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DIE GESTE des Wassertrinkens aus der hohlen Hand ist die erste, die ich von meinem Vater übernommen habe, noch hier in Rom ertappe ich mich beinahe jeden Tag dabei, dass ich an irgendeinem der vielen Wasserspender haltmache und lange trinke. Überall in der Stadt sind diese kleinen, unablässig sprudelnden Wasserreservoire zu finden, und das Wasser, das sie so freigebig austeilen, ist immer kalt, klar und frisch. Wenn ich dann meine beiden Hände ausstrecke und das Wasser hineinlaufen lasse, ist jedes Mal die Erinnerung da: Wie mich mein Onkel als Kind in die Küche der Gastwirtschaft führte, um mich trinken zu lassen.
Noch heute kommt mir diese Idee seltsam vor. Wie kam er nur darauf, dass ich durstig sein könnte, durstig nicht nur vom Schwimmen und vom Liegen in der Abendsonne, sondern auch durstig von meinem Erschrecken darüber, dass ich dem Tod so nahe gewesen und dass Sterben so einfach war?
 
Später habe ich von meinem Onkel erfahren, wie mein Vater schwer verwundet aus dem Krieg nach Hause, auf seinen elterlichen Hof, zurückgekehrt ist. Mein Onkel hatte seinen Bruder zunächst nicht erkannt, sondern lediglich einen auf Krücken humpelnden Mann wahrgenommen, der auf der Landstraße nur langsam voran und näher kam. Dieser Mann hatte schließlich die Wirtschaft betreten, sich aber weder an einen Tisch noch an die Theke gesetzt. Stattdessen war er grußlos an meinem Onkel vorbei in die Küche gegangen, mit tief gesenktem Kopf, den Blick auf den Boden gerichtet.
Mein Onkel hatte nichts dazu gesagt, sondern war dem Mann nur in die Küche gefolgt, wo er den Wasserhahn aufgedreht und minutenlang aus den hohlen Händen getrunken hatte, um sich schließlich das Wasser über den Kopf zu gießen und nach einem Handtuch Ausschau zu halten. Der Onkel hatte dem Mann dabei geholfen und ihm ein Handtuch gereicht, und als der schwer verwundete Mann sich die Haare getrocknet und das Gesicht abgewischt hatte, hatte er meinen Onkel zum ersten Mal angeschaut und ihn mit seinem Vornamen angeredet: Hubert, ich bin’s, ich bin Josef, Dein Bruder, entschuldige, dass ich Dich nicht gleich begrüßt habe, aber ich wollte mich erst fein machen für Dich und mir den ganzen Dreck aus dem Gesicht waschen!
 
Es gibt kaum eine Geschichte, die deutlicher macht, was für ein Mann mein Vater eigentlich war. Er hatte etwas ungemein Gerades, Schlichtes und Ehrliches und war nicht zu der geringsten Boshaftigkeit fähig. Wenn man ihn beobachtete, wie er einer Arbeit nachging oder anderen half, bei einer Arbeit voranzukommen, überkam einen nicht selten eine starke Rührung darüber, einen so uneigennützigen, hilfsbereiten und gut gelaunten Menschen vor sich zu haben.
Die meisten seiner vielen Schwestern liebten ihn deswegen sehr, ohne dass er auf diese Zuneigung besonders reagiert oder sie noch durch besondere Gesten der Anteilnahme weiter genährt hätte. Er war einfach ein Mann, den viele von ihnen vom Fleck weg gerne geheiratet hätten, einfach schon deshalb, weil man so gern in seiner Nähe war und sich in dieser Nähe aufgehoben und geborgen fühlte. Ein Mensch ohne falschen Ehrgeiz und ohne die Spur von Neid! Gab es so etwas sonst überhaupt?
 
Ich habe ihm damals nicht sofort verraten, dass ich schwimmen konnte, sondern meine Freude darüber noch eine Weile für mich behalten. Irgendwann würde der Augenblick kommen, wo ich es ihm zeigen konnte, das wusste ich, zumal er nach einiger Zeit damit anfing, die Spaziergänge, die wir täglich vom Hof aus machten, immer mehr auszudehnen.
Diese Spaziergänge begannen nach meinem morgendlichen Klavierüben, meist schmierten wir uns in der Küche vorher einige Brote und nahmen noch etwas zu trinken mit. Vater trug einen kleinen Rucksack, und auch ich hatte einen Rucksack bekommen, in dem ich einige Utensilien unterbringen konnte.
Zunächst waren wir einige Stunden in der Umgebung des Hofes unterwegs gewesen, dann aber hatten wir unsere Gänge ausgedehnt und waren mittags nicht mehr auf den Hof zurückgekehrt. Wir wanderten schmale Landstraßen und Feldwege entlang, stiegen die oft steil ansteigenden Hügel und Höhen hinauf, durchstreiften das Unterholz der Wälder und liefen quer über die Äcker und Felder, ohne eigentlichen Plan und anscheinend auch ohne ein richtiges Ziel.
 
Es war das erste Mal, dass ich tagelang mit Vater allein unterwegs war, und insgeheim war ich darauf sehr stolz. Vater nahm sich Zeit für mich! Vater ging nur mit mir allein durch die Gegend, als wäre das auch für ihn eine große Freude! Aber war es das auch? War dieses Gehen und Wandern auch für ihn etwas Besonderes? Oder musste er sich nicht langweilen, in der Begleitung eines Kindes, das ja nur stumm neben ihm herlief und nichts zu irgendeiner Unterhaltung oder Abwechslung beitragen konnte?
 
Ganz sicher war ich mir nicht, was Vater empfand, wenn er mit mir zusammen unterwegs war. Manchmal holte er eines seiner exakten Messtischblätter aus dem Rucksack und studierte längere Zeit, wo wir uns befanden, ein anderes Mal setzte er sich für einige Zeit auf eine Bank und zeichnete die Umgebung. In solchen Pausen hatte ich nichts Rechtes zu tun, ich durchstreifte ein wenig die Umgebung und war froh, wenn ich auf einen Hochsitz traf, dessen wacklige Leiter ich hinaufsteigen konnte, oder wenn wir auf eine Lichtung gerieten, wo einige Strohballen gestapelt waren, auf denen ich dann etwas herumturnte.
Hatte er seine Zeichnung beendet, rief er mich jedes Mal zu sich und zeigte sie mir. Es handelte sich um sehr feine Bleistiftskizzen, die er in großer Geschwindigkeit entwarf. Meist zeigten sie ein kleines Panorama der näheren Umgebung: eine zum Tal hin abfallende Wiese mit dem gegenüberliegenden Gelände eines kleinen Dorfes …, ein Flusstal mit einer Brücke, von hoch gelegenen Felsen aus in seiner ganzen Länge betrachtet …, eine versteckte Wildhütte an einem Waldrand, mit den hinter ihr aufsteigenden dichten Nadelwäldern.
Während Vater seine Zeichenblätter vor mir ausbreitete, deutete er mit dem Stift auf die Einzelheiten und benannte sie: Das ist …, und dort, das ist die Höhe von …, und von dieser Hütte aus sind Hubert und ich einmal zur Jagd aufgebrochen. Während dieser Erklärungen schaute er mich an, als wollte er sehen, ob mich das alles auch interessierte, ich aber nickte und nickte, ich nickte zu jeder Bemerkung, denn wie sollte ich ihm mein Interesse bekunden, wenn nicht durch ein heftiges Nicken?
Natürlich interessierte mich nicht alles, was er mir zeigte, aber es wäre nicht richtig gewesen, ihm ein solches Desinteresse zu zeigen. Ich freute mich doch so, dass er mit mir allein unterwegs war und mir die ganze Umgebung erklärte! Diese Freude aber wollte ich ihm auch beweisen, indem ich nickte und ihm zustimmte und alles tat, damit er weitermachte mit seinen Zeichnungen und Erklärungen.
 
An einem Mittag saßen wir in brütender Hitze nebeneinander auf einer Bank und tranken gemeinsam aus einer Flasche Wasser. Vater setzte die Flasche vom Mund ab und reichte sie mir und während ich sie ihm abnahm, deutete er mit dem Kinn auf die unter uns liegenden Wälder und sagte nur: Alles Eichen, nichts als Eichen! Ich nahm einen Schluck und nickte, doch Vater machte weiter: Nichts als Eichen, verstehst Du? Weißt Du, was das ist, eine Eiche? Weißt Du genau, was eine Eiche ist?
Ich nickte wieder, natürlich wusste ich das, ich wusste, wie eine Eiche aussah und wie sie sich von einer Buche oder einer Fichte unterschied, so etwas wusste ich, auf jeden Fall. Immer wieder nickte ich, aber Vater hörte nicht auf: Wenn Du genau weißt, was eine Eiche ist, dann solltest Du mal eine zeichnen! Hier, hier ist Papier! Fang mal an! Zeichne mir mal eine Eiche!
 
Ich wunderte mich ein wenig, warum er von mir so etwas verlangte, aber ich hatte keine Zeit, lange nach Gründen zu suchen, gleich würden wir ja wieder weiterziehen, also musste ich rasch zeichnen und in kurzer Zeit eine Eiche aufs Papier bringen. Ich setzte am Erdboden an und zeichnete einen Stamm und Äste, und dann drückte ich Vater mein Blatt in die Hand. Das ist ein Baum, aber keine Eiche, sagte er, Du solltest aber eine Eiche zeichnen und nicht irgendeinen Baum! Ich nickte und versuchte es ein zweites Mal, um schon bald festzustellen, dass ich nicht genau wusste, wie man eine Eiche und nicht nur einen Baum zeichnete.
 
Als Vater meine Hilflosigkeit bemerkte, packte er unsere Sachen zusammen uns sagte: Es ist doch ganz einfach! Komm, wir gehen hinüber in den Wald und dann setzt Du Dich neben eine Eiche und zeichnest sie! Wir standen auf und liefen über eine Wiese zu dem unter uns liegenden Eichenwäldchen, wo ich mich gleich hinhockte, mir eine Eiche aussuchte, sie genauer betrachtete und dann zu zeichnen begann. Vater aber setzte sich neben mich und nahm ebenfalls ein Blatt heraus, so dass ich ihn, während ich selbst die ersten Linien zeichnete und wieder ausradierte und neu zeichnete und wieder radierte, beim raschen Skizzieren beobachten konnte.
Als er fertig war, wartete er eine Weile, bis auch ich zu Ende gezeichnet hatte, und dann schauten wir uns unsere beiden Eichen an und verglichen, wie wir beide versucht hatten, möglichst exakt zu zeichnen. Vater hatte natürlich eine komplette Eiche genau in ihrem besonderen, etwas verrenkten, schräg nach hier und dort ausholenden Wuchs hinbekommen, während ich noch immer einen viel zu geraden Stamm und einander viel zu ähnliche Äste, immerhin aber doch auch einige Eichenblätter gezeichnet hatte, die keinen Zweifel mehr daran erlaubten, um was für einen Baum es sich handeln sollte.
 
Bravo!, sagte Vater, das ist jetzt eine Eiche, eine richtige Eiche! Man muss sich die Sachen, die man zeichnen möchte, ganz genau anschauen, ganz genau, hörst Du, in allen Einzelheiten! Und erst dann sollte man mit dem Zeichnen anfangen, hörst Du? Ich nickte und nickte und radierte noch ein wenig an meiner Eiche herum, während Vater nach meiner Skizze griff, sie auf seinen Schoß nahm und unter meine Eiche schrieb: Das ist eine Eiche.
 
Vier Worte, ein Punkt: Das ist eine Eiche. Ich starrte auf meine Zeichnung und auf die Schrift meines Vaters, meine Blicke wanderten unaufhörlich zwischen der Zeichnung und der Schrift hin und her. Jetzt, jetzt hatte ich es, jetzt hatte ich mir eingeprägt, was Vater geschrieben hatte: Das ist eine Eiche. Ich griff nach Vaters Skizze und legte mir diese Skizze auf den Schoß. Dann setzte ich den Bleistift an und schrieb unter Vaters Zeichnung: Das ist eine Eiche. Vier Worte, ein Punkt.
 
Vater starrte auf das Blatt, das ich beschrieben hatte, dann schaute er mich an. Was war mit mir los? Konnte ich mir etwa die Buchstaben und Worte merken? Behielt ich sie, wenn man sie mir aufschrieb, im Kopf? Gut, sagte er, sehr gut! Du kannst Dir die Buchstaben merken? Du hast sie im Kopf? Ich nickte und nickte, ja, wenn es darauf ankam, konnte ich mir alles merken. Wenn die Buchstaben und Worte unter einer Zeichnung oder einem Bild standen, konnte ich mir sogar jede Einzelheit merken. Ich stellte mir einfach die Zeichnung vor, die Zeichnung der Eiche, wie sie da mit ihren leicht verkrüppelten Ästen und Zweigen wie eine leicht aus den Fugen geratene Skulptur vor mir auftauchte! Zu genau dieser Zeichnung gehörte der Satz Das ist eine Eiche. Eine Zeichnung, vier Worte, ein Punkt. So war das, und es war wirklich ganz einfach.
 
Komm mal mit!, sagte Vater und stand sofort auf. Er schaute in die Umgebung, und dann gingen wir rasch durch die ins Tal abfallenden Eichenwälder und kamen schließlich unten an dem kleinen Fluss an, der auf unseren Hof zufloss. Siehst Du die Bäume da drüben?, fragte Vater, und ich nickte. Das sind Buchen, sagte Vater, geh hin und setz Dich neben sie und zeichne eine Buche! Und dann bringst Du mir Dein Blatt!
 
Jetzt ging es voran, jetzt, dachte ich, geht es voran, jetzt habe ich alles verstanden, jetzt lerne ich schreiben, lesen und zeichnen, jetzt lerne ich alles. In ein paar Tagen werde ich das alles können, alles, einfach alles! Ich werde Vater beweisen, dass es Spaß macht, mit mir unterwegs zu sein, ich werde die Namen aller Bäume und Pflanzen lernen, ich werde lernen!
Ich setzte mich neben eine Buche und betrachtete sie genau: Die Stämme waren viel glatter und schwerer als Eichenstämme, sie steckten massiv in der Erde, und die Äste breiteten sich aus wie Schwingen, so weit und leicht! Und dann die Blätter! Nicht dieses gezackte Geripp, sondern spitz zulaufende Zungen mit feinen Maserungen! Ich musste nur genau hinschauen, dann war es einfach, eine Buche genau zu zeichnen.
Als ich fertig war, brachte ich Vater das Blatt, er warf einen Blick darauf, dann sagte er Donnerwetter, das ist wirklich gut, gut so!, und dann schrieb er unter meine Buche: Das ist eine Buche. Vier Worte, ein Punkt. Danach aber zeichnete er noch im Stehen ebenfalls eine Buche und reichte mir das Blatt, und ich schrieb unter Vaters soeben gezeichnete Buche: Das ist eine Buche.
 
Ich sehe Vater vor mir, wie er einen kleinen Schritt zurück macht und mich anschaut, ich sehe, wie er sich mit der rechten Hand über den Kopf fährt, als wäre er ins Schwitzen geraten oder als wollte er die zerzausten Haare wieder glatt streichen. Und ich höre ihn wie damals, wie genau in diesem Moment, sagen: Moment mal!
 
Ich stehe ihm kaum einen Meter gegenüber, ich lasse die Arme hängen, in meinem Kopf tobt es ein wenig, aber ich will mich jetzt unbedingt beherrschen und keinerlei Schwäche zeigen. Vater hat Moment mal! gesagt, das verstehe ich gut, denn auch ich habe so ein Moment mal! im Kopf. Zum ersten Mal habe ich eine Reihe von Worten ordentlich und dazu noch aus dem Kopf aufgeschrieben. Ich habe sie aufgeschrieben, jawohl, ich habe sie aber keineswegs abgeschrieben, nein, ich kann anscheinend Worte aufschreiben, wenn ich die dazugehörenden Gegenstände vor mir sehe, ich kann aber keine Worte von irgendwo, zum Beispiel von einer Schultafel abschreiben, weil ich sie dann nicht richtig erkenne und erst recht nicht verstehe …
 
Was ich hier nachvollziehe, ist das geheime und allen anderen bisher verborgen gebliebene Programm meines Gehirns. Es ist ein Programm, das die meisten anderen Kinder nicht haben, es ist ein gestörtes, unübliches, aber keineswegs unbrauchbares Programm. Man kann mit diesem Programm etwas anfangen, man muss es nur genau kennen. Spricht man mich auf dieses Programm an, arbeite ich sehr genau und exakt, fordert man mich auf, mit diesem Programm zu arbeiten, arbeite ich wie ein Teufel.
 
Das Problem ist nur, dass ich dieses Programm natürlich nicht genau kenne. Ich begreife nicht, was in meinem Gehirn geschieht, ich weiß nicht, wie es gebaut ist und was es kann und nicht kann. Nun aber steht mir mein Vater gegenüber, der gerade einige Strukturen und Zusammenhänge dieses Programms zu erkennen und zu begreifen scheint. Moment mal!, hat er gesagt, und jetzt arbeitet es in ihm. Ich sehe es deutlich, und ich halte still, als stünde ich da, um fotografiert oder geröntgt zu werden.
 
Der Blick meines Vaters! Ich sehe ihn, wie er auf mir ruht und wie es im Kopf meines Vaters arbeitet. Was ist mit dem Kind? Wie stellt das Kind sich etwas vor? Wie begreift es? Wieso kann es plötzlich schreiben, nachdem es wochenlang nur gekritzelt und keinen vernünftigen Satz geschrieben hat?
Ich habe das Glück, einem mathematisch und daher in Programmen geschulten Vater gegenüberzustehen. Dieser Vater ist darin geübt, sich den Zugang zu einem Problem durch ein Ausschließungsverfahren zu ebnen. Wenn dieses oder jenes gilt, dann gilt dies oder jenes nicht. So ist das und nicht anders. Der Junge kann dieses oder jenes, unter diesen oder jenen Bedingungen. Sonst geht es nicht, sonst geht es auf keinen Fall.
 
Ich sehe, wie es Vater allmählich dämmert. Er nimmt sich erneut ein Blatt vor und schreibt auf das Blatt: Das ist Roggen. Er zeigt mir den Satz und liest ihn laut vor, dann dreht er das Blatt um und bittet mich, den Satz hinzuschreiben. Als ich den Bleistift ansetzen will, bemerke ich sofort, dass ich den Satz nicht mehr im Kopf habe. Ich sehe den Satz nicht, er ist verschwunden, mein Gehirn hat den Satz nicht gespeichert, sondern sofort wieder gelöscht. Warum tut es das? Warum kann ich mir den Satz nicht einprägen wie die anderen Sätze?
 
Als ich auf das leere Blatt starre und mir die Worte nicht einfallen, beginne ich plötzlich heftig zu weinen. Ich weine, weil ich Vater um keinen Preis enttäuschen will. Gerade ging alles noch gut, gerade wurde ich noch von ihm gelobt, jetzt aber ist alles schon wieder vorbei, und mein Kopf ist der blöde Kopf, über den sich meine Mitschüler immer so lustig gemacht haben. Ich schmeiße den Stift auf den Boden, ich gebe auf, wahrscheinlich bin ich eben doch der Idiot, für den man mich in der Schule immer gehalten hat.
 
Aber ich sehe meinen Vater, wie er mich regungslos anstarrt, als dämmerte es ihm weiter. Neinnein!, sagt mein Vater, neinnein, Johannes! Du brauchst nicht zu weinen, es ist alles in Ordnung! Jetzt beruhige Dich und mach genau, was ich Dir sage, hörst Du? Wir sind der Sache jetzt auf der Spur, wir sind nahe dran, jetzt geben wir beide nicht auf, jetzt schaffen wir es!
 
Vater bückt sich und drückt mir den Stift in die Hand, Vater steht da mit angehaltenem Atem und überlegt. Jetzt machen wir noch ein Experiment, sagt Vater, jetzt machen wir ein anderes, schwieriges Experiment! Streng Dich an und denk an nichts anderes! Denk nur daran, was ich Dir sage!
 
Ich will gehorchen, ganz unbedingt, ich wische mir die Tränen ab und stehe still. Vater ist dabei, das Rätsel meines Idioten-Kopfes zu lösen, Vater ist ganz nahe dran! Was aber kommt jetzt? Was soll ich tun?
 
Johannes! Ich singe Dir jetzt den Anfang des kleinen Chorals vor, den Du heute morgen gespielt hast. Du weißt, was ich meine? Ich meine den kleinen Choral, den Du jeden Morgen als Erstes spielst.
Ja, ich weiß, ich weiß, was Vater meint. Manchmal singt Vater diesen Choral in der Kirche, auch Vater kennt diesen Choral bis in die letzte Note, er singt ihn sehr laut und mit großer Andacht, es ist einer von Vaters Lieblingschorälen. Ihm zuliebe spiele ich diesen Choral manchmal morgens als Erstes, und meist kommen dann noch einige von seinen Verwandten hinzu und hören sich den Choral an und schlagen das Kreuzzeichen, bevor sie nach draußen gehen.
Onkel Hubert hat gesagt, der Choral sei unser Morgengebet, ich solle ihn ruhig weiter an jedem Morgen spielen. Ein gespielter Choral ist besser als ein Gebet, denn vielen auf dem Hof fällt das Beten außerhalb der Kirche nicht leicht. Es ist ihnen peinlich, in der Gastwirtschaft oder draußen im Garten zu stehen und zu beten, deshalb kommt der Choral ihnen gelegen. Sie hören zu und beten still mit, dann gehen sie zur Arbeit, den Text des Chorals wie ein stilles Gebet noch im Kopf.
 
Ich nicke, ich weiß, welchen Choral Vater meint. Und dann höre ich Vater singen, diesmal nicht sehr laut, sondern verhalten: Jesu bleibet meine Freude, Jesu bleibet meine Zier …
Schon als Vater mit dem Singen beginnt, nicke ich wieder. Ich habe verstanden, es ist alles klar, ich weiß genau, welchen Choral Vater meint. Was aber kommt als Nächstes? Was will Vater mit diesem Choral?
 
Nach dem Singen der ersten Takte des Chorals nimmt Vater erneut ein Blatt Papier. Ich sehe, wie er einige Striche untereinander zieht, einen, zwei, noch zwei, noch einen, Vater hat fünf Striche gezeichnet, ich habe genau mitgezählt. Dann dreht er das Blatt um und reicht es mir: Johannes! Das sind Notenlinien. Du kennst solche Linien, es sind fünf, das weißt Du. Kannst Du die Noten zu dem Choral hinschreiben, den ich gerade gesungen habe, kannst Du das etwa? Was soll ich?! Ich soll die Noten aufzeichnen, die zu dem Choral gehören? Die Noten, die ich spiele, wenn ich den Choral spiele? Aber warum soll ich das? Und warum glaubt Vater, dass ich so etwas nicht kann? Ich kann vielleicht noch keine Wörter und Buchstaben schreiben, doch Noten, die kann ich natürlich aufschreiben. Es hat mich nur noch niemand darum gebeten, kein Mensch hat sich für die Noten in meinem Kopf interessiert.
 
Ich nehme Vater das Blatt aus der Hand und setze mich auf den Boden und notiere die Noten, die Vater gerade gesungen hat. Dann gebe ich ihm das Blatt zurück.
Vater starrt auf das Blatt, ich sehe Vater jetzt auf das Blatt starren. Das sind die Noten, Johannes? Das sind genau die richtigen Noten und nicht irgendwelche Noten, die Du Dir bloß ausgedacht hast?
Ich schüttle den Kopf und schaue Vater in die Augen, ohne den Blick ein einziges Mal abzuwenden. Ich schaue und schaue, ich warte darauf, dass Vater die Noten singt, die ich gezeichnet habe. Und dann macht er es wirklich. Vater blickt auf die Noten und singt, er singt leise und vorsichtig, als kennte er das Stück nicht genau, dann aber, zum Ende hin, legt er zu und erreicht die Zielgerade dann schnell.
Hast Du alle Noten im Kopf, die Du gespielt hast?, fragt Vater, und ich nicke sofort. Ja, ich habe alle Noten, die ich gespielt habe und spiele, im Kopf. Es ist ganz einfach, sie im Kopf zu haben, wenn man sie immer wieder geübt und dann auch in den Fingern hat. Ich vergesse sie nicht. Was ich gespielt und lange geübt habe, habe ich genau im Kopf, ich sehe es vor mir, ich sehe Note für Note, das ganze Stück rollt in meinem Kopf ab, wenn ich es abrufe: als würde ich es gerade spielen, als hätte ich es ausgedruckt vor mir.
 
Das ist fantastisch, sagt Vater, das ist eine ganz seltene Gabe, die Du da hast! Ich höre genau, was er sagt, aber ich begreife es noch nicht so richtig. Was für eine Gabe soll ich haben? Was ist das Fantastische daran?
Vater wirkt jetzt so, als habe er eine große Entdeckung gemacht. Noch nie habe ich erlebt, dass er mit sich selbst spricht, jetzt aber tut er das, er spricht mit sich selbst, ununterbrochen, er murmelt es vor sich hin, als könnte er es nicht mehr für sich behalten: Das ist unglaublich. Das Kind hat alle Noten im Kopf. Und niemand hat etwas davon gemerkt. Unfassbar. Nicht zu fassen. Dabei hätte man doch darauf kommen können, irgendwie hätte man darauf kommen können, aber wie? Wie hätte man darauf kommen können?
 
Ich bemerke, dass Vater den anderen von seinen Entdeckungen erzählen möchte, so schnell gehen wir jetzt in Richtung des Hofes. Es ist aber noch etwas früh, die meisten sind noch nicht von der Feldarbeit zurück. Deshalb werden wir dann doch wieder etwas langsamer und schließen noch einige Übungen an. Das Getreide! Nein, es gibt kein Getreide, sondern nur Hafer, Weizen und Gerste. Also suchen wir auf den Feldern danach, und dann zeichnet Vater die Getreidesorten einzeln und schreibt darunter: Das ist Hafer. Das ist Weizen. Das ist Gerste.
 
All das ebenfalls zu schreiben, ist für mich kein Problem, wenn ich die Sachen vorher gezeichnet habe. Ich muss sie zeichnen, dann sehe ich sie, und wenn ich sie richtig und deutlich sehe, sehe ich auch den Satz, der zu den Zeichnungen gehört.
Die Haferkörner zum Beispiel stecken in winzigen Mänteln, und die dicht geschlossenen Mäntel hängen an Stielen, die im Wind baumeln und sich im Wind wie ein Mobile drehen. Die Weizenkörner dagegen sind mantellos dick und nackt und kauern dicht an- und nebeneinander, als frören sie. Die Gerstenkörner schließlich sind nicht so rund wie die Weizenkörner, sondern viel schlanker und länglicher. Sie haben lange, sehr lange, in den Himmel schießende Haare, so dass ein Gerstenfeld von Weitem wie ein schön gebürsteter Haarkopf aussieht, der im Wind langsam hin und her schwankt.
 
Wenn ich die Dinge so vor mir sehe und sie mir ganz aus der Nähe genau anschaue, sehe ich deutlich ihr Bild. Ich präge mir dieses Bild ein, und wenn ich es mir eingeprägt habe, kann ich es mit den Buchstaben und Worten verbinden. In dieser Reihenfolge bringt mein Gehirn etwas zustande, in dieser Reihenfolge arbeitet vorläufig anscheinend mein idiotischer Kopf!
 
Als Vater gesehen hat, dass ich auch mit Hafer, Weizen und Gerste zurechtkomme, schaut er sich nach weiterem Material für meine Übungen um. Ich sehe, wie sein Blick jetzt über die Felder und an den Wegrändern entlang fliegt, und ich glaube zu sehen, dass Vater der Übermut packt. Wir machen mit den Kornblumen weiter, sagt er leise, mit Kornblumen und Mohn, mit Rittersporn und den verdammten Ackerwinden.
Ich verstehe nicht, warum die Ackerwinden diesen Fluch abbekommen, ich weiß noch nicht, dass sie sich oft um die Getreidehalme winden und sie ersticken. Was das verdammt bedeutet, ist mir im Moment auch egal, ich weiß nur, dass ich das alles und noch viel mehr zeichnen und aufschreiben werde, Tag für Tag, bis ich die ganze Umgebung gezeichnet und aufgeschrieben habe …
 
Als wir später in die Gastwirtschaft zurückkommen, trennt sich Vater von mir. Ich gehe hinab zum Fluss und löse einen der Knechte hinter dem Tisch ab, auf dem die Kasse für die Bootsfahrten steht. Das ist ein Boot. Nein. Das ist ein Kahn.
In meinem Kopf beginnt es zu arbeiten. Mir fehlen jetzt die Zeichnungen und die Worte. Stattdessen spricht es unaufhörlich in mir, satzweise, ein Satz nach dem andern. Das ist ein Baum. Nein. Das ist eine Weide. Und das ist eine Pappel. Pappeln sind viel schlanker und größer als Weiden. Weiden stehen selten so schlank und schön in einer Reihe hintereinander wie Pappeln. Weiden ducken sich an das Ufer, Pappeln stehen stramm. Ich beginne die Welt zu erkennen, ich beginne, sie zu verstehen, ab jetzt werde ich sie zeichnen und die richtigen Worte dazu notieren. Ich bin kein Idiot, ich war nie ein Idiot. Ich werde Mutter und Vater beweisen, dass ich kein Idiot bin. Ich habe alle Noten, die ich bisher gespielt habe, im Kopf. Mein Kopf ist nicht durcheinander, sondern nur anders. Bald werde ich wieder in die verdammte Schule gehen und allen zeigen, was ich alles so kann. Ich werde alles, was es hier zu sehen gibt, im Kopf haben, ich werde schreiben und lesen können. Auch das Sprechen werde ich noch lernen. Wenn ich sprechen kann, werde ich endlich zu den anderen gehören. Man wird mich nicht mehr unterscheiden, man wird mich nicht von den anderen trennen. Im Gegenteil, ich werde die anderen unterhalten, ich werde Klavier spielen und die anderen unterhalten. Und dann werden wir zusammen spielen. Ich werde mit den anderen Kindern und mit den Erwachsenen spielen. Dort unten auf der Wiese steht ein Vogel. Nein. Das ist ein Fischreiher. Ich mag Fischreiher sehr. Irgendwann wird der Fischreiher sich mit zwei, drei Flügelschlägen erheben und dann über den Fluss gleiten. Ich möchte mich bewegen können wie ein Fischreiher. Ich möchte manchmal ein Fischreiher sein, aber ich bin noch kein Fischreiher, sondern ich bin Johannes Catt, der Sohn meines Vaters, Josef Catt, und der Sohn meiner Mutter, Katharina Catt. Bald werde ich wieder gesund sein, dann kann meine Mutter hierherkommen. Meine Mutter wird sich freuen, mich gesund zu sehen. Ich werde ihr helfen, auch gesund zu werden. Wir werden es schon noch schaffen. Wir Catts, irgendwann werden wir alle gesund sein, und niemand wird uns weiter für verrückt oder für idiotisch halten. Das ist ein schöner Tag, das ist einer der schönsten Tage, die ich bisher erlebt habe. Seit dem Tag, als ich zum ersten Mal auf dem Klavier spielte, ist dies der schönste Tag. Es gibt auch schöne, sehr schöne Tage, an denen man kein bisschen traurig ist. Es gibt auch Tage ohne Traurigkeit, die gibt es. Heute ist so ein Tag. Ich freue mich. Ich werde mir niemals das Leben nehmen, nein, das werde ich nicht. Ich werde nicht einmal mehr daran denken, ob ich mir das Leben nehmen sollte. Es gibt keinen Grund, sich das Leben zu nehmen, wenn man gesund ist und wenn die anderen einen mögen. Hier auf dem Hof mögen mich die anderen. Ich werde ihnen zeigen, was ich jetzt so alles kann. Ich freue mich sehr, ich freue mich.