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WOCHEN SPÄTER führe
ich ein Leben wie vor meinem Aufbruch nach Rom. Die einzigen
Unterschiede bestehen darin, dass ich kein Klavier mehr übe und
nicht mehr jeden Tag nach Köln zum Gymnasium fahre. Ich übernachte
in meinem früheren Zimmer oben unter dem Dach, ich habe die alten
Bücher um mich und lese manchmal ein wenig in ihnen, meine
Schallplatten habe ich ins Blockhaus meines Vaters gebracht und sie
in seine Schallplattensammlung einsortiert.
Eine regelmäßige
Arbeit habe ich nicht, und meine Eltern drängen mich auch nicht,
eine solche Arbeit zu suchen. Im Gegenteil, meine Mutter hat sich
für eine längere Pause ausgesprochen, und mein Vater meint
ebenfalls, dass ich nichts überstürzen, sondern erst wieder ganz
gesund werden solle.
Ich trage weiter
eine Bandage an der rechten Hand und fahre ab und zu in die Kölner
Universitätskliniken, um mich dort untersuchen zu lassen. Der
zuständige Arzt legt mir jedes Mal nahe, nicht wieder mit dem
Klavierspiel zu beginnen, er redet eindringlich auf mich ein und
erzählt von Fällen, in denen sich die Krankheit nach vorzeitigem
Üben so sehr verschlimmert haben soll, dass der Patient nur mit
hohen Dosierungen an Medikamenten leben konnte.
Wenn ich so etwas
höre, nicke ich und tue so, als sei ich beeindruckt, das bin ich
aber nicht, schließlich weiß ich, dass ich nie mehr Klavier spielen
werde, nie mehr. Ich habe die Pianistenlaufbahn endgültig
aufgegeben, und ich werde erst recht keine Anstrengungen
unternehmen, einen Beruf zu erlernen, der sonst etwas mit dem
Klavier zu tun hat. Obwohl ich das absolute Gehör habe, werde ich
kein Klavierstimmer werden, und ein Klavierlehrer werde ich auch
nicht werden, auf keinen Fall, niemals.
In diesen ersten
Wochen nach meiner Rückkehr kann ich sogar überhaupt keine Musik
mehr hören. Sobald ich aus dem Blockhaus meines Vaters Musik höre,
suche ich nach einem Ort, an dem ich davon nichts mitbekomme. Nur
die französischen Chansons, von denen meine Mutter noch immer
täglich einige hört, sind erträglich.
Überhaupt fühle ich
mich in der Gegenwart meiner Mutter wieder am wohlsten. Sie führt
inzwischen ein Leben, das mindestens zur Hälfte mit Frankreich zu
tun hat und von französischen Romanen und französischer Musik
genährt und begleitet wird. Noch immer liest sie gern vor, ja, das
Vorlesen ist sogar zu einer ihrer liebsten Beschäftigungen
geworden. So gibt es in der kleinen Landbibliothek, die sie leitet,
einmal in der Woche einen Vorleseabend, an dem sie in Fortsetzungen
aus Romanen liest.
Da ich das gerne
auch einmal erleben möchte, gehe ich mit ihr und höre mir eine
solche Lesung an. Der Lesesaal ist mit Menschen überfüllt, sie
sitzen zwischen den Bücherregalen bis zum Fenster, sie kommen aus
allen Altersklassen, und die meisten von ihnen haben bestimmt noch
nie einem Vorleser zugehört.
Wegen der schlechten
Luft stehen die Fenster weit offen, so dass man die weiche Stimme
meiner Mutter auf dem gesamten Kirchplatz hört. Auch dort draußen
bleiben die Menschen manchmal stehen und hören zu, die Wirkung, die
von dieser sacht auf und ab schwingenden, jeder Satznuance
folgenden Stimme ausgeht, ist unglaublich.
Mutter liest Romane
von Balzac, einen nach dem andern, sie will den ganzen Balzac
vorlesen, in einer jahrelang sich fortsetzenden Vorlese-Reihe. Wenn
sie zu Hause etwas im Stillen liest, widmet sie sich Stendhal,
Flaubert und Proust, ich bitte sie, mir und nur mir aus den Romanen
dieser Schriftsteller vorzulesen, und sie freut sich, dass ich mir
das von ihr wünsche.
Und so sitzen wir
wie in meinen Kindertagen im Wohnzimmer, trinken Tee, hören
Chansons und reisen in Gedanken nach Frankreich. Mutter meint, dass
solche Nachmittage wertvoller seien als jede Medizin, und Vater
stimmt so kühnen Behauptungen jedes Mal zu, weil ihm auch noch
keine Alternative für mein Leben einfällt. Ich selbst aber werde
von Tag zu Tag ein wenig ruhiger. Ich schlafe morgens aus, gehe in
der Umgebung spazieren, erledige für meine Mutter die Einkäufe und
arbeite in dem großen Garten, der das Haus umgibt. Ich habe das
Gefühl, in Rom einen steilen Weg hinauf in eine schwindelerregende
Höhe gegangen und mitten auf diesem Weg abgestürzt zu sein. Ich
habe alles gegeben und alles verloren, das rede ich mir ein, und
mit der Zeit erscheint mir diese Version wirklich als meine
Geschichte.
Die Sehnsucht nach
der Ewigen Stadt freilich wird dadurch nicht schwächer. Ich träume
noch immer von Rom, ich träume von Clara, und ich telefoniere
heimlich mit Signora Francesca, um die brennende Sehnsucht
wenigstens notdürftig zu stillen. Meist bitte ich sie, ein Fenster
zu öffnen und mich die Geräusche aus dem Innenhof des römischen
Wohnhauses hören zu lassen. Signora Francesca kommt diesem Wunsch
gerne nach, sie versteht mich, und sie beendet jedes Telefonat mit
den Worten: Johannes, Du weißt, hier ist für
Dich immer ein Zimmer frei!
Es gibt Tage, an
denen ich nahe dran bin, sofort wieder nach Süden zu reisen. Dann
helfe ich mir, indem ich mich in mein Zimmer zurückziehe und über
den Weltempfänger italienische Rundfunksender höre. Ich lege mich
auf mein Bett und höre das Perlen der italienischen Sprache, ich
stelle mir vor, ich sei in den römischen Straßen unterwegs. In der
ersten Kapelle der Chiesa Sant’ Andrea della Valle im rechten
Seitenschiff befindet sich welches Gemälde? Und in der ersten
Kapelle rechts der Chiesa Santa Maria del Popolo hat der Maler
Pinturicchio welche Szene gemalt?
Rom ist ein großes
Puzzle, das ich wie in einem Spiel mit wechselnden
Schwierigkeitsgraden zusammensetze. Ich spreche darüber mit
niemandem, es ist ein Spiel, das ich brauche, um die stets latente
Trauer nicht allzu mächtig werden zu lassen.
Meinen Eltern
erzähle ich von meinen römischen Lehrern und Freunden, von meinen
Konzerten und Auftritten. Für Mutter sind diese Erzählungen ein
Pendant zu ihren Vorlesestunden, während mein Vater sich meine
Geschichten still anhört, als warte er insgeheim noch auf einen
besonderen Clou. Manchmal vermute ich, dass meine Eltern mir die
Liebe zu Clara anmerken, diese große Lücke in meinen Geschichten
muss doch spürbar sein, niemand von ihnen fragt mich aber nach
einem solchen Thema.
Ich vermute, dass
ein solches Nachfragen in Mutters Fall mit einer starken Eifersucht
verbunden wäre. Diese Eifersucht ist nämlich bereits zu spüren,
wenn ich nur kurz Signora Francesca erwähne und davon erzähle, wie
gut ich mich mit ihr verstanden habe. In
Deinen Briefen hast Du sie gar nicht so ausführlich erwähnt,
sagt Mutter und tut so, als verschweige ich etwas. Selbst als ich
eher nebenbei sage, dass die Signora schon weit über sechzig Jahre
alt ist, reagiert Mutter bei jeder Erwähnung mit einer leichten
Unruhe. In meiner unmittelbaren Nähe gibt es nur Männer und
eigentlich auch nur ernste Männer, so stellt Mutter sich mein
bisheriges Leben und wahrscheinlich auch das zukünftige
vor.
Und ich?! Wie stelle
ich mir mein Leben vor? Ich denke oft darüber nach, habe aber
keinen zündenden Einfall. Das Einzige, was ich früher wirklich gut
konnte, war Klavierspielen, zu mehr habe ich es nicht gebracht.
Auch wenn ich mich frage, was mir denn Freude machen könnte, komme
ich auf nichts Nennenswertes. Freude machen könnte mir höchstens,
eine Gartenwirtschaft an einem Fluss zu betreiben, vielleicht würde
es aber auch reichen, wenn ich als Kellner in einer solchen
Gartenwirtschaft arbeiten würde.
Auf keinen Fall aber
möchte ich noch einmal ein Projekt angehen, mit dem es hoch hinauf gehen soll. Ich möchte nicht
hoch hinauf, nein, ich habe in dieser
Hinsicht nicht mehr die geringsten Ambitionen. Deshalb tue ich mich
auch mit den Gedanken an ein Studium schwer. Was könnte ich denn
studieren? Vielleicht Landschaftsplanung oder Gartenbau, vielleicht Raumkomposition oder Spaziergangswissenschaft, wenn es denn so etwas
gäbe.
Schon die bloße
Vorstellung aber, einen Hörsaal betreten, Vorlesungen hören,
Seminare besuchen und Prüfungen ablegen zu müssen, wirkt auf mich
sehr abschreckend. Ich möchte mit dem sogenannten Ernst des Lebens nichts mehr zu tun haben, ich
möchte mich dem Leben entziehen, am liebsten würde ich mein Leben
damit verbringen, in Ruhe weiter mit meinen Eltern zusammenzuleben
und ihnen dabei zu helfen, das Alter, so gut es geht, zu
genießen.
Das Einzige, womit
ich mich immer wieder beschäftige, sind meine alten Kladden, die in
den grünen Kartons von Vaters Blockhaus untergebracht sind. Sie
füllen etwa die Hälfte dieser Kartons, in der anderen aber sind die
vielen Tausend Zettel, die Mutter während ihrer stummen Jahre
beschrieben hat.
Wenn Vater tagsüber
unterwegs und Mutter in der Bibliothek ist, ziehe ich mich in das
stille Blockhaus zurück und lese in diesen Quellen. Mutters Zettel
sind exakt datiert, mit Tages-, Stunden- und Minutenangabe. Ich
erfahre, wo ich mich in diesen Zeiten aufgehalten, womit ich
gespielt und welchen Eindruck ich auf meine Mutter gemacht habe. In
solche Bemerkungen eingeschoben sind Notizen zum Wetter, zu dem,
was Mutter gelesen und was sie an Gesprächsfetzen auf den Straßen
aufgeschnappt hat, sowie zu bestimmten Waren, die dringend
eingekauft werden sollen.
Manchmal kommt es
vor, dass mein Hirn Phasen eines bestimmten Kindertages
rekonstruiert und neu erzählt. Ich schließe dann die Augen und
erlebe zum Beispiel noch einmal, wie ich an einem bestimmten Tag
als Kind mit Mutter hinunter auf die Straße ging. Es ist ganz
einfach, ich brauche die Notizen meiner Mutter nur in einen Text zu
übertragen, der alles aus meiner Perspektive und von heute aus
sieht: Es war der siebzehnte September 1956,
ich hatte Durst, die Finger meiner Mutter rochen nach Zimt, wir
hatten vergessen, die Fenster des Wohnzimmers zu schließen, deshalb
regnete es am frühen Abend, als wir noch am Rhein saßen, hinein
…
Ein noch größeres
Vergnügen aber macht mir die Lektüre der Kladden mit meinen
Reise-Notizen. Seltsamerweise ähneln die Eintragungen den Notizen
meiner Mutter auf ihren Zetteln, sie sind jedoch eine Spur privater
und emotionaler und enthalten allerhand erstaunte Ausrufe und
Deklamationen, als hätte ich während dieser Reisen dann und wann
einen Lyrik-Anfall bekommen: Schloss Vollrads
im Rheingau, 13. September 1969, 19 Uhr: Wenn ich doch hoch oben,
im alten Turm des Schlosses, wohnen dürfte! Wenn ich hinabsehen
könnte, bis zum Rheintal und seinen Auen und Inseln! Ich würde
Hymnen schreiben, Hymnen, die staunen machen!
Wenn ich so etwas
lese, muss ich grinsen, was war ich vor meiner Rom-Zeit bloß für
ein merkwürdig verspanntes Subjekt! Unaufhörlich hat sich dieses
Subjekt Notizen gemacht, die Kladden machen sogar den Eindruck, als
sei dieses Subjekt kein Pianist, sondern eher ein junger,
romantischer Dichter, der halb Deutschland auf der Suche nach neuen
Versen durchquert.
Die Musik dagegen
kommt nur selten und meist nur in Zusammenhang mit dem Namen
Schumann vor, manches Mal hat es sogar
den Anschein, als halte sich der junge, unentwegt hymnisch
deklamierende Dichter für eine Nachgeburt dieses über die Maßen
verehrten Komponisten: Abends in Bacharach,
Schumann-Stunde. Eine dunkle, leichte Zigarre, fünf Gläser
Rheinwein, ein verstimmtes Klavier. Spielte etwas aus den
»Davidsbündlertänzen«, die mir sehr gut gelangen
…
Trotz ihrer
Verspanntheit und ihres Überschwangs erregen mich diese Notizen.
Irgendetwas Dunkles, Feuriges steckt in ihnen, irgendetwas wirkt
weiter auf mich. Hätte ich bloß auf die überdrehten Partien
verzichtet, und hätte ich meinen Gefühlen bloß nicht derart oft
unkontrolliert Raum gelassen: As-Dur, das ist
die zärtlichste, aber auch traurigste Dur-Tonart überhaupt! …
Beethoven und Schubert haben in As-Dur
gedichtet!
Ich ertappe mich
dabei, wie ich ganze Passagen dieser Notizbücher umschreibe. Ich
lege neue Kladden an und komponiere die Eintragungen zu kleinen
Erzählungen. Die hymnischen Deklamationen lasse ich weg und
vermeide überhaupt allzu stark Emotionales. Das Emotionale soll
nicht benannt werden, aber auch nicht verschwinden, es soll unter
der Oberfläche erscheinen – so will ich es jetzt: Mainz, 17. Dezember 1969. Am Rhein. Um den Vollmond
fliegen Wolkenfetzen, die sich sofort wieder zerstreuen. Die fahle
Himmelsdecke ist an einigen Stellen weit aufgerissen, ich kann die
leuchtenden Sterne erkennen. Auf einem vorbeifahrenden Lastschiff
flattern Wäschestücke an einer Leine, eine Tür ist so weit
geöffnet, dass der Lichtschein auf ein neben der Wäsche stehendes
Fahrrad fällt …
Das alles sind
Spielereien, nicht mehr, ich vertreibe mir mit ihnen die Zeit und
komme mir vor wie ein Lehrer, der die Notizen seines
Meisterschülers korrigiert und in eine erträgliche Fassung bringt.
Insgeheim aber bin ich dabei, dem jungen Mann, der ich war, eine
andere, zweite Geschichte zu schreiben. Diese Geschichte ist durch
die Rom-Zeit geprägt, und sie macht aus dem euphorischen jungen
Subjekt, das ganz Deutschland wie ein junger Schumann bereist, eine
gebrochene, melancholische Erscheinung, die weder ein Projekt noch
sonst eine Zukunfts-Idee hat. Stattdessen reist sie, sie reist
unentwegt, ihr ganzes früheres Leben ist nichts als Reisen und
Unterwegs-Sein.
Mitten in diesen
Spielereien werde ich durch einen Anruf von Walter Fornemann
aufgeschreckt, der sich angewöhnt hat, ab und zu mit meiner Mutter
zu telefonieren. Sie sprechen über französische Literatur und
Musik, Fornemann empfiehlt bei solchen Gelegenheiten neue
Schallplatten oder macht Vorschläge für Konzertbesuche in Köln,
meine Mutter hört sich das an, ohne je daran zu denken, einem
solchen Vorschlag zu folgen.
Diesmal erwähnt sie
meine Rückkehr aus Rom, die sie vor Fornemann erst noch eine Weile
geheim gehalten hat. Er will mich sofort sprechen, und da Mutter
sich nicht zu helfen weiß, holt sie mich an den Apparat. Ich sage
kaum ein Wort, ich wirke auf Fornemann erschreckend schweigsam, natürlich wittert er
sofort, dass in Rom mit mir etwas geschehen ist. Was ist in Rom geschehen, Johannes?, fragt er
gleich mehrmals, und ich weiche zweioder dreimal aus. Ich frage Dich zum letzten Mal, was ist in Rom
geschehen?, sagt er schließlich mit besonderem
Nachdruck.
Da antworte ich
endlich: Es ist aus, ich spiele nicht mehr
Klavier, ich bin gescheitert. Als Fornemann das hört, will
er mich sofort sehen. Du kommst morgen nach
Köln, sagt er und legt von sich aus fest, wo und wann wir
uns treffen: Am Nachmittag …, Walter Fornemann und ich – wir werden
uns am darauffolgenden Nachmittag am Rhein in Köln
treffen.
Dort erzähle ich ihm
die ganze Geschichte, von der er bisher nur jene positiven
Bruchstücke kennt, die ihm meine Mutter früher einmal am Telefon
erzählt hat. Fornemann hat geglaubt, dass ich mich auf dem besten Weg befand, nicht einmal im Traum
hat er für möglich gehalten, dass ich mein römisches Studium
irgendwann abbrechen würde. Du siehst kaputt
aus, richtig kaputt, sagt er und möchte mich am liebsten
gleich mit zu einem Friseur nehmen, damit mir dort die Haare
gekürzt werden.
Wir gehen bis
Rodenkirchen am Rhein entlang, machen wieder kehrt, gehen zurück
und machen uns erneut auf den Weg Richtung Rodenkirchen. Fornemann
drängt mich, dass ich mein Studium fortsetzen und ein guter
Klavierlehrer werden soll. Ich lehne das ab, ich sage ihm, dass ich
nie wieder Klavier spielen werde. Er ist so entsetzt, dass er
ungewöhnlich laut wird, er nennt mein Verhalten dreist, armselig und undankbar, und er gerät außer
sich, als ich ihm sage, dass mich seine Angriffe nicht erreichen,
ja dass sie mich nicht einmal interessieren.
Eine halbe Stunde
gehen wir schweigend nebeneinander her, dann macht Fornemann einen
letzten Anlauf: Hast Du irgendeine Idee für
die Zukunft? – Nein, die habe ich nicht. – Was soll denn aus Dir
werden, Johannes? – Ein guter Kellner. – Du bist unverschämt, Du
benimmst Dich wirklich unverschämt. – Warum ist der Vorsatz, ein
guter Kellner zu werden, so unverschämt? – Darauf antworte ich
nicht. – Was sollte ich denn Ihrer Meinung nach tun? Etwa in
Kölsch-Kneipen das musikalische Hänneschen spielen? – Du wirst
immer unverschämter. – Ja, das werde ich, verdammt noch einmal,
Ihnen fällt doch auch nichts mehr ein, Sie sind doch genau wie ich
mit Ihrem Latein am Ende! Warum reden Sie denn noch so lange herum,
geben Sie es doch zu und halten Sie endlich den
Mund!
Ich schreie
Fornemann an, ich stehe am Rhein und tue etwas, das ich noch nie
getan habe, ich beleidige meinen alten Lehrer, dem ich so viel
verdanke. Ich spüre sofort, dass ich eine Grenze überschritten
habe, und es tut mir auch sofort leid, noch nie habe ich mich so
gehen lassen. Ich wende mich von Fornemann ab und blicke auf den
Fluss, ich zittere, mir laufen Tränen übers Gesicht, verdammt, was
ist denn bloß mit mir los?
Fornemann soll die
Tränen nicht sehen, ich will ihm so einen entsetzlichen Auftritt
ersparen, deswegen mache ich ein paar Schritte auf das Wasser zu.
Es ist ganz leicht, sich das Leben zu nehmen
…, warum geht mir dieser teuflische Gedanke gerade jetzt
wieder durch den Kopf?
Ich hätte nach
meiner Rückkehr aus Rom nicht sofort ins Haus meiner Eltern
zurückkehren dürfen, ich hätte mich irgendwohin zurückziehen
sollen, um mir zunächst meine Hilflosigkeit aus dem Leib zu
schreien! Schreien, ja, ich hätte schreien sollen, tagelang
schreien, nichts als schreien! Jetzt hat es mich zum falschen
Zeitpunkt erwischt, jetzt bin ich in die Falle
gelaufen.
Ich drehe mich
wieder um und schaue Fornemann an: Warum
lassen Sie mich nicht in Ruhe?! Warum gehen wir hier noch zusammen
spazieren? Ich möchte allein gelassen werden, verstehen Sie, ich
möchte mit Ihnen nichts mehr zu tun haben! Ergötzen Sie sich an
Ihrem Debussy oder, besser noch, spielen Sie Chopin, machen Sie,
was Sie wollen, aber nehmen Sie nie mehr mit mir Kontakt auf. Haben
Sie verstanden?! Haben Sie endlich verstanden?!
Ich sehe, dass
Fornemann schwer atmet, und ich sehe, dass ihm plötzlich die
Mundwinkel nach unten sinken. Sein Gesicht verwandelt sich in eine
fremde Maske, es ist eine Maske aus Stein, Fornemann schützt sich vor mir durch eine Maske,
denke ich gleichzeitig und mache einen Schritt auf ihn
zu.
Leben Sie wohl, sage ich und strecke ihm meine Hand
entgegen, doch Fornemann rührt sich nicht. Ich halte ihm meine Hand
aber weiter entgegen, ich halte meine Hand in die Luft, ein paar
Sekunden halte ich sie ihm entgegen und sage dann: Hören Sie nicht auf den Mist, den ich rede, hören Sie
nicht auf mich. Sie waren ein wunderbarer Lehrer, Sie waren der
beste Lehrer, den ich je hatte. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken,
ich danke Ihnen. Aber jetzt möchte ich gehen, für immer, Sie werden
das sicher verstehen.
Ich lasse die Hand
sinken und gehe davon, ich mache mich aus dem Staub. Ich gehe
weiter am Rhein entlang, Richtung Eisenbahnbrücke, ich unterquere
die Deutzer Eisenbahnbrücke und gehe weiter nach Norden. Ich weiß,
dass ich jetzt in eine gefährliche Nähe zu meinen Kindheitsplätzen
gerate, schon erkenne ich vertrautes Terrain, ich tue aber so, als
nähme ich das alles nicht zur Kenntnis, ich schaue vor mich hin und
gehe stur weiter.
Jetzt reicht’s aber, höre ich da Walter Fornemann
sagen, der neben mir auftaucht. Ich antworte nicht, und auch
Fornemann sagt nichts mehr, wir gehen schweigend am Rhein entlang
und geraten jetzt in die Nähe der Bänke, auf denen ich als Kind
immer mit Mutter gesessen habe. Ich mag nicht
mehr weitergehen, sage ich, und Walter Fornemann antwortet:
Dann setzen wir uns, los, wir setzen uns
jetzt, ich möchte, dass wir uns setzen.
Wir setzen uns
nebeneinander auf eine Bank, ich lehne mich etwas zurück und lasse
die Beine über dem Boden baumeln. Wo möchtest
Du anfangen mit dem Kellnern?, fragt Fornemann. –
Ich weiß nicht. – Ich kenne den Wirt eines
Lokals in Rodenkirchen, soll ich ihn fragen? – Nein, ich suche mir
allein etwas.
Wir schweigen, wir
schweigen mindestens eine halbe Stunde. Sie
haben noch einen letzten Vorschlag frei, sage ich dann und
lasse die Beine weiter baumeln. – Du wartest
auf etwas Originelles, Johannes, ich aber finde alles Originelle
abscheulich. – Dann sagen Sie etwas Unoriginelles. – Ich an Deiner
Stelle würde mich an der Universität umsehen, in allen Fächern, die
mich auch nur eine Spur interessieren. Ich würde in Vorlesungen und
Seminare gehen, ich würde versuchen, herauszubekommen, was an
diesem Wissen dran ist. Und wenn ich fündig geworden wäre, würde
ich zwei, drei Fächer studieren, intensiv. Was hältst Du davon? –
Wenn ich ehrlich bin: Nichts! – Nichts?! Und womit willst Du Dir
Deine viele Zeit vertreiben? Was willst Du in all Deinen freien
Stunden tun, neben dem Kellnern? – Spazieren gehen, unterwegs sein,
schreiben. – Und worüber willst Du schreiben? – Ich will meine
Notiz- und Tagebücher von früher umschreiben. – Deine Notiz- und
Tagebücher? Davon hast Du noch nie erzählt. – Warum hätte ich davon
erzählen sollen? Es steht nichts Wichtiges drin. – Und warum willst
Du sie dann umschreiben? – Weil ich den überdrehten Unsinn, der
drinsteht, nicht mehr ertragen kann, weil ich aus dem überdrehten
Unsinn etwas Gutes machen möchte. – Wie viele solcher Tagebücher
gibt es denn? – Es gibt Kladden, schwarze Kladden, seit meinen
Kinderjahren habe ich in schwarze Kladden geschrieben. – Und wie
viele sind dabei zusammengekommen? – Ich weiß es nicht, ich habe
sie nicht gezählt, ich vermute, es sind an die tausend. – Du
besitzt tausend Kladden mit Tagebüchern? – Ich besitze tausend
Kladden mit sehr konkreten Eintragungen über das, was ich gesehen
habe.
Ich rücke auf der
Bank wieder etwas nach vorn, ich setze die Beine auf den Boden, es
geht mir besser. Darf ich Sie zu einem Kölsch
einladen?, frage ich Fornemann. – Du
darfst, wenn Du mich in Zukunft duzt, antwortet er. –
Ich kann Sie nicht duzen, tut mir leid,
sage ich. – Na dann eben nicht, Du verdammter
Dickkopf, sagt er und fragt dann noch, wo wir das Kölsch
trinken sollen. – Im »Kappes«, sage
ich, gleich in der Nähe. – Warst Du schon mal
im »Kappes«?, fragt Fornemann. – Ja,
ich war schon einmal im »Kappes«, antworte ich, ich war sogar schon tausende Male im »Kappes«
…
Als wir aufstehen,
sehe ich, dass Fornemann mit dem Kopf schüttelt. Er glaubt mir
nicht, er hält meine letzte Bemerkung für einen weiteren
Wutausbruch. Walter Fornemann ist also ahnungslos, Walter Fornemann
ahnt nicht, wohin er mich am frühen Abend unseres Wiedersehens in
Köln begleitet.