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GESTERN NACHMITTAG
bin ich nach meinem täglichen Schreibpensum wieder einmal Mariettas
Mutter im Treppenhaus begegnet. Wir sind stehen geblieben und haben
uns etwas unterhalten, und da wir gerade so leicht ins Gespräch
geraten waren, nahm ich einen Anlauf und lud sie und ihren Mann zu
einem Abendessen in meine Wohnung ein. Können
Sie denn kochen?, fragte Mariettas Mutter, und ich
antwortete, dass ich recht ordentlich kochen könne und dass sie
keine Angst haben müsse, etwas Ungenießbares zu essen zu
bekommen.
Sie lächelte, sie
tat etwas scheu, und als sie weitersprach, verstand ich auch
sofort, warum. Sie berichtete nämlich davon, dass sie nicht mehr
mit ihrem Mann zusammenlebe, ihr Mann und sie lebten seit einiger
Zeit getrennt, doch er kam alle paar Tage vorbei, um Marietta zu
sehen und etwas mit ihr zu unternehmen.
Ich wusste nicht so
recht, was ich darauf erwidern sollte, ich hatte ihren Mann beinahe
noch häufiger als sie im Treppenhaus und zweimal sogar unten in der
Buchhandlung im Parterre gesehen. Er hatte allerdings keinen
Kontakt mit mir aufgenommen, sondern mich jedes Mal nur mit einem
kurzen, aber freundlichen Nicken gegrüßt, jeder von uns war seiner
Wege gegangen, wir hatten anscheinend beide keine Lust verspürt,
uns miteinander bekannt zu machen.
Jetzt aber, nach der
Auskunft von Mariettas Mutter über den bedauerlichen Zustand ihrer
Ehe, verstand ich sofort, warum sich ihr Mann mir nicht vorgestellt
hatte und nicht auf mich zugekommen war. Er war dabei, sich von dem
Haus, in dem er vielleicht ein paar Jahre gelebt hatte, zu
entfernen, deshalb wollte er keine neue Verbindung zu einem anderen
Hausbewohner mehr aufnehmen und gewiss keine zu einem Fremden, von
dem er nicht wusste, ob er sich nicht nur für kurze Zeit in Rom
aufhielt.
Der Hinweis von
Mariettas Mutter auf ihre Ehe führte im weiteren Verlauf unseres
Gesprächs dann dazu, dass wir das Thema Einladung zum Abendessen gar nicht mehr berührten,
das Thema hatte sich anscheinend von selbst erledigt, und so sprach
ich auf mehrere Nachfragen hin von etwas anderem, wie zum Beispiel
davon, dass ich kein Rom-Neuling sei, sondern in meinen
Jugendjahren und später immer wieder längere Zeiten in Rom
verbracht habe. Meine Erläuterungen schienen Mariettas Mutter zu
interessieren, denn ihr Interesse ging weit über das übliche,
höfliche Maß einer kurzen Konversation hinaus, ja sie fragte mich
sogar danach, in welchen Gegenden Roms ich früher einmal gelebt und
was mich in diesen vergangenen Zeiten nach Rom geführt
habe.
Wir gaben uns
schließlich die Hand, sie ging einige Stufen hinauf zu ihrer
Wohnung, und ich ging hinab ins Freie und machte einen kurzen
Abstecher in die Buchhandlung, die ich für eine der besten
Buchhandlungen Roms halte. Ich widmete mich ein wenig dem
belletristischen Sortiment und suchte nach neuen italienischen
Romanen, deren Lektüre meine Sprachkenntnisse weiter verbessern
könnte, da ich aber nicht einen einzigen Titel fand, der mich
irgendwie interessierte, kaufte ich mir eine historische Studie
über das Leben Konstantins des Großen, ließ das Buch als Geschenk
einbinden und verließ die Buchhandlung wieder.
Wie meist nach einem
langen Schreibtag hatte ich starken Durst (ich trinke während des
Schreibens nichts, nicht mal einen Kaffee, keinen Tee, nicht einmal
Wasser, ich trinke rein gar nichts), und so streunte ich etwas über
den großen Platz vor meinem Wohnhaus, um die richtige Adresse für
ein erstes Getränk am Nachmittag zu finden. Meist trinke ich
zunächst eine kleine Flasche Wasser, dann aber einen Campari, ich
trinke Campari beinahe ausschließlich am späten Nachmittag oder am
frühen Abend, nie käme ich auf die Idee, nachts noch einen Campari
zu trinken, und erst recht würde ich niemals einen Campari nach
einer Mahlzeit trinken.
Ich dachte ein wenig
über meine merkwürdigen Trinksitten nach und spielte im Kopf
zunächst das Campari-Spiel durch (wann und wo trinke ich Campari,
vor welchen Mahlzeiten trinke ich ihn am liebsten, trinke ich ihn
gerne zu zweit?), um nach einer Weile zu bemerken, dass meine
morgendliche Romanarbeit mich noch immer im Griff hatte. Von diesen
Spielen im Kopf mit bestimmten Begriffen, von diesem Ein- und
Zuordnen und Sortieren und Umsortieren hatte ich nämlich am Morgen
erzählt und geschrieben, jetzt aber wurde ich diese Themen nicht
los und verhielt mich wie der kleine Junge, der am Tisch einer
Gartenwirtschaft saß und lauter Worte für bestimmte Tischgeräte
aufzählte und durchging.
Als ich mich dabei
ertappt hatte, musste ich lächeln, ich wusste ja aus Erfahrung, wie
stark mich das Schreiben usurpierte, am besten war es, quer über
den Markt zu gehen und eine der kleinen Bars zu betreten, in denen
ich angesprochen und damit auf andere Gedanken gebracht wurde. Und
so ging ich quer über den Testaccio-Markt und dann in die
nächstbeste kleine Bar und bestellte, ganz gegen meinen Vorsatz,
einen schwarzen Caffè und einen Anisschnaps, mein Gott, ich war
anscheinend wirklich etwas durcheinander, denn es gehörte gewiss
nicht zu meinen Gewohnheiten, den späten Nachmittag mit einem
Anisschnaps einzuleiten.
Ich dachte noch
darüber nach, warum mir diese Bestellung unterlaufen war
(Campari ist im Grunde ein typisches Träumer-
und Mitsummer-Gesöff, dachte ich), als ich Mariettas Mutter
die Bar betreten sah. Als wir uns erkannten, war es uns beiden
peinlich, einander gleich wieder zu begegnen, sie lächelte aber
tapfer und kam sofort auf mich zu und erklärte mir, dass sie
während ihres Einkaufs etwas vergessen habe und deshalb noch einmal
schnell auf den Markt geeilt sei.
Was trinken Sie denn da?, fragte sie, und ich
erklärte es ihr, obwohl ich mich schämte, ja, ich schämte mich
wahrhaftig, gerade ein so blödes Getränk wie einen Anisschnaps zu
trinken, was hinterließ das bloß für einen Eindruck?, und was würde
ich selbst von einem Menschen halten, der etwas so Dämliches wie
einen Anisschnaps trank?
Was möchten Sie trinken?, fragte ich sie daher
rasch, sie überlegte einen Moment, dann aber sagte sie, dass sie
seit ewigen Zeiten keinen Anisschnaps mehr getrunken habe und
eigentlich gar nicht mehr wisse, wie so etwas schmecke, und dass
sie deshalb gern einen solchen Schnaps trinken würde, einen solchen
Schnaps und einen schwarzen Caffè.
Wir unterhielten uns
dann eine Weile sehr angeregt, mein leerer, ausgeschriebener Kopf
machte erstaunlich gut mit, ich erfuhr, dass Mariettas Mutter mit
Vornamen Antonia und mit Nachnamen Caterino hieß, Letzteres hatte
ich bereits gewusst, aber nicht behalten, irgendwann war mir der
Name auf dem Türschild der Wohnung aufgefallen.
Antonia Caterino war
von Beruf Historikerin, sie hatte einige kurze und anscheinend
erfolgreiche Jahre als Assistentin an der Universität hinter sich,
dann aber hatte sie geheiratet und Marietta geboren, der
Karriereeifer war ein wenig gebrochen, sie hatte die universitäre
Stelle verloren, schließlich war sie Gymnasiallehrerin geworden.
Ich verstehe, sagte ich am Ende ihres
kurzen Vita-Berichts, deshalb sehe ich Sie nie
am Vormittag, ich sehe Sie nie, weil Sie in der Schule
sind!
Zum Glück ging sie
über diese einfältige Bemerkung hinweg und befragte mich nach
weiteren biographischen Angaben zu meiner Person, ich sagte ihr,
dass ich Schriftsteller sei und gerade an einem Roman über meine
Biographie arbeite, weswegen ich gerade jetzt nicht gern über mein
bisheriges Leben sprechen würde, dieses Sprechen würde mich
durcheinanderbringen, und gegenüber einem Schreibstoff gelte
sowieso ein absolutes Schweigegebot.
Sprechen Sie mit niemandem über ein in Arbeit befindliches
Manuskript?, fragte sie neugierig, und ich bedauerte sofort,
nicht gelogen und mich als Architekt oder Immobilienhändler
ausgegeben zu haben. Die meisten Menschen geraten nämlich, wenn sie
einem Schriftsteller begegnen, in eine gewisse Verzückung, als wäre
es das Großartigste und Seltenste auf der Welt, einem Menschen zu
begegnen, der täglich einige Seiten mit Buchstaben und Worten
füllt. Meist beginnt dann ein ewiges Fragen (Schreiben Sie noch mit der Hand? Machen Sie sich vorher
Notizen? Wie lange arbeiten Sie an einem Roman?), es handelt
sich um eine Fragerei, die niemand einem Architekten oder
Immobilienhändler zumuten würde (Besichtigen
Sie die Wohnungen, die Sie verkaufen wollen, vor einem
Kundengespräch selbst? Machen Sie sich dabei Notizen? Wie lange
brauchen Sie für einen Verkauf?), mit der ausgerechnet
Schriftsteller aber unaufhörlich genervt werden.
Ich antwortete
wahrheitsgemäß, dass ich während der Arbeit an meinem Manuskript
mit niemandem über dieses Manuskript sprechen würde, und ich gab zu
erkennen, dass ich wirklich nicht gern über dieses Thema sprach,
nein, ich wollte am Ende eines anstrengenden Schreibtages
wahrhaftig nicht über Einzelheiten meiner Arbeit
sprechen.
Wir schafften es
dann erstaunlicherweise, das Thema fallen zu lassen, und
unterhielten uns etwa noch eine Viertelstunde weiter, am Ende
unseres Gesprächs kam Antonia dann jedoch seltsamerweise noch
einmal auf mein früheres Angebot zurück und schlug mir vor, einmal
zu ihr und Marietta zum Abendessen zu kommen, wir könnten gemeinsam
etwas kochen, Marietta mache das Kochen Spaß und außerdem spiele
sie Gästen gern etwas auf dem Klavier vor.
Ich war von diesem
Angebot regelrecht betört, sehr gut, dachte ich, endlich sind meine
einsamen Tage zu Ende, nichts tue ich jetzt lieber als mit anderen
Menschen nach einem langen Schreibtag ein Abendessen zu kochen,
während der Kocharbeit etwas Wein zu trinken und einem leidlich gut
spielenden Kind dabei zuzuhören, wie es den ersten Satz von Johann
Sebastian Bachs Italienischem Konzert
spielt.
Ich schlug vor, noch
an diesem Abend schriftlich ein kleines Menu zu komponieren, meine
Menu-Angaben würde ich Antonia in den Briefkasten werfen, sie
könnte sie korrigieren oder ergänzen, je nach Mariettas und ihrem
Geschmack, und dann solle sie den Zettel zurück in meinen
Briefkasten werfen, damit ich am nächsten Tag einkaufen gehen und
die Bestandteile unserer Mahlzeit besorgen könne.
Wollen wir gleich morgen Abend zusammen essen?,
fragte ich, und Antonia Caterino lächelte wieder und stimmte zu,
nicht ohne sich über das Procedere lustig zu machen, das ich für
die Zusammenstellung des abendlichen Menus vorgeschlagen hatte.
Dann aber leerten wir unsere Gläser Anisschnaps, und Antonia
Caterino verabschiedete sich.
Als sie verschwunden
war, griff ich gleich nach meinem Notizheft und notierte noch im
Stehen an der Bar die Zusammenstellung des Menus, ich dachte an
etwas typisch Römisches, an eine Kichererbsensuppe mit etwas Pasta,
an Penne mit Artischocken und an eingekochte, fruchtige Aprikosen
mit etwas Eis. Kein Fleisch, kein Fisch, sondern geradezu
spartanische, einfache Gerichte! Marietta, vermutete ich, würde so
etwas mögen, und Antonia mochte so etwas wahrscheinlich auch,
jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich den beiden mit
gut gewürzten Fleischspeisen oder raffiniert zubereitetem Fisch
eine Freude gemacht hätte.
Noch am gestrigen
Abend warf ich diesen Menuvorschlag, den ich zuvor noch ordentlich
abgetippt und ausgedruckt hatte, in den Briefkasten der Familie
Caterino und erhielt ihn bereits heute Morgen mit der Bemerkung,
dass meine Vorschläge mit Freude angenommen würden und es nichts zu
ändern gebe, zurück. Nun gut, so etwas hatte ich mir ja bereits
gedacht, ich hatte den Geschmack von Marietta und Antonia
anscheinend genau getroffen.
Da mich der Gedanke
an das abendliche Menu jedoch sehr beschäftigte, verbrachte ich den
halben heutigen Morgen, ganz gegen meine sonstige Gewohnheit, auf
dem Markt und in seiner Umgebung. Ich kaufte ein, ich unterhielt
mich hier und dort über die beste Zubereitung einer traditionell
römischen Kichererbsensuppe, ich notierte mir lauter Details, ja
ich ging geradezu verschwenderisch mit meiner morgendlichen Zeit
um, die ich doch sonst immer mit Schreiben verbracht
hatte.
Kurz vor Mittag
hatte ich meine Einkäufe dann endlich hinter mir und brachte alles
zunächst in meine Wohnung. Ich stellte den Wein kühl und breitete
meine Einkäufe auf dem Küchentisch aus, offensichtlich hatte ich
viel zu viel eingekauft und mich keineswegs an die Menu-Vorschläge
gehalten, schon allein all die Käsesorten, die ich in einem nahe
gelegenen, stadtbekannten Feinkost-Geschäft erstanden hatte, hätten
für eine passable Abendmahlzeit gereicht, ganz zu schweigen von den
hervorragenden Würsten, die ich aus reiner Schaulust gekauft hatte
und von denen ich zwei oder drei – ganz gegen meine Vorsätze – am
Abend in der Pfanne braten würde.
Während ich so noch
in der Küche hantierte, hatte ich plötzlich Lust, die gekauften
Sachen zu einem Stillleben zu ordnen, im Grunde war das alles ja
bereits in ungeordnetem Zustand ein schöner Anblick, um wie viel
schöner aber würde es noch erscheinen, wenn ich es zu einem
Stillleben komponiert hätte.
Ich begann auch
gleich damit, ging aber zuvor hinüber in mein Arbeitszimmer, um
eine CD einzulegen, ich dachte an ältere Bach-Aufnahmen des
Pianisten Alfred Cortot, die ich lange nicht mehr gehört hatte, ich
drückte die Play-Taste und ging wieder in die Küche zurück, als ich
aber in der Küche ankam, bekam ich ausgerechnet eine
Cortot-Aufnahme mit den Walzern Frédéric Chopins zu
hören.
Im Grunde war es
natürlich zum Lachen, ich lachte aber nicht, ja es amüsierte mich
nicht ein bisschen, statt der erwarteten Stücke von Bach nun die
Walzer von Chopin zu hören. Im ersten Ärger wollte ich sofort
wieder zurück ins Arbeitszimmer gehen, um die falsch einsortierte
CD aus dem CD-Player zu nehmen und durch eine andere zu ersetzen,
dann aber blieb ich auf halbem Weg stehen, hörte einige Minuten zu
und ging dann wieder zurück in die Küche, wo ich mich an den großen
Tisch setzte, auf dem die Bestandteile des heutigen Abendessens
lagen. Ich setzte mich, ich begann, etwas aufzuräumen, ich
verteilte die eingekauften Lebensmittel auf dem großen Tisch, und
ich hörte dabei ununterbrochen die Walzer Chopins. Sofort war die
alte Szenerie wieder da: Der Hof und die Gastwirtschaft, meine
Mutter, die letzten Tage auf dem Land …