer Lehrer, Sie waren der beste Lehrer, den ich je hatte. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, ich danke Ihnen. Aber jetzt möchte ich gehen, für immer, Sie werden das sicher verstehen.
 
Ich lasse die Hand sinken und gehe davon, ich mache mich aus dem Staub. Ich gehe weiter am Rhein entlang, Richtung Eisenbahnbrücke, ich unterquere die Deutzer Eisenbahnbrücke und gehe weiter nach Norden. Ich weiß, dass ich jetzt in eine gefährliche Nähe zu meinen Kindheitsplätzen gerate, schon erkenne ich vertrautes Terrain, ich tue aber so, als nähme ich das alles nicht zur Kenntnis, ich schaue vor mich hin und gehe stur weiter.
 
Jetzt reicht’s aber, höre ich da Walter Fornemann sagen, der neben mir auftaucht. Ich antworte nicht, und auch Fornemann sagt nichts mehr, wir gehen schweigend am Rhein entlang und geraten jetzt in die Nähe der Bänke, auf denen ich als Kind immer mit Mutter gesessen habe. Ich mag nicht mehr weitergehen, sage ich, und Walter Fornemann antwortet: Dann setzen wir uns, los, wir setzen uns jetzt, ich möchte, dass wir uns setzen.
 
Wir setzen uns nebeneinander auf eine Bank, ich lehne mich etwas zurück und lasse die Beine über dem Boden baumeln. Wo möchtest Du anfangen mit dem Kellnern?, fragt Fornemann. – Ich weiß nicht. – Ich kenne den Wirt eines Lokals in Rodenkirchen, soll ich ihn fragen? – Nein, ich suche mir allein etwas.
Wir schweigen, wir schweigen mindestens eine halbe Stunde. Sie haben noch einen letzten Vorschlag frei, sage ich dann und lasse die Beine weiter baumeln. – Du wartest auf etwas Originelles, Johannes, ich aber finde alles Originelle abscheulich. – Dann sagen Sie etwas Unoriginelles. – Ich an Deiner Stelle würde mich an der Universität umsehen, in allen Fächern, die mich auch nur eine Spur interessieren. Ich würde in Vorlesungen und Seminare gehen, ich würde versuchen, herauszubekommen, was an diesem Wissen dran ist. Und wenn ich fündig geworden wäre, würde ich zwei, drei Fächer studieren, intensiv. Was hältst Du davon? – Wenn ich ehrlich bin: Nichts! – Nichts?! Und womit willst Du Dir Deine viele Zeit vertreiben? Was willst Du in all Deinen freien Stunden tun, neben dem Kellnern? – Spazieren gehen, unterwegs sein, schreiben. – Und worüber willst Du schreiben? – Ich will meine Notiz- und Tagebücher von früher umschreiben. – Deine Notiz- und Tagebücher? Davon hast Du noch nie erzählt. – Warum hätte ich davon erzählen sollen? Es steht nichts Wichtiges drin. – Und warum willst Du sie dann umschreiben? – Weil ich den überdrehten Unsinn, der drinsteht, nicht mehr ertragen kann, weil ich aus dem überdrehten Unsinn etwas Gutes machen möchte. – Wie viele solcher Tagebücher gibt es denn? – Es gibt Kladden, schwarze Kladden, seit meinen Kinderjahren habe ich in schwarze Kladden geschrieben. – Und wie viele sind dabei zusammengekommen? – Ich weiß es nicht, ich habe sie nicht gezählt, ich vermute, es sind an die tausend. – Du besitzt tausend Kladden mit Tagebüchern? – Ich besitze tausend Kladden mit sehr konkreten Eintragungen über das, was ich gesehen habe.
 
Ich rücke auf der Bank wieder etwas nach vorn, ich setze die Beine auf den Boden, es geht mir besser. Darf ich Sie zu einem Kölsch einladen?, frage ich Fornemann. – Du darfst, wenn Du mich in Zukunft duzt, antwortet er. – Ich kann Sie nicht duzen, tut mir leid, sage ich. – Na dann eben nicht, Du verdammter Dickkopf, sagt er und fragt dann noch, wo wir das Kölsch trinken sollen. – Im »Kappes«, sage ich, gleich in der Nähe. – Warst Du schon mal im »Kappes«?, fragt Fornemann. – Ja, ich war schon einmal im »Kappes«, antworte ich, ich war sogar schon tausende Male im »Kappes« …
 
Als wir aufstehen, sehe ich, dass Fornemann mit dem Kopf schüttelt. Er glaubt mir nicht, er hält meine letzte Bemerkung für einen weiteren Wutausbruch. Walter Fornemann ist also ahnungslos, Walter Fornemann ahnt nicht, wohin er mich am frühen Abend unseres Wiedersehens in Köln begleitet.