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VOR EINER Woche habe ich am Schwarzen Brett des Conservatorio einen Aushang anbringen lassen, auf dem nach einer Klavierlehrerin oder einem Klavierlehrer für Marietta gesucht wird. Seither haben sich fünf Bewerber gemeldet, mit denen ich einen Nachmittags-Termin im Sekretariat des Conservatorio vereinbart habe.
Natürlich möchte ich nicht allein entscheiden, wer Marietta in Zukunft unterrichtet, sie selbst hat ein Wort mitzureden, die endgültige Entscheidung aber liegt bei Antonia, die mir inzwischen sagte, dass sie nicht nur neugierig auf die Bewerber, sondern auch auf das Conservatorio sei. Wie lange bist Du nicht mehr in diesem Gebäude gewesen?, fragte sie mich. Ich rechnete kurz nach und antwortete: Mehr als drei Jahrzehnte.
 
Seit unserem Abend in der Via Bergamo haben wir uns wieder täglich gesehen, ja, wir sind inzwischen wirklich gute Freunde geworden. Ich spüre deutlich, dass Antonia im Umgang mit mir gelassener und offener geworden ist, und auch ich bin ihr gegenüber viel entspannter als früher. Die Bewohner in der Umgebung sehen uns oft zu zweit unterwegs und machen manchmal schon Bemerkungen darüber, auch unten, in der Buchhandlung, sehen sie uns als zusammengehörend an und geben mir bereits die Bücher mit, die Antonia bestellt hat.
Wahrscheinlich denken alle, wir wären längst ein Paar, das ist aber nicht so, wir sind kein Paar, und wir haben seit dem Abend, als wir kurz darüber nachdachten, gemeinsam eine Nacht zu verbringen, auch keine Anstalten mehr gemacht, eines zu werden. In unserem Alter küsst man sich nicht mehr laufend auf Straßen und Plätzen oder streunt durchs Grüne auf der Suche nach abgelegenen, intimen Orten, vielleicht ist das im Fall von Antonia und mir aber auch keine Frage des Alters, sondern hat mit den vielen anderen Erlebnissen und Geschichten zu tun, die unsere Freundschaft berühren und die wir alle im Kopf haben. Letztlich aber vermute ich, dass auch diese Geschichten nicht mehr zählen würden, wenn es plötzlich zu dem einen, schönen Moment käme, der alles über den Haufen würfe. Diesen einen, schönen Moment haben wir jedoch noch nicht erlebt, wir haben uns darauf zu bewegt, ereignet hat er sich aber noch nicht.
In einem solchen Moment ist alles klar und selbstverständlich, und man tut das, was man tun möchte, ohne langes Hin und Her. Ein paar Mal habe ich in meinem Leben solche starken Momente erlebt, sie haben aber nicht nur mit so großen Erfahrungen wie Freundschaft oder Liebe zu tun, nein, es sind einfach Momente, in denen sich etwas, an das man mehr oder weniger bewusst bereits längere Zeit gedacht hat, blitzartig entscheidet …
 
Nun gut, Antonia und ich – wir haben also am gestrigen späten Mittag ein Taxi bestellt und sind zusammen mit Marietta zur Piazza del Popolo gefahren, in deren Nähe sich das Conservatorio befindet. Wir hatten noch etwas Zeit, deshalb habe ich die beiden zu einem Getränk in eines der beiden bekannten Cafés an der Piazza eingeladen, Marietta sagte, sie stelle es sich nicht leicht vor, in kurzer Zeit zu entscheiden, wen man von den fünf Bewerbern bevorzuge, und ich antwortete, dass sie den Bewerbern Fragen stellen solle.
Fragen? Was soll ich sie denn fragen? – Frag sie nach ihren Lieblingskomponisten oder frag sie nach einem Stück, das sie hassen. – Darf ich sie so etwas wirklich fragen? – Aber ja, warum denn nicht? Frag sie nach ihrer Lieblingstonart und nach dem besten Pianisten, den es gegenwärtig auf der Welt gibt, und frag sie nach dem schönsten Buch über Musik. – Ich könnte sie auch fragen, woher sie kommen und was sie bisher so getan haben. – Kannst Du auch, aber das sind langweilige Fragen, Du solltest sie nicht das Übliche fragen, sondern Fragen stellen, bei deren Beantwortung sie nachdenken und Gefühle zeigen müssen. – Ach, am liebsten, Giovanni, wäre es mir, wenn ich weiter bei Dir Unterricht hätte. – Danke, Marietta, das freut mich, aber ich habe Dir schon erklärt, dass Du jetzt eine richtige Lehrerin oder einen richtigen Lehrer brauchst. Du brauchst eine Technik -Löwin oder einen Technik-Champion, die Dir lauter Kniffe und technische Besonderheiten beibringen, dafür bin ich nicht der Richtige, glaube mir.
 
Als es an der Zeit war, gingen wir die wenigen Meter zu Fuß hinüber zum Conservatorio. Das Gebäude ist sehr groß, man kann es in einer schmalen Straße an seiner Vorderseite betreten und nach seiner Durchquerung auf der Rückseite in einer Parallelstraße wieder verlassen. Ich ging voraus und war erstaunt, dass sich beinahe nichts verändert hatte. Es gab noch immer die kleine Portier-Luke, an der man unbefragt vorbeischlüpfen konnte, und es gab die langen Fluchten mit den Übeund Unterrichtsräumen, aus denen die Musik weit nach draußen, in die gesamte Umgebung, schallte.
Na, fragte Antonia, erkennst Du etwas wieder? – Es ist beinahe alles wie früher, antwortete ich, dieselbe stickige Luft, dieselben Kleiderhaken an den Wänden, die mich an die Kleiderhaken in meiner Volksschule erinnern, derselbe Innenhof mit den verdursteten Palmen, und die vielen Ankündigungen von Konzerten an jedem nur denkbaren Pfeiler. Plötzlich bemerkte ich, dass Marietta nach meiner Hand griff, sie ging langsam und zögernd neben mir her, die Größe und Monotonie des Gebäudes schien sie einzuschüchtern. Um sie zu beruhigen, nahm ich auch ihre Hand, während wir zu dem etwas versteckt liegenden Sekretariat einbogen, wo man uns sofort in einen Nebenraum führte, in dem die Bewerber erscheinen würden.
 
Wir warteten ein paar Minuten, dann tauchten drei der Bewerber auf, sie machten auf mich alle einen sehr jugendlichen, frischen Eindruck und beantworteten Mariettas Fragen mit erstaunlicher Schnelligkeit. Wir sagten ihnen, dass sie noch einen Moment auf dem Flur warten sollten, und nahmen uns noch zwei weitere Bewerber vor.
Die gesamte Gruppe setzte sich aus drei Frauen und zwei Männern zusammen, am meisten gefiel mir die jüngste Bewerberin, die nicht lange wartete, bis sie von uns etwas gefragt wurde, sondern sich gleich nach den Stücken erkundigte, die Marietta zuletzt geübt hatte. Marietta nannte einige, eine Partita von Bach, etwas von Pergolesi, Walzer von Brahms, etwas von Duke Ellington, daneben Samba und Tango.
Fantastisch, sagte die junge Frau zu Marietta, Du hast anscheinend einen sehr guten Lehrer gehabt. Aber warum unterrichtet er Dich nicht weiter? Ich erklärte ihr kurz, dass ich selbst Mariettas letzter Lehrer gewesen sei, die junge Bewerberin geriet für einen Augenblick durcheinander, lachte dann aber so schallend und herzlich, dass wir auch alle anfingen zu lachen.
Das aber war genau einer jener Momente, von denen ich eben erzählte, es war ein Moment der Befreiung und der Erleichterung, alles erschien plötzlich ganz einfach und selbstverständlich, so dass wir ohne weiteres Nachdenken wussten, dass wir genau diese Bewerberin nehmen würden und keine andere.
Wir unterhielten uns noch eine Weile, und Antonia konnte sich nicht verkneifen, ihr zu erzählen, dass ich vor Jahrzehnten selbst einmal ein Schüler dieses Conservatorio gewesen sei. Haben Sie auch jeden Nachmittag hier drinnen geübt?, fragte die junge Frau, und ich bestätigte, dass auch ich beinahe täglich in diesem Gebäude geübt hatte. Noch während ich das aber sagte, bekam ich Lust, noch einmal einen dieser früheren Überäume zu sehen, ich sagte das, und die junge Frau reagierte auch gleich, indem sie uns einen Stock höher zu genau dem Raum führte, in dem sie wohl vor wenigen Minuten noch selbst geübt hatte.
 
Das kleine Fenster stand offen, der Flügel war schräg davorgerückt, daneben gab es in dem winzigen Zimmer noch einen Tisch und einen Stuhl, ja, es sah alles genauso aus wie früher. Ich starrte vielleicht einen Moment zu lange auf das schwarze, glänzende Geschöpf vor mir, es war ein Steinway, ja, dann ging ich darauf zu und fuhr mit den Fingern der rechten Hand kurz über die Tastatur, als die junge Frau sagte: Ich sehe schon, wir sollten Sie jetzt allein lassen.
Ich wehrte ab und sagte, dass ich gar nicht vorhätte, etwas zu spielen, es half aber alles nichts, alle, die sich mit mir im Raum befanden, schienen plötzlich der Meinung zu sein, dass man mir unbedingt Zeit lassen müsse, unbeobachtet auf genau diesem Flügel zu spielen. Eine Stunde? Reicht Dir eine Stunde?, fragte Antonia. Ich wehrte noch einmal ab, doch es war nichts zu machen, sie zogen sich alle zurück und ließen mich mit dem Instrument allein, ich hatte nun eine Stunde Zeit, danach würde ich mich wieder mit Antonia und Marietta treffen.
 
Ich setzte mich auf den kleinen Stuhl und wartete, bis sie nicht mehr zu hören waren, dann legte ich meine Jacke ab, krempelte die Ärmel meines Hemdes zurück und wechselte auf den Klavierhocker. Ich legte beide Hände auf die Tastatur, als wollte ich ersten Kontakt mit dem Instrument aufnehmen und es beruhigen, dann begann ich zu spielen.
Weil Marietta gerade eine Partita von Bach geübt hatte, hatte ich das Stück genau im Kopf, ich hätte es Note für Note hinschreiben können, selber gespielt hatte ich es aber lange nicht mehr. Wie viel Zeit war überhaupt vergangen, seit ich dieses Stück das letzte Mal gespielt hatte? Ich verbot mir, über diese Frage nachzudenken, und legte einfach los, anfangs blieb ich zwei-, dreimal hängen und begann dann jedes Mal wieder von vorn, ich spürte, dass es nicht das richtige Stück für so einen Wiederbeginn war, deshalb brach ich ab, obwohl ich durchaus etwas Sicherheit gewonnen hatte.
 
Und wie stand es um meine Zugnummer, um Schumanns Fantasie in C-Dur? Ich fürchtete einen Moment, schlimm zu versagen, doch dann beruhigte mich der Gedanke, dass mich niemand beobachten konnte. Von der Straße aus würde man nichts anderes hören als einen übenden, jungen Studenten, er spielte noch unbeholfen und machte viele Fehler, immerhin hatte sein Spiel aber etwas Draufgängerisches, Wildes.
Ich wollte loslegen, aber dann störte mich die Schwüle im Raum. Ich zog das Hemd ganz aus und setzte mich mit nacktem Oberkörper auf den Hocker, nun los!, ich setzte an, und wahrhaftig, die raschen, rollenden Bewegungen der linken Hand verliefen vollkommen mühelos, als hätte ich sie in all den Jahrzehnten weiter ununterbrochen geübt. Sicher, ich spielte das Stück viel langsamer als früher, aber ich hatte keine technischen Probleme, nein, das Stück ließ sich mit einer Genauigkeit aus der Erinnerung abrufen, als hätten sich mir seine Bewegungsabläufe eingebrannt.
Ich spielte es aber nicht fortlaufend, sondern setzte an den verschiedensten Stellen ein, ich checkte es durch und unterhielt mich mit ihm, ich wechselte in eine andere Tonart, improvisierte mit dem Thema des letzten Satzes, trudelte über die Tasten, spielte zwei, drei Minuten etwas von Phil Glass und kam dann wieder auf die Fantasie zurück. Zuhörer hätten glauben können, dass das Instrument gerade einem Klavierstimmer zum Opfer fiel, so sprunghaft ging ich mit ihm um.
 
Ich wollte nichts Fertiges spielen, ich wollte dem Instrument nicht gehorchen, nein, ich wollte weder ihm noch mir eine Freude machen, nein, verdammt, ich wollte niemanden und auch mich nicht mit meinem Klavierspiel beeindrucken, sondern ich wollte lediglich diesen harten, ungelenken Steinway testen und ihn domestizieren, um ihm etwas von seiner grässlichen, aufreizenden Arroganz zu nehmen.
Ich spürte nämlich, wie mich das Instrument reizte, schon früher hatte man von diesen Steinway-Flügeln so gesprochen, als wären sie die besten Instrumente überhaupt und geradezu unschlagbar, ich hatte das nie geglaubt und glaubte es noch immer nicht, nein, ich würde diesem Prachtexemplar vor meinen Augen jetzt zeigen, wie ich mit ihm zurandekam, ich würde es hetzen und jagen, bis es vor lauter Atemlosigkeit nur noch klirrenden Schrott produzierte.
 
Und womit würde ich das tun? Mit welchem Stück? Ich brauchte nicht lange zu überlegen, ich wusste es sofort. Am Ende meiner früheren Auftritte hatte ich manchmal ein richtiges Rasse-Stück gespielt, eine Orgie aus purem Rhythmus und Temperament, bei dem das Klavier wie ein Schlagzeug behandelt wird. Es dauert kaum vier Minuten, ja, ich meine den dritten Satz einer Prokofieff-Sonate, genauer gesagt, meine ich den dritten Satz der siebten Klaviersonate von Sergej Prokofieff.
Das Stück ist ein klassischer Rausschmeißer und ein echter Orkan, das Publikum gerät dabei immer in Rage. Wenn ich es früher im Konzert spielte, hörte ich das Aufstampfen und Mitmachen der Zuhörer, manchmal setzte sogar während der Darbietung bereits rhythmisches Klatschen ein, man kann sich dieser Hexerei als Zuhörer einfach nicht entziehen.
 
Ich rückte den Klavierhocker ein wenig vom Instrument fort und schraubte ihn höher, ich wippte einen Moment mit dem Oberkörper hin und her, dann schlug ich zu und sprang das Instrument an. Ha!, es war eindeutig zu langsam, zu fahl, zu trocken, ich musste an Lautstärke zulegen, nein, das reichte noch immer nicht, ich musste beschleunigen, jetzt, noch etwas mehr, ich musste es antreiben, in der Höhe begann es wahrhaftig zu klirren, während die linke Hand einen satten Rhythmus hinbekam, das passte nicht gut zusammen, das schepperte in dem kleinen Raum, aber ich hatte das Ding jetzt in meiner Gewalt, es machte mit, ja, es schwankte sogar etwas, jetzt bog ich auf die Zielgerade ein, und dann kam der plötzliche, rabiate Schluss, Ende, aus, keine Fortsetzung möglich.
Der Schweiß lief mir über den ganzen Oberkörper, von unten auf der Straße kam Beifall. Sollte ich ans Fenster gehen und mich gönnerhaft hinausbeugen? Sollte ich mich bedanken und winken wie ein Musterschüler? Nein, das kam nicht in Frage, ich wollte unbekannt und unentdeckt bleiben, deshalb rührte ich mich nicht und wartete, bis das Klatschen aufhörte.
Doch während ich noch durchatmete und wieder etwas ruhiger wurde, erinnerte ich mich, wie oft ich mich früher aus einem dieser Fenster gebeugt und nach niemand anderem als Clara Ausschau gehalten hatte. Sie hatte mich oft vom Conservatorio abgeholt und dann unten auf der Straße darauf gewartet, dass ich in einem der Fenster erschien, ich hatte sie rufen hören, kurz und hoch, ja, sie hatte einen kurzen und hohen Schrei ausgestoßen, den wir beide immer dann ausstießen, wenn wir dem anderen ein Signal geben wollten.
Ich griff zu meinem Hemd und rieb mir den Oberkörper trocken, jetzt dachte ich wieder an sie, verdammt, ja, ich dachte an sie jetzt so stark wie in den gesamten letzten Monaten nicht. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl und stützte meinen Kopf in beide Hände, ich schloss die Augen. Der Geruch dieses Zimmers! Die leisen Stimmen unten auf der Straße! Der Duft aus den umliegenden Lokalen und Restaurants! Diese abendliche Auszehrung aller Geräusche! Es war kaum zu ertragen, wie mich das alles an früher erinnerte.
 
Ich hielt es nicht auf dem Stuhl aus, ich ging die paar Schritte zum Fenster und lehnte mich etwas nach draußen, in der Straße unten bemerkte mich niemand, nein, die Klatscher waren anscheinend bereits abgezogen. Dort unten, neben dem Schuhgeschäft, genau dort unten hatte Clara meist gestanden und zu mir hinaufgewunken: Eine schwarzhaarige, schlanke, schöne Erscheinung, meist in hellen, bunten Farben gekleidet, eine Erscheinung, der ich sofort verfiel, wenn ich sie sah, denn ihre Anziehung war so stark, dass ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, noch eine Minute weiter zu üben.
Manchmal fasste ich nicht, dass diese Frau dort unten ausgerechnet mit mir befreundet sein sollte. Sehnte sich diese Schönheit wirklich gerade danach, mit mir zusammen zu sein? Jedenfalls behauptete sie das und sprach von uns beiden so, als stünde ein für allemal fest, dass wir uns niemals trennen würden.
 
Vielleicht hatten diese Wendungen mich in Sicherheit gewiegt, vielleicht hatten sie dazu beigetragen, dass ich mich niemals länger gefragt hatte, ob Clara wirklich mit unserem Leben ganz zufrieden und von ihm restlos begeistert war. Nach außen hin machte alles diesen Eindruck, und doch stellte sich später heraus, dass ich in meinem dummen, einfältigen Wahn vieles übersehen hatte. Die Vorstellung von einer absoluten und totalen Liebe hatte mich derart geblendet, dass ich immer nur die Bestätigung dieser Liebe gesucht hatte, anstatt darauf zu achten, wie es Clara in meiner Gegenwart wirklich erging und wie sie sich fühlte.
Und wie erging es ihr? Und wie fühlte sie sich? Erst später und lange nach unserer Trennung habe ich mich mit solchen Fragen beschäftigt und darüber nachgedacht, wie Clara unsere gemeinsame Zeit wohl erlebt hat …