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SEIT DEM Abend, den
wir gemeinsam im Il Cantinone verbracht
haben, habe ich Antonia nur zwei- oder dreimal kurz im Treppenhaus
gesehen. Sie war eilig, sie hatte angeblich etwas Dringendes zu
erledigen, oder sie erklärte, dass sie rasch in die Wohnung müsse,
weil sie einen wichtigen Anruf erwarte.
Jedes Mal hatte ich
dabei aber den Eindruck, dass sie eine längere Unterhaltung
vermeiden wollte. Vielleicht fürchtete sie, es könne zu einer
weiteren Verabredung und damit einer noch stärkeren Annäherung
zwischen uns kommen, vielleicht brachte sie ihre frühere
Lebenssituation aber auch noch nicht mit gewissen Veränderungen in
unserer sich allmählich entwickelnden Freundschaft zusammen und
brauchte einfach Zeit, sich auf diese Veränderungen
einzustellen.
Ich dagegen erlebte
unsere Annäherung ganz anders. Das lange nächtliche Gespräch im
Il Cantinone hatte ich als eine
Erlösung von der Zeit meines einsamen Umhervagabundierens
empfunden, ganz zufällig war ich hier in Rom auf jemanden
getroffen, mit dem ich mich nicht nur unterhalten, sondern dem ich
sogar etwas anvertrauen konnte. Ja, wahrhaftig, ich hatte begonnen,
Antonia zu vertrauen, langsam wuchs sie in die Rolle einer
wirklichen Zuhörerin und Freundin hinein, weshalb ich von ihr nun
erwartete, dass wir auf dem eingeschlagenen Weg
weitermachten.
Genau solche
Erwartungen haben in meinem Leben jedoch immer wieder zu großen
Enttäuschungen geführt. Um das zu begreifen, muss man verstehen,
dass fast alle Menschen, denen ich in meinem Leben begegnete und
mit denen ich dann auch zu tun hatte, mir derart fremd waren, dass
ich zwar mit ihnen auskommen und sogar bestimmte Zeiten in der
Woche mit ihnen zusammen sein konnte, darüber hinaus aber keine
engeren Verbindungen mit ihnen zustandebrachte.
In meiner gesamten
Schulzeit kam es daher zu keiner einzigen wirklichen Freundschaft,
obwohl ich mich gerade nach einem richtigen Freund sehr gesehnt
habe. Stattdessen war ich höchstens ab und zu mit kleinen Gruppen
von Mitschülern unterwegs, lange hielt ich es aber in diesen
Gruppen nicht aus, ich musste davon, ich wollte weg und wieder
allein sein, und ich hatte immer eine Ausrede parat, um mich zu
verdrücken, ja ich hatte sogar eine richtige Sammlung solcher
Standard-Ausreden, deren ich mich beinahe wahllos bediente. Kam es
nach langen Anläufen und Umwegen aber endlich doch einmal dazu,
dass sich eine gewisse Nähe zu einem anderen Menschen herstellte,
war ich von dem anderen oft so hingerissen, dass ich von dieser
Verbindung sehr viel erwartete.
Mit einem anderen
Menschen wirklich zusammen zu sein, das führte in meinem Fall zu
Ansprüchen, von denen sich derjenige, dem ich vertraute, oft
überfordert fühlte. Ich wünschte mir bedingungslose Nähe, Tag für
Tag, und möglichst noch auf Dauer, während mein Gegenüber nicht
laufend von meinem Enthusiasmus erdrückt werden
wollte.
Für mich entstanden
daraus, wie gesagt, schwere Enttäuschungen, die jedes Mal dazu
führten, dass ich mich für lange Zeit wieder in meine einsamen
Welten zurückzog und allmählich den Glauben daran verlor, überhaupt
noch einmal einen Menschen zu finden, der es mit mir aushalten
würde.
Davon möchte ich
später noch etwas mehr erzählen, an dieser Stelle aber genügt der
Hinweis, dass ich Antonias Vorsicht zwar gut verstand, jedoch auch
etwas enttäuscht war. Am liebsten hätte ich mich täglich mit ihr
getroffen, mit ihr gegessen oder mit ihr etwas
unternommen.
Eben weil ich aber
nun bereits einige Enttäuschungen im Verlauf solcher Annäherungen
erlebt hatte, ermahnte ich mich diesmal, meine Ansprüche unter
Kontrolle zu halten. Nein, ich durfte nicht bei Antonia klingeln,
nein, ich durfte ihr keinen Zettel mit einer Einladung zum Essen in
den Briefkasten werfen! Das Einzige, was ich durfte, war, dann und
wann in ihrer Wohnung auftauchen, um Marietta zu unterrichten.
Diesen Besuchen aber ging jedes Mal eine Aufforderung von Mariettas
Seite und eine Vereinbarung mit ihr über den genauen Termin voraus,
so dass ich nicht in Versuchung kam, die Wohnung häufiger oder
sogar für mehrere Stunden aufzusuchen.
Auch bei solchen
Gelegenheiten war ich vorsichtig, ich fragte nicht danach, wo sich
Antonia befand, nein, ich unterhielt mich mit Marietta überhaupt
nicht über ihre Mutter, sondern konzentrierte mich ganz auf den
Unterricht. In diesem Unterricht aber machte Marietta so rasche
Fortschritte, dass ich sie immer wieder lobte und ihr schließlich
versprach, die Idee des kleinen Konzerts auf dem Platz vor unserem
Wohnhaus auf jeden Fall zu verwirklichen.
Wir arbeiten am Programm, sagte ich zu ihr, wenn
wir Stücke übten, die an dem fraglichen Abend gespielt werden
sollten, und jedes Mal erlebte ich, wie sich ihr Rücken dann
straffte und wie sie beim Üben ernster und aufmerksamer wurde.
Irgendwo in ihrem Hinterkopf gab es nun das Bild eines schwarzen
Flügels, der unten auf dem weiten Platz zwischen den hohen Pinien
auf einem kleinen Podest stand, getaucht in ein diffuses Licht von
Scheinwerfern und umgeben von lauter Reihen von Zuhörern, die sich
in seinen Anblick verloren …
Wir arbeiten am Programm, das sagte auch Walter
Fornemann damals, in meinen letzten Gymnasialjahren, immer wieder
zu mir. Im Kern bedeutete das, dass wir an der Erweiterung meines
Repertoires arbeiteten und dabei nicht mehr nach Lust und Laune,
sondern gezielt vorgingen. Daneben bedeutete es aber auch, dass es
bestimmte Konzert-Termine gab, auf die wir hinarbeiteten. Fast
jeden Monat reiste ich daher in eine andere deutsche Stadt, um dort
in einem Konservatorium oder einer anderen musikalischen
Einrichtung aufzutreten, Walter Fornemann kümmerte sich um diese
Termine, er vereinbarte sie und reiste dann und wann sogar
mit.
Eine dieser
Veranstaltungen führte mich nach Essen, wo ich zusammen mit einem
anderen jungen Pianisten mehrere Stücke für zwei Klaviere
aufführte. Zu diesem Konzert hatte ich meinen Onkel eingeladen,
der, wie ich schon früher einmal erzählt habe, als Pfarrer in Essen
lebte. Nach dem Konzert begegneten wir uns in einem kleinen Lokal,
unterhielten uns eine Weile und kamen dabei auch immer wieder auf
meine Kinderjahre zu sprechen. Hatte ich den Tag noch in
Erinnerung, als das Klavier der Marke Sailer in unsere Wohnung gebracht worden war? Ja,
das hatte ich. Erinnerte ich mich noch an den Garten des Essener
Pfarrhauses, in dem ich als kleines Kind so gern die noch unreifen,
grünen Birnen gegessen hatte? Nein, daran erinnerte ich mich nicht
mehr.
Während dieses
Gesprächs, in dem es dann immer wieder um das Gestern und das
Heute, um die Internatsjahre, mein Klavierspiel und die Zukunft
ging, kam mir dann plötzlich eine Idee: Warum fragte ich nicht
einfach den Onkel nach der Vergangenheit meiner Eltern? Warum kam
ich nicht beiläufig darauf zu sprechen und nutzte die Gelegenheit,
ihn alles, was ich wissen wollte, zu fragen?
Ich war nahe daran,
das zu tun, als mir ein noch besserer Gedanke kam. Ich fragte den
Onkel, ob er mir erlaube, in seiner Kirche einmal die Orgel zu
spielen, und dann erzählte ich gleich anschließend davon, dass ich
in der Klosterkirche immer wieder Orgel gespielt hätte, mir das
aber jetzt untersagt worden sei. Zum Schluss sprach ich noch von
der geheimen Sehnsucht, die mich ab und zu überfalle, wenn ich in
eine Kirche käme, in der sich eine schöne Orgel
befände.
Mein Onkel reagierte
genauso, wie ich erwartet hatte. Er fragte, wann ich mir denn etwas
Zeit für das Orgelspiel nehmen könnte, und lud mich, nachdem ich
ein paar mögliche Zeiträume genannt hatte, sofort ein, ihn zu
besuchen. Ein paar Tage solltest Du aber schon
bleiben, verlangte er, und ich sagte ihm auch gleich zu,
dass ich auf jeden Fall so lange bleiben würde. Dann können wir einmal in Ruhe miteinander reden,
sagte der Onkel, während ich auch schon nervös wurde, weil sich nun
derart unerwartet die Chance auftat, etwas über bestimmte Details
der Vergangenheit zu erfahren. Einen Moment fragte ich mich, ob die
Gespräche mit dem Onkel mir nicht schaden würden, doch dann zwang
ich mich, nicht an so etwas zu denken, sondern mich im Gegenteil
darauf zu freuen, dass der Onkel sich Zeit für mich nehmen
wollte.
Von außen
betrachtet, waren die Essener Tage, wie
ich sie später dann immer für mich genannt habe, von großer
Schönheit. Morgens frühstückte ich mit dem Onkel im großen
Pfarrgarten hinter dem Pfarrhaus, um dann am Vormittag einige Zeit
an der Orgel zu verbringen. Mittags fuhren wir oft mit einem Wagen
ins Grüne, gingen spazieren und aßen irgendwo eine Kleinigkeit, um
am Nachmittag übers Land zu gondeln, von Ortschaft zu
Ortschaft.
Ich spürte, dass
mein Onkel bemüht war, meinen Besuch wie einen Ferienaufenthalt zu
gestalten, und als ich mich mit seiner alten Haushälterin
unterhielt, erfuhr ich, dass er ihr genau das gesagt hatte:
Johannes macht bei uns Ferien. Ferien
zu machen, bedeutete, dass ich zwar Orgel spielen, nicht aber lange
auf der Orgel und dem Klavier üben durfte, und Ferien zu machen,
bedeutete weiterhin, dass ich mich um nichts zu kümmern brauchte,
sondern dass mir viel vom üblichen Alltag abgenommen
wurde.
So hatte ich
wahrhaftig einmal etwas Zeit, von der ich einen Teil in der
geräumigen Küche verbrachte, wo ich mich gern mit der Haushälterin
unterhielt, die aus demselben Ort kam wie meine Eltern und in der
Jugend sogar mit meiner Mutter befreundet gewesen war. Deine Mutter war eine unglaublich hübsche Person,
sagte sie und erzählte dann von ihren Erinnerungen: Katharina,
Blumen pflückend, im Garten des großelterlichen Hauses. Katharina
in einem langen weißen Kleid, nach dem Kirchgang, auf der
Dorfstraße. Katharina auf dem Schützenplatz, in einer Runde mit
mehreren Freundinnen, ausgelassen und fröhlich. Wir anderen Mädchen haben sie immer um ihre schöne
Kleidung beneidet, erzählte die Haushälterin weiter,
sie hatte einen unfehlbar guten Geschmack. Die
Kleider entwarf und schneiderte sie sich selber, wir wussten nie,
woher sie die Anregungen dafür bekam, das blieb ihr
Geheimnis.
Ganz nebenbei erfuhr
ich, dass ich selbst in meinen ersten Kinderjahren bereits mehrere
Male im Pfarrhaus gewesen war. Ich hatte daran keine Erinnerung
mehr, bekam jetzt aber zu hören, dass ich meine Mutter für einige
Tage begleitet und mit ihr oben, in dem großen, hohen Schlafzimmer
unter dem Dach, übernachtet hatte, in dem ich auch diesmal schlief.
Du bist keinen Schritt von Deiner Mutter
gewichen, sagte die Haushälterin und lachte, als erzählte
sie eine lustige Geschichte, Du hast das
Zimmer verlassen, wenn sie das Zimmer verlassen hat, Du bist ihr
sogar bis zur Toilette gefolgt und hast dann vor der Toilettentür
auf sie gewartet. Niemand durfte Dich berühren oder anfassen,
geschah so etwas zufällig aber doch einmal, hast Du geschrien, als
würdest Du richtige Schmerzen ausstehen. Bei Tisch hast Du so dicht
neben der Mutter gesessen, dass Du Dich mit dem Oberarm an sie
anlehnen konntest, und wenn Dich jemand aufgefordert hat, ihr doch
ein wenig mehr Platz beim Essen zu lassen, hast Du ihn böse
angeschaut und Dich noch enger an sie geschmiegt. Ich sehe noch,
wie ihr manchmal zusammen spazieren gegangen seid. Kaum hattet ihr
das Haus verlassen, hast Du nach ihrer Hand gegriffen und sie dann
nicht mehr los gelassen. Du warst so ängstlich und schreckhaft,
dass wir alle Angst hatten, Dir könne vor lauter Empfindlichkeit
wirklich einmal etwas passieren. Es hat Dir aber niemand übel
genommen, dass Du so seltsam warst, denn alle hier im Haus wussten
ja, was mit Deiner Mutter während des Krieges geschehen war
…
Und was war mit
meiner Mutter während des Krieges geschehen? Ich fragte die
Haushälterin nicht, sondern sprach über diese Zeit nur mit meinem
Onkel. Er hatte sich schon gedacht, dass ich von meinen Eltern
nichts über diese Jahre erfahren hatte, und er antwortete auf meine
vielen Fragen, indem er seine Fotoalben als Erinnerungsstütze
hervorholte und erzählte. Zwei ganze Nachmittage verbrachten wir
zusammen in seinem Arbeitszimmer, es war sehr still, ab und zu
hörte ich die Glocken der nahen Kirche schlagen. Während wir in den
Alben blätterten, saßen wir dicht nebeneinander, der Onkel sprach,
ich fragte nach, manchmal hatte ich das Gefühl, eine gespenstische
Geisterschau zu erleben, ein Blick auf ein Leben, das ich nur
hilflos betrachten, aber kaum begreifen konnte.
Wie seltsam war es
zum Beispiel, die eigenen Eltern in noch jugendlichem Alter und
damit als Liebespaar zu sehen! Da standen sie zusammen am Rand
eines Feldes und umarmten einander, als hätten sie das Glück ihres
Lebens gefunden! Meine Mutter war sichtlich hingerissen von der
Eleganz des großen Mannes, der neben ihr stand, und mein Vater
stand so stolz neben ihr, als hätte er eine Trophäe erobert. Sie
plauderten, ja, sie hatten anscheinend beide während der Aufnahme
der Fotografie miteinander gesprochen, so dass sie noch etwas
Jugendliches, ja sogar Kindlich-Unverkrampftes hatten. Betrachtete
man solche Fotografien, hielt man die beiden für ein
lebenslustiges, humorvolles, ja sogar etwas draufgängerisches Paar,
das sich gerade aufmachte, die Welt zu erobern.
Ein paar Albumseiten
später aber war dann schon alles ganz anders. Meine Eltern hatten
geheiratet und waren kurz nach ihrer Heirat nach Berlin gezogen,
weil mein Vater dort seine erste Stelle erhalten hatte. Aus einem
kleinen westerwäldischen Dorf direkt nach Berlin! Vom
ausgebleichten Grasrand eines Feldes direkt auf Berliner
S-Bahn-Stationen! Auf einer solchen Station standen sie dann
nebeneinander, Botanischer Garten war
der gut erkennbare Name der Haltestelle, dort stiegen sie meist aus
und ein, weil sie in der Nähe dieser Station wohnten.
Jetzt wirkten sie
angestrengt, erschöpft, sehr ernst und ganz wie ein Paar, das den
Kampf mit der Stadt aufgenommen hatte. Beinahe alle Berlin-Bilder
zeigten sie dann auch bei bestimmten Tätigkeiten: Beim Einrichten
der Wohnung, bei Einkäufen und Erledigungen, bei Treffen mit den
Kollegen meines Vaters, selbst auf Ausflügen machten sie den
Eindruck, als wären sie nicht aus reinem Vergnügen unterwegs,
sondern um einer Pflicht zu genügen.
In Berlin wurde dann
mein erster Bruder geboren, der aber bereits kurz nach der Geburt
während eines Bombenangriffs ums Leben kam. Fotos von diesem früh
gestorbenen Bruder gab es nicht, die einzigen Bilder, die mit
diesen Ereignissen in Zusammenhang standen, zeigten meine Mutter
vor einem Lastwagen, auf dem sich ein Teil der Möbel und der
Wohnungseinrichtung befand. Sie schaute den unbekannten Fotografen
nicht an, sie hatte den Kopf zur Seite gedreht, als gälte ihre
ganze Aufmerksamkeit nicht dem Foto, das gerade von ihr gemacht
wurde, sondern einer anderen, viel wichtigeren Sache.
Diese wichtigere
Sache könnte die Fahrt zurück in die Heimat gewesen sein, denn
unmittelbar nach dieser Aufnahme muss sie zusammen mit dem Fahrer
dieses Lasters die Heimreise angetreten haben. Damals war mein
Vater längst Soldat und konnte ihr bei all diesen Aktionen nicht
helfen. So brachte sie das Kostbarste an Hab und Gut allein in die
ländliche Heimat zurück und pendelte nur noch ab und zu nach
Berlin, um die fast leere Wohnung weiter notdürftig zu
bewirtschaften. Sie hatte sich so auf Berlin
gefreut, sagte mein Onkel, aber nach
dem Tod des Kindes hielt sie es in der Stadt nicht mehr aus. Vorher
war sie viel in den Museen und Bibliotheken unterwegs gewesen, sie
hatte sich um eine Anstellung bei einer Bibliothek beworben und
nach einem Bewerbungsgespräch auch fest damit gerechnet, genommen
zu werden. Danach aber war von so etwas nie mehr die Rede, sie ging
kaum noch aus und ernährte sich fast nicht mehr, im Grunde hatte
sie nur noch die eine Sehnsucht, endlich wieder in die Heimat
zurückzukehren. Wie konnten wir bloß von dort weggehen!, sagte sie
immer wieder, wie konnten wir bloß!
In der Heimat war
sie dann kurze Zeit später wieder schwanger geworden, und von da an
war es überhaupt nicht mehr möglich gewesen, sie auch nur zu einem
Aufenthalt von wenigen Tagen in Berlin zu bewegen. Die Fotografien
zeigten sie daher nun wieder ausschließlich auf dem Land, zusammen
mit ihren Eltern, in deren Haus sie lebte. Als
der Junge zur Welt gekommen war, wurde er ihr ganzes Glück,
erzählte mein Onkel, ich habe selten ein so
strahlendes Paar gesehen. Wahrhaftig, ja, von den ersten
Fotos an, die von ihm gemacht wurden, lachte mein zweiter Bruder.
Er hatte hellblonde Haare und einen großen Kopf und wirkte so
beglückt, als wollte er mit aller Macht davon ablenken, dass er
mitten im Krieg zur Welt gekommen war.
Ich schaute mir die
Fotos, die von ihm gemacht worden waren, immer wieder an, die
Ähnlichkeit mit mir war doch zu verblüffend. Seine blonden Haare
waren an genau derselben Stelle des Kopfes wie bei mir gescheitelt,
und die Stirn war beinahe genau so auffällig breit wie die meine.
So hatte sein Anblick für mich etwas Irritierendes, als schaute ich
in den Spiegel oder als betrachtete ich einen fernen Zwilling, der
meine spätere Existenz vorweggenommen hatte. Ich fragte mich, ob er
auch ganz ähnlich empfunden und gedacht hatte wie ich, ja ich
vertiefte mich immer wieder in die scheinbar unbedeutendsten
Details seiner Erscheinung, als könnte ich ihnen etwas
entnehmen.
Dass er nur wenige
Tage vor Kriegsende beim Einmarsch der Amerikaner auf einem
abgelegenen Hofgut in der Nähe des elterlichen Dorfes dann
ebenfalls ums Leben kam, vernichtete den Lebenswillen meiner Mutter
beinahe ganz. Sie soll in der Küche des Guts
gesessen und Deinem Bruder ein Honigbrot geschmiert haben, als die
Granaten in den Raum einschlugen, erzählte mein Onkel.
Die Amerikaner hatten das Gut längst besetzt,
aber im Tal gegenüber lag noch versprengte deutsche Artillerie, die
einfach drauflos feuerte und dabei das Leben der eigenen Landsleute
aufs Spiel setzte. Eine dieser Granaten ist Deinem Bruder in den
Hinterkopf geschlagen, er war sofort tot.
Mein Onkel sagte
eine Weile nichts mehr, schließlich war es auch für ihn nicht
leicht, mir das alles zu erzählen. Auf einigen Fotografien sah man
das abgelegene Hofgut, dessen Namen ich noch nie gehört hatte.
Neben dem Wohnhaus stand eine mächtige, verwitterte Scheune, im
Hintergrund gab es Wiesen und windschiefe Zäune, in der Ferne
verlief eine dünne, sanft auf und ab schwingende Horizontlinie, man
konnte sich kaum einen einsameren Ort vorstellen. Wieso war es aber
ausgerechnet dieser Ort gewesen, an dem sich die letzten
Kampfhandlungen in der Gegend ereignet hatten? Und warum hatten
diese letzten Kampfhandlungen ausgerechnet meinem kleinen, damals
etwas über drei Jahre alten Bruder das Leben gekostet?
Nach dem Tod Deines zweiten Bruders hat Deine Mutter noch
gesprochen, jedoch nicht mehr viel, nur noch das Nötigste. Sie nahm
aber am Leben um sie herum immer weniger teil, denn sie war von der
Trauer derart überwältigt, dass sie nichts mehr interessierte. Ich
habe ihr damals zu helfen versucht, sagte mein Onkel,
ich habe viele Gespräche mit ihr geführt, aber
wir drehten uns bei all diesen Gesprächen im Kreis. Deine Mutter
konnte nicht verstehen, warum sie zum zweiten Mal ein so hartes
Schicksal getroffen hatte, sie gab sich sogar selbst die Schuld,
als wäre ihre besondere Vorsicht der Grund für den Tod Deines
Bruders gewesen. Diese Vorsicht hatte sie das einsame Hofgut
aufsuchen lassen, dort hatte sie sich sicher geglaubt, gerade
dieser entlegene Ort hatte sich dann aber als der unsicherste der
Gegend erwiesen.
Wenige Monate nach
Kriegsende hatten meine Mutter und mein schwerverletzt aus dem
Krieg heimgekehrter Vater dann jene Wohnung in Köln bezogen, in der
ich aufgewachsen war. Auch von der Inbesitznahme dieser Wohnung gab
es keine Fotos, wohl aber einige wenige Aufnahmen von meinem Vater,
der mit Hut und im Mantel vor der Haustür stand, als hätte er dort
Posten bezogen und müsste jetzt tagelang unbeweglich an genau
dieser Stelle stehen und ausharren. Wir hatten
uns von dem Umzug nach Köln viel versprochen, sagte mein
Onkel, doch dann wurde alles noch schlimmer.
Deine Mutter bewegte sich nicht mehr aus dem Haus, sie wurde stumm,
und wir alle wussten nicht, was dagegen zu tun war. Auf keine
mögliche Ablenkung ließ sie sich ein, sie hörte keine Musik, sie
las nicht, ihre einzigen Wege führten sie in die Kirche, wo sie
sich dann lange Zeit in der Nähe des Marienbildes aufhielt. Später
hat Dein Vater einmal gesagt, der Anblick dieses Bildes habe ihr
die Kraft gegeben, weiter am Leben zu bleiben, wir können heute
nicht wissen, ob das so war, was wir aber wissen, ist, dass diese
stumm und leblos gewordene Frau dann noch zweimal versucht hat, ein
Kind zu bekommen. Jedes dieser beiden Kinder aber wurde tot
geboren, und das war so furchtbar, dass ich selbst kurz davor war,
den Beruf des Pfarrers aufzugeben. Ja, Johannes, so war es
wirklich, ich habe mit Gott gehadert und mich am hellen Tag allein
und verzweifelt in meinen dunklen Beichtstuhl gesetzt, um Gott
anzuklagen, dass er etwas derart Furchtbares
zuließ.
Ich habe bisher noch wenig von Deinem Vater
gesprochen, sagte mein Onkel später, ich muss jetzt aber unbedingt auf ihn zu sprechen kommen.
Ohne ihn hätte Deine Mutter nicht weitergelebt, ohne ihn nicht! Und
damit Du genau verstehst, was für ein Mann er damals war, erzähle
ich Dir von der Beerdigung Deines vierten Bruders, an der Deine
Mutter natürlich nicht mehr teilnehmen konnte. Niemand von uns
Verwandten konnte eigentlich noch an einer solchen Beerdigung
teilnehmen, selbst mir war es in diesem Fall nicht mehr möglich,
meine priesterlichen Pflichten zu erfüllen. Deshalb hatten wir den
Pfarrer unseres Dorfes gebeten, diese schwere Aufgabe zu
übernehmen, der Mann gab sich die größte Mühe, stoisch zu bleiben,
aber auch ihm kamen am offenen Grab vor der versammelten
Trauergemeinde dann die Tränen, so dass er nicht weitersprechen
konnte. Stell es Dir vor, stell Dir vor, dass die Zeremonie stockte
und keiner noch ein Wort sprechen konnte! Es war ein furchtbarer,
allen Schmerz übersteigender Moment, aus dem niemand noch einen
Ausweg wusste. In diesem Moment aber trat Dein Vater ans Grab,
schnäuzte sich kurz, atmete zwei-, dreimal tief durch und betete
dann mit fester Stimme: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts
mangeln, auf grünen Auen lässt er mich lagern; an Wasser mit
Ruheplätzen führt er mich, Labsal spendet er mir. Er leitet mich
auf rechter Bahn um seines Namens willen. Auch wenn ich wandern
muss in finsterer Schlucht, ich fürchte doch kein Unheil, denn Du
bist bei mir, Dein Hirtenstab und Stock, sie sind mein Trost
…«
Es war ein schlimmer
Moment, als mein Onkel mir von diesem Gebet meines Vaters erzählte,
denn plötzlich sah ich ihn vor mir, wie er sich während meiner
ganzen Kindheit um meine Mutter und mich gekümmert hatte, wie er
später mit mir aufs Land gezogen war, wie wir zusammen in der
freien Natur unterwegs gewesen waren, und wie er in jedem Moment
darauf vertraut und gehofft hatte, dass ich irgendwann wieder
sprechen würde …
Was hatten meine
Eltern bloß für ein Leben geführt! Konnte man sich überhaupt noch
schrecklichere Jahre denken als die, die sie vor meiner Geburt
zusammen erlebt hatten? Und wie war es meinem Vater nach dem Tod
von vier Söhnen noch möglich gewesen, derartige Gebete zu sprechen?
Ich unterhielt mich mit meinem Onkel darüber, und er antwortete,
dass mein Vater einen tiefen, unerschütterlichen Glauben habe,
einen Glauben, der durch kein irdisches Geschehen auch nur einen
Deut ins Wanken geraten könne. Der Festigkeit dieses Glaubens
hätten wir zu verdanken, dass meine Mutter am Leben geblieben sei,
ja, auch mein eigenes Leben hätte ich wohl nur diesem starken
Glauben zu verdanken.
Und wie hatte sich
dieses, mein eigenes Leben vor den ersten Tagen, an die ich mich
noch erinnern konnte, abgespielt? Nach Deiner
Geburt, sagte mein Onkel, warst Du ein
Kind wie jedes andere auch. Dein Verstummen begann erst, als Du
etwa drei Jahre alt warst. Es war die Zeit, in der Du gar nicht
mehr von Deiner Mutter lassen wolltest und in der Du Tag und Nacht
so eng mit ihr zusammen warst, dass wir Deine Mutter vor dieser
gefährlichen Entwicklung warnen mussten. Sie wollte Dich aber nicht
freigeben, denn sie hatte einfach zu große Angst, dass auch Dir
etwas passieren könne. Und Du? Du wiederum entwickeltest Dich zu
Ihrem Beschützer, denn natürlich nahmst Du jetzt wahr, dass ihr
etwas fehlte, dass sie Hilfe brauchte, dass sie dies und das nicht
so bewältigte wie andere Menschen. Mit der Zeit nahmst Du ihre
Verhaltensweisen an, Du setztest Dich neben sie, wenn sie ein Buch
hervornahm, Du trankst etwas, wenn auch sie etwas trank. Es war,
als hättest Du ihr beistehen wollen, indem Du ihr zeigtest, dass Du
immer für sie da warst und ganz und gar zu ihr gehörtest. Deshalb
durfte Dich ja auch niemand anrühren, und deshalb gingst Du nur mit
ihr aus! Erst wurdest Du immer verschlossener, dann aber sagtest Du
keinen Ton mehr. Du hattest Dich ihrem Leben und vor allem ihren
Leiden so angepasst, dass Du plötzlich selbst wie ein Bild des
Leidens erschienst …
So war das also
gewesen! Plötzlich erkannte ich die Zusammenhänge und begriff
deutlicher, warum ich manchmal so seltsam gehandelt hatte und
manchmal noch immer so handelte. Mein Leben war eine mühevolle,
schrittweise Befreiung von all diesen schlimmen Vergangenheiten
gewesen, die ich erst allmählich hatte abstreifen und zumindest in
ihren gefährlichsten Momenten hatte zurücklassen
können.
Dann und wann
tauchten diese nächtlichen, dunklen Momente aber wieder auf und
machten mir zu schaffen, denn im Grunde besaß ich nur wenige
schwache Hilfsmittel, um ihnen zu begegnen. Das stärkste dieser
Hilfsmittel war das Klavierspiel, ein anderes, jedoch weitaus
schwächeres, waren die Aufzeichnungen und Notizen, mit deren Hilfe
ich das Leben um mich herum festhielt.
An diese beiden
Hilfsmittel hatte ich mich mit den Jahren derart geklammert, dass
ich ohne sie kaum noch existieren konnte. Ließ ich in einer dieser
beiden Vergewisserungs-Arbeiten auch nur ein wenig nach, spürte ich
eine starke Irritation und wurde schon bald sehr unruhig. Dann
stieg die alte Angst in mir hoch, dann begann ich, mich von den
anderen Menschen zu entfernen und schließlich zu trennen, als
müsste ich ihnen den Anblick einer bedauernswert hilflosen Existenz
ersparen.
Ich sagte bereits,
dass die Essener Tage von außen
betrachtet sehr schöne Tage waren, unter dieser ruhigen, schönen
Oberfläche aber wuchs mit den Tagen eine innere Unruhe, die mich
dann lange Zeit keine Nacht mehr schlafen ließ. Waren die schlimmen
Zeiten und Erfahrungen wirklich ganz vorüber? Oder musste ich Angst
haben, sie in anderen Facetten und Konstellationen wieder zu
erleben?
Niemand konnte mir
helfen, solche Fragen zu beantworten, ich musste mit ihnen allein
zurechtkommen. Vor allem aber musste ich mir Gedanken machen, wie
es mit meinem Leben weitergehen sollte. Sollte ich mich – wie seit
langen Zeiten geplant – um einen Studienplatz an einer
Musikhochschule bewerben? Und sollte ich wirklich alles riskieren
und nur auf eine pianistische Laufbahn setzen?
Es war in den Tagen
nach meiner Rückkehr aus Essen, als sich am Horizont eine vage Idee
abzuzeichnen begann, die mich dann von Tag zu Tag mehr
beschäftigte. Sie war unter anderem dadurch entstanden, dass mein
Onkel nicht nur vom Leben meiner Eltern, sondern schließlich auch
von seinem eigenen Leben erzählt hatte. Dabei hatte er
leidenschaftlich und begeistert von Rom und jenen beiden Jahren
gesprochen, in denen er als junger Theologe dort studiert
hatte.
Auch von diesen
Jahren hatte er mir Fotografien gezeigt, und ich hatte einen
schlanken, schwarz gekleideten jungen Mann gesehen, der sich von
seinem kleinen ländlichen Heimatort abgesetzt hatte, um eine andere
Kultur kennenzulernen und das Leben zu Hause zumindest für einige
Zeit ganz hinter sich zu lassen.