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SEIT VATER entdeckt
hatte, wie es in meinem Gehirn aussah und wie es im Einzelnen
arbeitete, gingen wir bei unseren weiten, tagelangen Spaziergängen
in der Umgebung des Hofes gezielter vor. Wir durchstreiften die
Gegend nicht mehr nach Lust und Laune, sondern bewegten uns viel
langsamer und gezielter als zuvor durch bestimmte Zonen der
Landschaft.
Aus dem
Schreibwarenladen des Dorfes hatte Vater schwarze, handliche
Kladden mit weißen Blanco-Seiten kommen lassen, die ich während
unserer Spaziergänge dabei hatte und in die ich zeichnete und
schrieb. Daneben aber gab es noch größere Kladden mit feinen Linien
und dicken Strichen in der Mitte jeder Seite, auf deren linke
Hälfte ich zeichnete, während auf die rechte die zu den Zeichnungen
gehörenden Worte hinkamen.
Nach dem Abendessen
setzte ich mich bei gutem Wetter nach draußen an einen Gartentisch,
um all das, was ich tagsüber in die kleinen Kladden gezeichnet und
geschrieben hatte, noch einmal in die großen Kladden zu übertragen.
Die kleinen Kladden waren Notizhefte, die großen waren für die
Reinschrift. So entstand das System von Beobachten, Zeichnen und
Schreiben und wuchs von nun an jeden Tag etwas mehr.
Bei all unseren
Wanderungen kam mir dabei sehr zugute, dass ich seit den frühsten
Kindertagen genaues Beobachten gelernt hatte. Die vielen, endlosen
Stunden mit der Mutter auf Bänken am Rhein, das lange Stehen in den
kleinen Läden und Geschäften in der Nähe unseres Wohnhauses in
Köln, das Ausharren neben Vater in der Kappes-Wirtschaft – all diese stillen und meist
regungslos verbrachten Wartezeiten hatten dazu beigetragen, dass
ich mir die Umgebung lange angeschaut und mich in ihre Einzelheiten
vertieft hatte.
Ich hatte lauter
Bilder im Kopf, unendlich viele Bilder mit den kleinsten
Einzelheiten – nur wusste ich nicht, wie man diese Einzelheiten
benannte und wofür sie da waren. Alles um mich herum und auf meinen
Bildern war rätselhaft und unverständlich geblieben, denn kein
Mensch hatte mir ja bisher erklärt, warum es dieses oder jenes Ding
gab, wofür man es brauchte und wie man es benutzte. So war mein
Leben wie ein stummes Durchwandern langer Museumsfluchten mit
lauter Bildern an den Wänden gewesen, zu denen mir jede
Unterschrift und jede Erklärung gefehlt hatten. Ich hatte so exakt
und genau beobachtet wie vielleicht kaum ein anderer, und doch
hatte ich mit all meinen Beobachtungen nichts anfangen
können.
Jetzt aber gingen
Vater und ich so vor, dass wir immer andere Teile der Landschaft
studierten. Das Studium bestand darin,
sich alles, aber auch alles genauer anzuschauen und es mit Hilfe
der Zeichnungen in eine Kladde zu übertragen. Zu den Zeichnungen
wiederum gehörten Vaters Kommentare, die er meist vor sich hin
murmelte, denn er hatte sich seit Neustem angewöhnt, seine Gedanken
nicht mehr nur für sich zu behalten, sondern sie auch
auszusprechen.
So kam es immer
häufiger vor, dass mein mit sich selbst sprechender Vater und sein
weiter sprachloser Sohn ein merkwürdiges und auf Außenstehende
bestimmt komisch wirkendes Duo abgaben, das sich wie ein
botanischer, in seine Forschungen verbohrter Trupp durch die
Landschaft bewegte. Sprach der eine unaufhörlich mit sich selbst,
so schien der andere darauf gar nicht zu achten, sondern seinen
eigenen Gedanken nachzuhängen. Dem war aber keineswegs so, denn ich
hörte meinem Vater sehr wohl aufmerksam zu, ja ich war ihm dankbar
dafür, dass er mich endlich an seinen Ideen und seinem Wissen
teilhaben ließ.
Viele Jahre später
hat Vater mir gegenüber einmal zugegeben, dass sein sehr spärliches
Sprechen und Reden in meinen ersten Kinderjahren ein schwerer
Fehler gewesen sei. Im Grunde habe er mit der Mutter und mir ja
immer nur das Nötigste gesprochen, dabei sei er doch der Einzige
gewesen, der etwas Sprache in unseren Haushalt hätte bringen
können. Er habe uns zwar durchaus dieses oder jenes mitgeteilt,
nicht aber wirklich flüssig und viel gesprochen. Der Grund dafür
sei gewesen, dass er einfach nicht auf den Gedanken gekommen sei,
mit sich selbst zu sprechen. Dabei wäre genau das doch das
Einfachste und für mich Richtigste gewesen: wenn er ununterbrochen
mit sich selbst gesprochen und mir dadurch näher gebracht hätte,
was ihm gerade so durch den Kopf ging.
Dass er nicht
laufend mit sich selbst gesprochen habe, sei andererseits aber
leicht zu erklären. Auf dem Land gelte jeder, der laufend mit sich
selbst spreche, als nicht ganz normal oder sogar als verrückt.
Deshalb sei es für ihn ausgeschlossen gewesen, mit sich selbst zu
sprechen, er habe so etwas einfach nicht gekonnt, ja er habe es,
ganz im wörtlichen Sinn, einfach nicht über
die Lippen gebracht.
Seit Vater und ich
nun aber zusammen die Landschaft
studierten, brachte er sehr wohl über die Lippen, was er zu
alldem um uns herum zu sagen hatte. Heute vermute ich sogar, dass
er auf dieses Reden und Erklären durch seine Arbeit als Geodät
sogar beinahe auf ideale Weise vorbereitet war. Ganz ähnlich
nämlich wie im Umgang mit seinen Mitarbeitern und Gehilfen kam es
darauf an, Menschen, die nicht auf dem Land und damit inmitten von
Natur groß geworden waren, die Natur zu erklären. Schau mal her …- das hier ist …- so lauteten die
Fundamentalsätze dieser Sprache, die alles in eine Sprachlehre mit
unendlich vielen detaillierten Eintragungen, Geschichten und
Redeweisen verwandelten.
Auf diese Weise
ergänzten wir uns und arbeiteten die ganze Zeit eng zusammen,
obwohl wir uns doch nicht so wie andere Menschen miteinander
unterhalten konnten. Ich schaute genau hin und prägte mir die
Details der Dinge ein, und Vater erklärte und erläuterte
ununterbrochen.
Endlich lernte ich,
dass all das, was uns umgab, nicht einfach eine Landschaft oder – noch viel allgemeiner –
die Natur war, sondern dass Landschaft
und Natur aus vielen kleinen Bezirken und Bereichen bestanden, in
denen es jeweils nur ganz bestimmte Pflanzen, Bäume und Tiere gab.
Die Pflanzen, Bäume und Tiere waren also nicht einfach willkürlich
und grundlos an die Orte geraten, an denen sie sich befanden, sie
standen vielmehr miteinander in enger Verbindung.
Die Entdeckung, dass
die Welt um einen herum nicht einfach seit ewigen Zeiten so da ist,
sondern in kleinste Bereiche zerfällt, die sich von anderen
Bereichen unterscheiden und damit Eigenheiten aufweisen, die erst
allmählich entstanden sind – diese Entdeckung machte ich während
dieser Wanderungen und Spaziergänge mit meinem Vater zum ersten
Mal.
Ich empfand diese
Entdeckung als so aufregend, dass ich von den neuen Worten und all
den Erklärungen gar nicht genug bekommen konnte. In meinem Kopf
löste der frisch entdeckte Wissensstoff ein angenehmes, anhaltendes
Kribbeln aus, das ich, sobald die Wissenszufuhr ausblieb, selbst zu
erzeugen versuchte, indem ich die Augen schloss und mir einige
besonders seltsam klingende Namen oder Worte im Stillen
vorsagte.
Später hat mir Vater
einmal einen kleinen Plan gezeigt, den ich damals auf dem Hof
gezeichnet und auf dem ich beinahe seine gesamte Umgebung
festgehalten habe. Dieser Plan bestand aus mehreren miteinander
verklebten und auseinanderklappbaren Blättern und Seiten, auf denen
eine kindliche, naive Hand mit den verschiedensten Buntfarben
lauter kleine Reviere abgesteckt hatte. Es gab die Kahn-,
Fischreiher-, Schwimm- und Fischreviere, es gab die Reviere der
Auwälder in der Nähe meines Sees, es gab die Buchen- und
Nadelbaumreviere, es gab Jagd-, Pferde- und Kühe-Reviere, und es
gab, über den ganzen Plan verstreut und mit punktierten Linien
verbunden, die Reviere der Raubvögel, die mehrere der anderen
Reviere überflogen und beherrschten.
War schon ein
solcher Plan für mein damaliges Alter eine besondere Leistung, so
faszinieren mich heute noch mehr die Zeichnungen und Einträge in
den schwarzen Kladden, bei denen ich deutlich sichtbar Vaters
minutiösen Zeichnungen nachgeeifert habe. Natürlich konnte ich
nicht so gut zeichnen wie er, natürlich sah alles, was ich
skizzierte, noch unbeholfen aus und war hier etwas zu dick
aufgetragen und da noch etwas zu eckig und verschroben – wichtiger
als diese Zeichenleistungen war, dass ich mir die Dinge um mich
herum nicht mehr nur einprägte, sondern mir ihre besonderen
Strukturen und Eigenheiten nun auch selbst erklären konnte. Hatte
ich die Welt zuvor auf, wie man sagen könnte, blöde und einfache
Weise als ein passives Medium erfasst, das alles aufsaugt, was man
ihm vorsetzt, so begriff ich sie jetzt als eine Summe von kleinen
Details, die zueinander gehörten.
Die Auwälder in der
Nähe meines Sees zum Beispiel hatten einen weichen und lockeren,
dunklen und oft feuchten Boden, der beinahe überall so dicht
zugewachsen war, dass die grünen, niedrigen Pflanzen das
herumliegende Unterholz überwucherten und an den Stämmen und Ästen
der Bäume hinaufkletterten. Dieses Wuchern und Wachsen nannte Vater
einen Dschungel, und er sagte weiter
dazu, dass die Natur in einem solchen Dschungel sich selbst überlassen sei und deshalb wild wachse.
In meinen Augen
brachte gerade dieses wilde Wachstum besondere Schönheiten hervor.
Dazu gehörten die dichten Schlingsträucher, die sich in eleganten
Spiralen an einem Stamm emporrankten oder auch der leicht und
mühelos an jedem Baum in die Höhe kletternde Efeu, der an seinen
Zweigen winzige Wurzeln ausbildete, mit denen er sich überall
festklammern konnte. Besonders gut aber hatte ich mir den Namen der
Nachtschattengewächse gemerkt, die in
andere Büsche und niedrige Strauchpartien hineinwuchsen und sich
dann allmählich so ausbreiteten, dass sie diese Büsche und
Sträucher zudeckten.
Aronstab, Goldstern, Springkraut, Schneeball und
Geißblatt - ich lernte lauter Worte,
von denen ich mir nicht vorstellen konnte, dass auch die Kinder in
der Schule sie bereits kannten. In meinen Augen waren es Worte, die
genau zu den kleinen Zeichnungen passten, Worte also, die diese
Zeichnungen nicht nur abbildeten, sondern zum Klingen
brachten.
Manchmal näherte
sich einer der Hofbewohner heimlich von hinten, wenn ich mit roten
Ohren an meinem Gartentisch saß und meine Hausaufgaben machte. Dann beugte er sich vorsichtig
über meine Schulter, so dass ich seinen Atem oder einen Windhauch
spürte, und begann, leise einige der Worte zu entziffern und zu
flüstern, die ich gerade aufgeschrieben hatte.
Ich weiß noch genau,
wie sehr mich dieses Flüstern und Säuseln erregte, es war, als wäre
ich ein Zauberer, der lauter geheime und fremde Wörter notierte,
die den anderen nicht geläufig waren, dabei aber magische Wirkungen
hatten. Silberpappel zum Beispiel war
ein solches Wort, Silberpappel hörte
ich über die Maßen gern, denn das Flüstern dieses Wortes löste bei
mir einen Schauer aus, der vom Nacken den ganzen Rücken hinab bis
zum Becken reichte.
Ich verhielt mich
vollkommen regungslos, wenn ich ein solches Schauerwort hörte, ich
tat nur noch so, als wollte ich weiterschreiben und als hörte ich
nichts, und ich spitzte, wenn sich der Flüsterer wieder entfernt
hatte, die Lippen, als könnte ich das geheimnisvolle Wort
nachbilden und aussprechen.
Konnte ich? Konnte
ich all diese Klänge und Laute etwa längst insgeheim nachsprechen?
Nein, noch war es nicht so weit, noch immer war etwas in mir
blockiert und gehemmt. Und doch geschah gerade etwas sehr
Wichtiges: Mit jedem neuen Tag hörte ich die Sprache ein wenig mehr
klingen. Es waren keine beliebigen Worte und Sätze, die ich zu
hören bekam, sondern Worte, die zu den Dingen gehörten und daher
eine unverwechselbare Klanggestalt hatten. Deshalb begann ich ja
nun auch, bestimmte Worte zu mögen und sie im Stillen immer wieder
zu wiederholen. Nachtschattengewächse
und Silberpappel gehörten zu diesen
magischen Worten, neben denen es noch die gewöhnlichen, die
langweiligen und die verrückten Worte gab.
Ich hatte also damit
begonnen, die Worte zu unterscheiden, und mit diesem Unterscheiden
war der Anfang des Sprechens gemacht.