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DA ICH einen Tag später als die anderen Schüler in die Schule kam, wurde ich in die letzte Reihe des Klassenzimmers gesetzt. Dort saß niemand außer mir, ich hockte hinter einem kleinen Tisch und neben vielen leeren Stühlen. Mir war kalt, deshalb behielt ich während des Unterrichts den Anorak an.
Die anderen Schüler fanden das merkwürdig, sie schauten sich oft nach mir um, und eines der Kinder sagte immer wieder, dass ich noch einen Anorak trüge und ihn doch lieber ausziehen solle. Der junge Lehrer, der ganz vorne in der Nähe der Tafel stand, meinte jedoch, ich brauche den Anorak nicht auszuziehen, man dürfe mich nicht zu irgendetwas zwingen, irgendwann werde ich ihn schon ausziehen und dann sei es gut.
 
An meinem ersten eigentlichen Schultag erklärte er den anderen Schülern auch, dass ich stumm sei. Ich sei stumm, aber keineswegs taub, sagte der junge Lehrer, und weiter, dass ich nicht mit den anderen Schülern sprechen, wohl aber verstehen könne, was man mir sage. Das stimmt doch?, fragte er mich dann wie zur Probe, und man schaute sich wieder nach mir um, während ich kurz nickte, um zu zeigen, dass ich den Lehrer wie angekündigt verstanden hatte. Danach aber sagte er noch, dass ich wegen meiner Stummheit keinen Kindergarten besucht habe und mich daher erst noch an einen Ort wie die Schule, wo es viele andere Kinder gebe, gewöhnen müsse. Auf keinen Fall solle man mir also zu Leibe rücken oder mich sonst irgendwie ärgern, ich sei stumm, und ein stummes, armes Kind ärgere man nicht. Am besten sei es, man lasse mich ganz in Ruhe und kümmere sich nicht weiter um mich, ich sei jedenfalls keineswegs bösartig oder gefährlich, sondern lebe nur in einer anderen, eigenen Welt.
Während der folgenden Tage hielten die anderen Kinder sich an diese Worte des Lehrers, die meisten schlossen rasch Freundschaften und gründeten kleine Runden, die in den Pausen dann zusammen waren und spielten. Kaum hatten sie das Klassenzimmer verlassen, verteilten sie auch schon die Aufgaben und Rollen und riefen sich zu, wer beim Fußballspielen ins Tor gehen und wer im Sturm spielen solle. Schon wenn sie sich am frühen Morgen vor dem Unterricht trafen, begannen sie mit dieser Rollenverteilung, im Grunde waren sie den ganzen Vormittag damit beschäftigt, deshalb kamen sie auch gar nicht auf den Gedanken, mir zu Leibe zu rücken, denn ich gehörte als stummes, armes Kind nicht in ihre Spielrunden und wurde deshalb auch nicht weiter beachtet.
 
Am frühen Morgen stellte ich mich daher auf dem Schulhof in die letzte Reihe und ging hinter den anderen, aufgeregt redenden Schülern in das Klassenzimmer, wo ich dann bis zur ersten Pause wiederum in der letzten Reihe aushalten musste. Da mich weder der Lehrer noch die anderen Schüler ansprachen, hatte ich den Eindruck, dass ich dort bloß meine Zeit absitze, es war wieder das alte, mir nur zu vertraute Gefühl, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden und als könnte ich mich genauso gut in Luft auflösen, ohne dass jemand etwas bemerkte.
Statt den Anorak abzulegen, ging ich mit der Zeit dazu über, mich vom Unterricht zu verabschieden, indem ich die Kapuze des Anoraks über den Kopf zog und so, mit hochgezogener Kapuze, in der letzten Reihe ausharrte. Manchmal behauptete eines der anderen Kinder, ich mache ihm damit Angst, ich solle die Kapuze und den Anorak doch endlich ausziehen, noch aber drang es damit bei dem jungen Lehrer nicht durch, denn der junge Lehrer behauptete weiter, irgendwann werde ich das tun, man dürfe und wolle mich aber keineswegs dazu zwingen.
 
Was nun den Unterricht betraf, so hörte ich den ganzen Vormittag über aufmerksam zu. Ich wollte mir Mühe geben, ganz unbedingt, und um das zu beweisen, machte ich bei allem mit, was der junge Lehrer von uns verlangte. Ich legte den Block und die Stifte vor mich hin auf den Tisch, ich begann zu zeichnen oder zu malen, und ich strengte mich an, den ersten Buchstaben, der uns beigebracht wurde, in immer derselben Größe zwanzig oder dreißig Mal nebeneinander zu schreiben.
A – so hieß dieser Buchstabe, die anderen Kinder riefen ihn laut immer wieder, A – A – A, sie hatten eine richtige Freude daran zu zeigen, dass sie einen ersten Buchstaben kannten, ihn laut und deutlich aussprechen und ihn schließlich sogar schreiben konnten. Vorn auf der großen Tafel prangte er: A! – am liebsten hätte auch ich ihn einmal laut aus einem Fenster geschrien, A!, das ist der erste Buchstabe des Alphabets, und ich beherrsche ihn jetzt! Jedes der Kinder durfte das A sprechen, von einem zum andern lief es durch das ganze Klassenzimmer, bis weit nach hinten, zu mir, in die letzte Reihe. Dann schauten sich wieder alle nach mir um und starrten mich an, und eines der Kinder sagte, dass ich kein A sprechen könne, weil ich blöd sei, ich sei eben blöd, das habe seine Mutter gesagt, und weil ich blöd sei, könne ich kein A sprechen und trage außerdem noch die blöde Kapuze.
Nach solchen Beleidigungen lachten die anderen Kinder, als habe jemand einen guten Witz gemacht, manchmal bogen sie sich sogar regelrecht vor Lachen und kamen, obwohl der junge Lehrer immer wieder etwas dazwischenrief, nicht zur Ruhe. Noch immer nahm er mich in Schutz, tadelte die anderen Kinder und verbot ihnen, einen solchen Unsinn über mich zu verbreiten. Ich sei nicht blöd, nur stumm, mit Blödheit habe Stummheit nichts zu tun. Doch ich spürte, dass er es leid wurde, mich in Schutz zu nehmen, er fand es lästig und anstrengend, und es wäre ihm sicher am liebsten gewesen, wenn ich wieder aus der Schule verschwunden wäre.
 
Das alles war aber noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass ich mich seit der ersten Minute, in der ich im Klassenzimmer Platz genommen hatte, nach Hause sehnte. Ich sehnte mich nach dem Geruch im Treppenhaus des großen Hauses am ovalen Platz, ich sehnte mich danach, die Wohnung endlich zu betreten und von der Mutter umarmt zu werden, und ich sehnte mich danach, mich an das Klavier setzen und endlich, ohne dass mir irgendjemand dreinredete, spielen zu dürfen. Nach dem Klavierspiel hätte ich mich auf das Fensterbrett gesetzt und den Vögeln bei ihren Runden hoch über den Pappeln des Platzes zugeschaut, und dann hätte ich mit Mutter Tee in der Küche getrunken, und wir hätten Musik aus dem Radio gehört. Später wären wir einkaufen gegangen, und auf dem Rückweg von den Einkäufen hätte ich für Mutter eine kleine Tasche mit Gemüse und Obst tragen dürfen.
Solch schöne Tage aber waren jetzt, seit Beginn der Schulzeit, vorbei. Kam ich am Mittag nach Hause, setzte ich mich nach dem Essen an meine Hausarbeiten. Die Hausarbeiten fielen mir schwer, nichts war langweiliger, als immer wieder das blöde A zu malen oder gar ein Haus oder eine Wiese zu zeichnen. Die Hausarbeiten kosteten viel Zeit, und erst wenn ich mit ihnen fertig war, durfte ich tun, was ich wollte, und endlich Klavier spielen. Immer häufiger ging Vater auch am Abend allein in die Wirtschaft, während Mutter ihre Einkäufe bereits am Morgen, wenn ich in der Schule war, erledigt hatte. Mein Leben war in Unordnung geraten, und daran war die Schule schuld.
 
Das einzig Gute war der Schulweg, den ich allein zurücklegen durfte, so dass ich zum ersten Mal in meinem Leben die Gelegenheit hatte, durch die Straßen des Viertels zu schlendern. Hier und da machte ich auch immer häufiger halt, etwa bei dem Zeitschriftenhändler, der mir die Zeitschriften, die ich früher während der Spaziergänge mit Vater angesehen und gekauft hatte, ohne jede Aufforderung hinlegte, ich suchte mir dann eine der Zeitschriften aus, und Vater bezahlte sie später. Komm doch rein, Junge! Setz Dich!, sagte der freundliche Zeitschriftenhändler zu mir, und manchmal ging ich dann wirklich hinein in den kleinen Kiosk, um auf einem winzigen Schemel Platz zu nehmen und in Ruhe in den Kinderzeitschriften zu blättern.
 
Eine andere Station, die ich regelmäßig aufsuchte, war die Nische mit der schönen Maria in der kleinen Kirche. Dort zündete ich eine Kerze an, kniete mich vor das Altarbild und erzählte der schönen Maria und meinen gestorbenen Brüdern, was mir durch den Kopf ging. Dass die schöne Maria und meine Brüder mich den ganzen Tag über begleiteten, das spürte ich, nicht genau aber war herauszubekommen, ob sie auch meine Gedanken kannten. War das denn möglich, dass sie vom Himmel aus meine Gedanken lasen und alles mitbekamen, was ich überlegte?
Da ich in dieser Hinsicht nicht sicher war, fasste ich meine Überlegungen in der dämmrigen Nische in Kurzform zusammen. So kam zumindest für die Dauer meiner Gebete etwas Ordnung in meine Gedanken, auch wenn diese Ordnung, kaum dass ich die kleine Kirche verlassen hatte, sofort wieder durcheinandergeriet. Das jedoch konnte ich außer Acht lassen, denn ich dachte wahrhaftig, dass es die Aufgabe der schönen Maria und meiner gestorbenen Brüder sei, sich um meine in der Kirche geordneten Gedanken zu kümmern, ich selbst konnte doch keine Antworten auf meine vielen Fragen wissen, und am wenigsten wusste ich, wie die vielen Probleme, die sich jetzt in der Schule auftaten, zu lösen wären.
Ich schlug denn auch gar nicht erst solche Lösungen vor, sondern beendete die Erzählungen von meinen Sorgen und Nöten einfach mit zwei Gebeten. Das Vater unser im Himmel … und das Gegrüßet seist Du, Maria …, mit diesen beiden Gebeten kam man in jeder Notlage aus, das wusste ich, denn genau das, dass man nämlich mit diesen beiden Gebeten überall durchkomme und in ihnen alles Wichtige drinstecke, hatte der Vater einmal nach einem Gottesdienst so felsenfest behauptet, als gäbe es daran nicht die geringsten Zweifel.
Eine weitere wichtige Station meines Schulwegs war schließlich die Kappes-Wirtschaft, in die sonst nur Erwachsene gingen. Nach der Schule aber war ich einmal kurz hinein und heimlich auf die Toilette gehuscht, und auf dem Rückweg durch den Vorraum, in dem ich früher oft mit Vater gestanden hatte, einem Köbes aufgefallen, der mir sofort, ohne dass ich irgendein Zeichen gegeben hätte, ein Kölschglas mit Trinkwasser hingestellt hatte.
Kaum eine Geste hatte mich derart überrascht und glücklich gemacht wie dieses selbstverständliche, wortlose Hinstellen eines Glases mit Trinkwasser, hatte es mir doch gezeigt, dass ich in der Kappes-Wirtschaft einfach dazugehörte. Hier schaute sich niemand nach mir um, und hier starrte mich niemand an, ich gehörte einfach dazu, ohne viele Worte! Und so hatte ich eine Weile allein unter den trinkenden und sich unterhaltenden Männern gestanden, um in Ruhe mein Glas zu leeren und nach einem kurzen Winken wieder auf die Straße zu verschwinden.
Seither besuchte ich die Kappes-Wirtschaft häufiger und wurde schließlich sogar jedes Mal lauthals begrüßt, Leute, unser jüngster Stammgast ist da!, hieß es dann, worauf die trinkenden Männer mir zuprosteten, nach dieser kurzen Begrüßung aber ohne Umschweife wieder ihre Unterhaltungen fortsetzten.
 
Wenn ich über all diese Veränderungen in meinem Leben nachdachte, kam ich trotz der schlimmen Schulstunden manchmal auch zu dem Ergebnis, dass es in meinem Leben nicht nur Veränderungen hin zum Schlechten, sondern auch zum Guten gab. Alleine unterwegs zu sein, machte Vergnügen. Und, noch viel wichtiger: Ich war zwar allein unterwegs, konnte mich aber zum ersten Mal in meinem Leben auf Freunde verlassen.
Der Zeitschriftenhändler zum Beispiel, der war mein Freund, die Köbesse in der Kappes-Wirtschaft waren Freunde, und die schöne Maria und meine gestorbenen Brüder waren so gute Freunde, dass ich mir keine besseren hätte wünschen können. Solche sehr guten Freunde übernahmen sogar vieles von dem, was ich aus eigener Kraft nicht bewerkstelligen konnte, sie zauberten hier und da, und wenn sie so richtig drauflos zauberten, geschahen manchmal sogar richtige Wunder.
 
Ein solches Wunder ereignete sich zum Beispiel, als ich Vater an einem sonnigen Vorfrühlingstag zum Training der Galopper auf der nahen Galopprennbahn in Weidenpesch begleiten durfte. Bei Spaziergängen mit den Eltern hatte ich diese Rennbahn aus der Entfernung bereits mehrmals gesehen, diesmal aber ging Vater mit mir allein dorthin. Wir standen hinter den weißen Latten der Absperrung und erlebten ganz aus der Nähe, wie die Pferde von den Jockeys auf die ovale, weite Rennbahn geritten wurden.
Nur wenige Meter entfernt galoppierten die Tiere an uns vorbei, ich fand es schade, dass sie so schnell waren, jedes Mal blickte ich starr auf ein heraneilendes Tier und versuchte, seine Bewegungen genau im Blick zu behalten. Dunkle Erde spritzte unter den dumpf aufschlagenden Hufen, ein heftiges Schnauben näherte sich und verebbte rasch wieder, all das ereignete sich in einem derart hohen Tempo, dass ich die Bewegungen der Tiere nicht richtig verfolgen konnte.
Das änderte sich aber, als einer der Trainer sein Pferd nach dem Absitzen dicht an Vater und mir vorbeiführte und sogar für einen kurzen Augenblick haltmachte. Ich konnte das Tier nun ganz aus der Nähe anschauen und tat das auch so genau, dass ich nicht mitbekam, wie der Jockey mich anredete. Dass ich angeredet worden war, wurde mir vielmehr erst klar, als Vater für mich einsprang und erklärte, dass ich nicht antworte, weil ich stumm sei. Stumm?, antwortete der Jockey, richtig stumm? Ich nickte und erkannte gleichzeitig, wie entsetzt er über Vaters Hinweis war, denn er schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf und sagte laut , immer von Neuem: Nä…, es hörte sich nicht nur so an, als glaube er nicht, was er da gesagt bekam, sondern als dürfe so etwas überhaupt nicht sein. Nä, ist doch nicht möglich, sagte der Jockey, nä, das kann doch nicht wahr sein!
Mein Vater, der solche Reaktionen von Fremden gut kannte, blieb ganz still, während ich bei jedem und jeder weiteren Wendung nickte, bis er begriff, der Vater hatte die Wahrheit gesagt. Dass er aber endlich verstanden hatte, bewies er durch seine Einladung, eine oder zwei Runden mit mir zu reiten. Ich nickte sofort, worauf der Jockey keinen Moment zögerte, sondern mit einem na dann mal los! auf mich zuging und mich hoch hinauf in den Sattel hob. Für ein paar Sekunden saß ich allein auf dem Tier, dann aber schwang sich der Jockey ebenfalls hoch und setzte sich hinter mich, und es ging im Trab auf die Rennbahn und nach einem kurzen Befehl in leichtem Galopp durch die Welt.
Noch nie war ich so schnell unterwegs gewesen, noch nie war ich derart geflogen! Ich beugte mich tief nach vorn und zog die Schultern hoch. Das Tier schlug anfangs in einem ganz regelmäßigen Rhythmus mit seinen Hufen den Boden, schien sich mit der Zeit aber von der Erde zu lösen. Selbst in den Kurven verlor es nicht an Geschwindigkeit, und auf der Zielbahn nahm es Fahrt auf und war schließlich so schnell, dass man glaubte, es streckte sich erst jetzt so recht und hechtete dem Ziel wie ein kleiner, in immer weiteren Sprüngen davonfliegender Sprungball entgegen. Das alles aber geschah unglaublich leicht, und die Bewegungen des Tieres waren sanft, so dass ich das Gefühl hatte, alle Sorgen und Nöte müssten Teil eines ganz anderen Lebens sein.
 
So hatte ich noch einen weiteren guten Freund gefunden, und ich besuchte ihn von nun an in Vaters Begleitung einmal in der Woche, um hoch oben auf dem Sattel einige Runden zu drehen und pfeilschnell auf und davon zu galoppieren.