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DAMALS, IN meinen
frühen Kindertagen, saß ich am Nachmittag oft mit hoch gezogenen
Knien auf dem Fensterbrett, den Kopf dicht an die Scheibe gelehnt,
und schaute hinunter auf den großen, ovalen Platz vor unserem
Kölner Wohnhaus. Ein Vogelschwarm kreiste weit oben in
gleichmäßigen Runden, senkte sich langsam und stieg dann wieder ins
letzte, verblassende Licht. Unten auf dem Platz spielten noch
einige Kinder, müde geworden und lustlos. Ich wartete auf Vater,
der bald kommen würde, ich wusste genau, wo er auftauchte, denn er
erschien meist in einer schmalen Straßenöffnung zwischen den hohen
Häusern schräg gegenüber, in einem langen Mantel, die Aktentasche
unter dem Arm.
Jedes Mal sah er
gleich hinauf zu meinem Fenster, und wenn er mich erkannte, blieb
er einen Moment stehen und winkte. Mit hoch erhobener Hand winkte
er mir zu, und jedes Mal winkte ich zurück und sprang wenig später
vom Fensterbrett hinab auf den Boden. Dann behielt ich ihn fest im
Blick, wie er den ovalen Platz überquerte und sich dem Haus
näherte, er schaute immer wieder zu mir hinauf, und jedes Mal ging
beim Hinaufschauen ein Lachen durch sein Gesicht.
Wenn er nur noch
wenige Meter von unserem Haus entfernt war, eilte ich zur
Wohnungstür und wartete darauf, dass sich die schwere Haustür
öffnete. Ich blieb im Flur stehen, bis Vater oben bei mir
angekommen war, meist packte er mich sofort mit beiden Armen, hob
mich hoch und drückte mich fest. Für einen Moment flüchtete ich
mich in seinen schweren Mantel, schloss die Augen und machte mich
klein, dann gingen wir zusammen in die Wohnung, wo Vater den Mantel
auszog und die Tasche ablegte, um nach Mutter zu
schauen.
Das Erste, was er in
der Wohnung tat, war jedes Mal, nach Mutter zu schauen. Wo war sie?
Ging es ihr gut? Sie saß meist im Wohnzimmer, in der Nähe des
Fensters, heute kommt es mir beinahe so vor, als habe sie in all
meinen ersten Kinderjahren ununterbrochen dort gesessen. Kaum ein
anderes Bild habe ich aus dieser Zeit so genau in Erinnerung wie
dieses: Mutter hat den schweren Sessel schräg vor das Fenster
gerückt und die helle Gardine beiseite geschoben. Neben dem Sessel
steht ein rundes, samtbezogenes Tischchen, darauf eine Kanne mit
Tee und eine winzige Tasse, Mutter liest.
Oft liest sie lange
Zeit, ohne sich einmal zu rühren, und oft schleiche ich mich in
diesen stillen Leseraum, ohne dass sie mich bemerkt. Ich kauere
mich leise irgendwohin, gegen eine Wand oder vor das große
Bücherregal, ich warte. Irgendwann wird sie etwas Tee trinken und
von ihrer Lektüre aufschauen, das ist der Moment, in dem sie auf
mich aufmerksam wird. Sie schaut etwas erstaunt, ich schaue zurück,
ich versuche, herauszubekommen, ob ich mich zu ihr ans Fenster
setzen darf … Manchmal ging es ihr damals nicht gut, ich spürte es
bereits am frühen Morgen, weil sie alles in einer anderen
Reihenfolge als sonst tat und sich zwischendurch häufig ausruhte.
Dann hatte ich sie den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis in die
Nacht, im Blick. Meist aber beobachteten wir beide zugleich, was
der andere jeweils gerade tat, denn wir beide, Mutter und ich,
gehörten damals so eng zusammen wie sonst kaum zwei andere
Menschen. Das jedenfalls glaubte ich fest, ja, ich weiß noch genau,
dass ich manchmal sogar glaubte, nichts könnte uns beide je
trennen, niemand, nichts auf der Welt.
Am frühen Abend aber
kam Vater, und Vater gehörte noch hinzu zu uns beiden. Er war der
Dritte im Bunde, er verließ die gemeinsame Wohnung am frühen Morgen
und war oft den ganzen Tag lang in der freien Natur unterwegs.
Vater arbeitete als Vermessungsingenieur für die Bahn, und wenn er
am Abend nach Hause kam, schaute er zuerst, wie es um uns beide so
stand. Nach dem Ablegen von Mantel und Tasche ging er hinüber zu
Mutter, er beugte sich etwas zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss
auf die Stirn. Einen kleinen Moment hielt sie sich an ihm fest, und
es sah so aus, als klammerten sich die beiden eng aneinander. Doch
spätestens, wenn Vater zu sprechen begann, lösten sie sich wieder
aus der kurzen Umklammerung und waren danach ein wenig verlegen,
weil sie nicht wussten, wie es nun weitergehen sollte.
Meist stellte Vater
dann einige kurze Fragen, wie geht es Dir, ist
alles in Ordnung, was gibt es Neues, und Mutter reagierte
darauf wie immer stumm, indem sie ihm den kleinen Packen mit
Zetteln zuschob, die sie während des Tages beschrieben hatte. Die
Zettel lagen neben der Kanne mit Tee auf dem runden Tisch, sie
wurden durch ein rotes Gummi zusammengehalten und sahen aus wie ein
kleines, fest geschnürtes Paket, das Vater zu öffnen hatte. Er
steckte es zunächst aber nur in die rechte Hosentasche und ging
dann, die Hand ebenfalls in der Tasche, ins Bad.
Die Tür des
Badezimmers ließ er offen, so dass ich zusehen konnte, wie er zum
Waschbecken ging, den Wasserhahn aufdrehte, etwas Wasser in die
hohle Hand laufen ließ und zu trinken begann. Wenn er genug
getrunken hatte, fuhr er sich mit beiden Händen mehrmals durchs
Gesicht, manchmal schöpfte er auch noch ein zweites Mal Wasser,
ließ es sich über den Kopf laufen, griff nach einem Handtuch und
blickte kurz in den Spiegel. Meist schaute er sehr ernst in den
Spiegel, viel ernster, als er sonst schaute, dann fuhr er sich mit
dem Handtuch über die Stirn und trocknete sich die
Haare.
Nach Verlassen des
Bades kam er gleich in die Küche und sah nach, ob es dort etwas zu
erledigen gab, er musterte den großen Tisch, auf dem oft eine
Zeitung oder die Post lagen, beides rührte Mutter niemals an, ich
habe sie ausschließlich Bücher lesen sehen, nichts sonst, keine
Zeitung, auch sonst nichts Gedrucktes, höchstens einmal einen
Brief, aber auch den nur, wenn sie wusste, wer ihn geschrieben
hatte. Überhaupt hatte sie gegenüber allem, was sie in die Hand
nehmen sollte, eine starke Berührungsangst. Als Kind hielt ich
diese Vorsicht für etwas Normales und übernahm instinktiv etwas
davon, wie Mutter blieb auch ich zu allem Neuen zunächst auf
Distanz, ich umkreiste es, betrachtete es länger und genauer als
üblich und brauchte meist erst ein Motiv oder etwas Überwindung, um
mich bestimmten Gegenständen oder Menschen zu nähern.
Wenn Vater da war,
war jedoch alles viel einfacher, ich war dann erleichtert, weil ich
dann nicht mehr allein auf Mutter aufpassen musste. Immerzu
befürchteten Vater und ich nämlich, es könnte ihr etwas zustoßen,
obwohl ich selbst noch gar nicht erlebt hatte, dass ihr in meinem
Beisein etwas Schlimmes zugestoßen war. Ich wusste aber, dass so
etwas früher einmal passiert war, und ich wusste auch, dass es
etwas ganz besonders Schlimmes gewesen sein musste. Mehr jedoch
wusste ich noch nicht, ich kannte keine Details, und ich hörte auch
niemals jemanden von dieser Vergangenheit sprechen, obwohl sie doch
ununterbrochen gegenwärtig war. Gegenwärtig war sie dadurch, dass
Mutter nicht sprach, gegenwärtig war die Vergangenheit in Mutters
Stummsein.
Damals dachte ich
mir, dass sie die Sprache irgendwann einmal verloren haben musste,
wusste aber nicht, wann und wodurch das geschehen war. Eine Mutter,
die immer sprachlos gewesen war, konnte ich mir jedoch nicht
vorstellen, nein, so weit gingen meine Vermutungen nicht,
schließlich erlebte ich ja jeden Tag, dass sie lesen und schreiben
konnte, und folgerte daraus, sie habe neben Lesen und Schreiben
auch einmal das Sprechen beherrscht.
Natürlich wäre es am
einfachsten gewesen, jemanden danach zu fragen, das aber war nicht
möglich, weil auch ich selbst kein Wort sprach, sondern stumm war
wie meine Mutter. Mutter und ich – wir bildeten damals ein
vollkommen stummes Paar, das so fest zusammenhielt, wie es nur
ging. Ich hatte, wie schon gesagt, Mutter im Blick und sie wiederum
mich, wir achteten genau aufeinander. Meist ahnte ich sogar, was
sie als Nächstes tat, vor allem aber wusste ich oft, wie sie sich
fühlte, ich spürte es sehr genau und direkt und manchmal war diese
direkte Empfindung sogar so stark, dass ich ganz ähnlich fühlte wie
sie.
Wenn Vater nach
Hause kam, war sie zum Beispiel meist unruhig, sie stand nach der
Begrüßung und nachdem Vater Wasser getrunken und den Kopf unter das
Wasser gehalten hatte, auf, legte die Bücher beiseite und schaute
nach, ob Vater sich nun auch der Zettel annahm, die sie während des
Tages beschrieben hatte. Vater, Mutter und ich, die ganze
Kleinfamilie Catt befand sich wenige Minuten nach Vaters Rückkehr
zusammen in der Küche, wo Vater mit der Lektüre der Zettel und dem
lauten Vorlesen all dessen begann, was Mutter vom frühen Morgen an
aufgeschrieben und notiert hatte.
Dieses
Zusammensitzen war ein Familienritual, wie alles, was ich gerade
beschrieben und wovon ich erzählt habe, ein Ritual war: Mutters
Lesen, mein Warten auf Vaters Heimkehr, sein Aufenthalt im
Badezimmer und danach in der Küche. Wenn ich mich zurückerinnere,
sehe ich dieses Ritual von Vaters Heimkehr in immer derselben
Reihenfolge ablaufen, als hätte es eine geheime Vorschrift oder
sogar ein Gesetz gegeben, dass alles genau so und nicht anders
abzulaufen hatte. Wie Darsteller in einem Stück waren wir drei
aufeinander bezogen, beinahe jeden Tag handelten wir in derselben
Weise, und niemand von uns störte sich an dieser Wiederholung,
sondern tat im Gegenteil alles dafür, dass alles so
blieb.
Heute weiß ich, dass
uns die Wiederholung beruhigte und dass sie unser merkwürdiges und
gewiss nicht einfaches Leben ordnete. Jeder hatte seine Rolle und
hielt sich genau daran, das gab uns eine kurzfristige Sicherheit
und band uns eng aneinander. Wir drei waren sogar so eng
miteinander verbunden, dass jeder von uns sofort in Panik geriet,
wenn unsere Rituale durch irgendeine Kleinigkeit
durcheinandergerieten. Meist kamen sie durch Einwirkungen von außen
durcheinander, und meist taten wir dann beinahe zwanghaft und
hektisch alles, um Störenfriede zu vertreiben oder auf andere Weise
aus unserem Kreis zu verdrängen.
So war die Welt der
Kleinfamilie Catt damals, in den frühen fünfziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise
geschlossen, und jeder von uns wachte mit all seinen Sinnen
darüber, dass sich daran nichts änderte.