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ALS WIR uns
kennenlernten, lebte sie zum ersten Mal in ihrem Leben von ihrer
Familie getrennt. Von einem kleinen Ort in der Nähe von Brixen, wo
sie zusammen mit zwei Brüdern aufgewachsen war, war sie zum Studium
nach Rom gezogen. Als familiären Ansprechpartner gab es in der
Ewigen Stadt die Signora Francesca, sonst aber kannte auch Clara in
Rom keinen Menschen. Kaum angekommen, machte sie dann meine
Bekanntschaft, ich gehörte zum Kreis der Signora und hatte daher
etwas Vertrautes, außerdem imponierte ich ihr mit all meinen
Vorhaben, Phantasien und meinem unbedingten Willen, ein guter
Pianist werden zu wollen.
In den ersten
Monaten unserer Liebe war denn auch von kaum etwas anderem die
Rede, ich übte und übte und bereitete mich auf die Aufnahmeprüfung
vor, daneben besuchten wir viele Konzerte, Ausstellungen und andere
Veranstaltungen, meine geradezu unbegrenzte Gier nach Aktion und
Bewegung kannte kein Maß, und fast immer gingen die Vorschläge, was
wir als Nächstes unternehmen und erleben könnten, von mir
aus.
Mein Eifer, meine
Ungeduld, meine Freude über so viel Neues hatten Clara begeistert,
immer wieder hatte sie gesagt, wie schön es sei, diese Begeisterung
mitzuerleben, und wie sie es genieße, wenn der Funke auch auf sie
überspringe. Solche Bemerkungen hatten mich stolz und glücklich
gemacht, denn sie hatten in mir die Illusion genährt, in einer
idealen Symbiose mit Clara zu leben.
Genau das aber war
es ja, was ich suchte und wollte, ich wollte keine lose Verbindung
oder eine flüchtige Freundschaft, nein, ich wollte die absolute
Nähe, das tägliche Zusammensein, den ununterbrochenen, intensiven
Kontakt. Wenn ich morgens aufwachte, war mein erster Gedanke der,
wann ich Clara sehen und was ich mit ihr alles an diesem Tag
unternehmen würde. Die anderen Dinge traten dahinter zurück und
mussten sich unterordnen, was einzig zählte, war die Feier der
Liebe und damit das schöne Leben zu zweit.
Dieses schöne Leben
zu zweit …, ich hatte es als Lebensprogramm, in dem ich aufging und
aus dem ich Tag für Tag Kraft bezog, an die Stelle des früheren,
innigen Lebens mit meinen Eltern gesetzt. Aus den ersten Kinderund
Jugendjahren kannte ich ja ein solches Leben, den ausschließlichen
Aufenthalt im kleinen Kreis, das Sich-Abschotten von der Umgebung,
die ungeteilte Aufmerksamkeit für die geliebten
anderen.
Genau diese
Aufmerksamkeit und den liebevollen Blick nahm ich aber nicht mit
hinüber in den römischen Liebeskokon. Viel zu selten fragte ich
Clara, womit sie sich in ihrem Studium beschäftigte, und auch auf
die anderen Themen, die sie sonst noch erwähnte, ging ich nie
länger ein.
Zwar bemerkte ich
durchaus, dass sie in unseren Gesprächen manchmal wie blockiert
wirkte und einen Anlauf nach dem andern unternahm, um mich zu
erreichen, ich nahm diese Hilflosigkeit aber nicht wirklich ernst,
sondern führte sie auf eine leichte Sprachstörung zurück. Diese
Störung trat bei Clara immer dann ein, wenn sie rasch zwischen
Italienisch und Deutsch wechseln musste, sie sprach beide Sprachen
fließend, kam jedoch mit ihrer gleichzeitigen Präsenz nicht immer
zurecht. Die Folge war ein kurzes Stammeln, eine Suche nach den
richtigen Worten, ein Abbrechen mitten im Satz und ein neuer
Anlauf, der dann meist wieder in sicheren Bahnen
verlief.
Sprach sie dagegen
an einem längeren Stück Italienisch, so blieben diese
Unbeholfenheiten aus, ja ich hatte sogar den Eindruck, dass sie ein
besonders elegantes und müheloses Italienisch sprach, in dem sie
sich besser verständigen konnte als im Deutschen. Manchmal erlebte
ich, wie das Vergnügen an dieser Sprache sie umtrieb, wir saßen in
einem Lokal, und sie unterhielt sich mit den Kellnerinnen, oder wir
streunten durch einen Schallplattenladen, und sie brauchte über
eine Stunde, bis sie mit den Verkäufern über die neusten Titel
gesprochen hatte.
Während dieser
Unterhaltungen stand ich meist etwas im Abseits, ich verstand kaum
ein Wort, aber ich hörte genau, wie lustvoll Clara das Italienische
benutzte. Dieser Umgang entfremdete sie mir für kurze Zeit, ich
hatte das Gefühl, sie verwandelte sich in eine andere Frau, ja
sogar in einen ganz anderen Typ, dieses fremde Wesen kannte ich
nicht, nein, ich wusste nicht, was es bewegte und woher es kam
…
Zwei- oder dreimal
waren wir dann jedoch zusammen in die kleine Stadt ihrer Kindheit
gefahren und hatten ihre Familie besucht, und wider Erwarten hatte
ich mich dort sehr wohlgefühlt. Das Wohlgefühl entstand dadurch,
dass Claras Eltern eine Gastwirtschaft führten und diese
Gastwirtschaft mich an das Leben auf dem Land in der Gastwirtschaft
meiner Großeltern erinnerte.
Ich empfand die
verblüffende Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Orten sogar derart
stark, dass ich mich vom ersten Moment unserer Aufenthalte in die
Arbeitsabläufe in der Wirtschaft einordnete. Ich arbeitete in der
Küche mit, ich half beim Bedienen aus, ich kümmerte mich um die
deutschsprachigen Gäste aus dem Rheinland und unterhielt mich mit
ihnen über ihre Ferienaufenthalte in Südtirol.
Die
Selbstverständlichkeit, mit der ich in dieses Leben hineinfand,
gefiel Claras Eltern, sie sprachen immer wieder lobend und
freundlich von mir, selbst die Brüder, die in Bozen und Innsbruck
studierten, mochten mich, da ich nicht zu den angeblich
querulantigen, sondern zu den
erträglichen Deutschen gehörte.
Seltsamerweise
behagte es Clara jedoch nicht, dass ich mit ihren Eltern und ihren
Geschwistern so leicht zurechtkam. Einmal machte sie einen Witz
darüber und behauptete, ich sei längst ein Sohn der Familie, ich
erschrak, als sie das sagte, und hörte sofort auf, mich nützlich zu
machen. Natürlich wusste auch sie nichts von meiner Vergangenheit,
natürlich nicht, ich hatte ihr nur von der Gastwirtschaft meiner
Großeltern erzählt, vom Landleben dort und von den Gemeinsamkeiten
mit dem Landleben in Südtirol.
Auch das aber hörte
sie gar nicht gern, denn sie verstand sich mit ihren Eltern nicht
so gut wie die Brüder, ja, sie stritt sich beinahe täglich vor
allem mit ihrer Mutter, die das Leben ihrer Tochter in ganz andere
Bahnen lenken wollte.
Da nämlich nicht zu
erwarten war, dass die Brüder die Wirtschaft einmal übernähmen,
sollte das in absehbarer Zukunft Clara tun. Dem stand ihr Studium
in Rom jedoch entgegen, es war ein Studium, das Claras Mutter
überflüssig, ja im Grunde anstößig fand und das sie als einen
offenen Affront gegen den Willen der Eltern
bezeichnete.
Die Folge dieses von
beiden Seiten heftig geführten Streits war, dass die Eltern das
Studium der Brüder finanziell unterstützten, für Claras Studium
jedoch nicht den geringsten Betrag aufbrachten. Um ihr Studium zu
finanzieren, musste sie also nebenher arbeiten, und sie tat das vor
allem als Übersetzerin, Dolmetscherin und
Reiseführerin.
Du bist auch einer von denen, die angeblich mein Bestes wollen, hatte sie einmal
zornig zu mir gesagt, als wir wieder einmal ein paar Tage in
Südtirol verbrachten, und als ich versucht hatte, sie zu beruhigen,
hatte sie behauptet, ihre Eltern seien zu mir so freundlich und
liebenswürdig, weil sie in mir nicht einen Pianisten, sondern einen
Gastwirtssohn sähen. Die wollen, dass wir
beide die Wirtschaft übernehmen, sagte Clara, das wollen sie und nur das! Mein Studium, Dein
Klavierspiel – das ist für die nichts als Unsinn, verstehst
Du?!
So verliefen unsere
Aufenthalte in ihrer Heimat jedes Mal so angespannt und gereizt,
dass wir diese Besuche schließlich nicht mehr fortsetzten. Ab und
zu fuhr Clara für ein paar Tage allein nach Hause, ich blieb
währenddessen in Rom zurück und hütete mich nach ihrer Rückkehr,
sie auf den Heimataufenthalt anzusprechen.
Später habe ich
vermutet, dass sie einen Großteil ihrer starken Energien aus dem
Kampf mit der Mutter und den Eltern bezog, ihnen wollte sie etwas
beweisen, dafür studierte und arbeitete sie. Darüber hinaus aber
blieb kaum noch weitere Kraft übrig, so dass sie in der
Freundschaft mit mir eine eher passive Rolle spielte. Dass sie aber
keineswegs immer so passiv war, bekam ich dann und wann mit, wenn
sie in der Universität einen Vortrag oder ein Referat halten musste
und mich dazu einlud.
Ich betrat einen
Hörsaal und setzte mich in eine der letzten Reihen, ich wartete,
bis Clara dran war, und ich erlebte zu meinem eigenen Staunen eine
fließend und elegant Italienisch sprechende, rhetorisch geradezu
auftrumpfende Studentin, in die wahrscheinlich alle ihre
Kommilitonen heimlich verliebt waren. Man bekam den Blick nicht los
von ihrem schönen, dunklen Gesicht und dem strengen Mund, von ihren
knappen Bewegungen und den deutlichen Akzenten, sie sprach, als
hielte sie eine Bewerbungsrede für höhere Aufgaben, ja ich sah sie
bereits als junge Professorin, die auf Tagungen und Kongressen
glänzte.
Der große Fehler,
den ich machte, war, diesen Bildern und Eindrücken zu wenig Gewicht
zuzumessen. Dazu aber trug durchaus auch Clara bei, erlebte ich
doch immer wieder, wie sie sich nach solchen Auftritten an meine
Seite flüchtete, ja, wie sie ihre Auftritte sogar parodierte und
ironisch mit ihrem Wissen umging. Sie tat, als wollte sie
auswischen oder ungeschehen machen, was ich gesehen hatte, ja, sie
sprach von solchen Präsentationen wie von theatralen Vorstellungen,
in denen sie nichts von dem sagen und zeigen könne, was sie in
unsere Freundschaft einbrachte.
Ach, Johannes, das zählt doch alles nicht!, rief
sie, und wenn ich fragte, warum es nichts zählte, legte sie mir
eine Hand auf die Augen und küsste mich: Das
zählt, das allein zählt, merk Dir das! Natürlich hörte ich
so etwas gern, schließlich war ich süchtig danach, immer wieder
Hymnisches über unsere Liebe zu hören, und schließlich war es mir
recht, dass für Clara die Liebe allein zählte, denn auch mir
bedeutete die Liebe ja neben dem Klavierspiel alles.
Das Klavierspiel und
die Liebe gehörten aber nicht nur für mich, sondern für uns beide
zusammen, Clara sprach immer wieder davon, welche Freude ihr mein
Spiel und meine Auftritte in der Stadt machten. So lebte ich in der
Vorstellung, dass sich letztlich wirklich alles darum drehte, und
nahm Claras Studium ebenso wenig ernst wie das fremde Wesen, das
fließend Italienisch sprach und sich mit anderen Menschen über ganz
andere Themen unterhielt als mit mir.
Ich weiß nicht, was
geschehen wäre, wenn ich wirklich mit meinem Klavierspiel Erfolg
gehabt und ein großer Pianist geworden wäre. Vielleicht wären wir
ja wirklich zusammengeblieben, und vielleicht wäre es uns gelungen,
die Misstöne in unserer Liebe zu beheben. Das aber ist nicht
geschehen, nein, unsere Liebe begann sich vielmehr genau von jenem
Moment an aufzulösen, als mein Klavierprojekt scheiterte und damit
das Schlimmste passierte, was für mich überhaupt hätte passieren
können.