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WALTER FORNEMANNS
Plan für meine weitere Zukunft war eine Zeit lang in unserer
Familie ein beinahe tägliches Gesprächsthema. Vor allem meinem
Vater leuchteten Fornemanns Vorschläge ein, und da er nicht gern
nur rein theoretisch über sie nachdachte, reisten wir zu dritt nach
Süddeutschland und schauten uns dort das Musik-Internat an, das
Fornemann für mich ausgesucht hatte und das er für eines der besten
in Deutschland hielt.
Das Internat war in
einem großen Klosterbezirk mit Klosterkirche, Klostergarten und
barockem Klosterbau untergebracht und wurde in der Tat von
Zisterzienser-Mönchen geleitet. Der zuständige Abt, der auch
gleichzeitig der Direktor des Internats war, empfing uns kurz vor
Mittag in seinen Privaträumen und hielt einen etwa halbstündigen,
erstaunlich nüchternen Vortrag, in dem mehrfach davon die Rede war,
dass an dieser Schule nur die Besten der
Besten willkommen seien, dem einmal Aufgenommenen aber dafür
auch alle Fürsorge und Aufmerksamkeit der Lehrenden
gelte.
Meine Eltern waren
nach diesem Vortrag eigenartig stumm, Mutter sagte beinahe gar
nichts, sondern bat nur darum, sich den sonst unzugänglichen
Kreuzgang einmal anschauen zu dürfen, und Vater informierte sich
derart sachlich über die monatlichen Zahlungen, die
Unterrichtspläne und die jährlichen Ferien, als wollte er nicht
seinen einzigen Sohn in diesem Internat unterbringen, sondern
Material für eine Dokumentation sammeln.
Ich selbst erlebte
diese Stunden in einer starken Anspannung, ja ich war sehr nervös,
zeigte diese Nervosität aber nicht, sondern ging still und wie
abwesend hinter den Eltern her. Ein jüngerer Mönch führte uns in
die Kirche und später auch in den Kreuzgang, man zeigte uns das
Refektorium, die Bibliothek und die Schulräume, eigentlich machte
alles einen beeindruckend soliden und weiträumigen Eindruck, und
doch benahmen wir drei uns etwas seltsam, als wollten wir uns von
dem, was wir sahen, auf keinen Fall allzu sehr mitreißen
lassen.
Vater war es dann,
der dem Abt kurz vor unserer Verabschiedung ganz unerwartet den
Vorschlag machte, mich ein Stück vorspielen zu lassen, anscheinend
wollte er dem Abt noch eine Andeutung darüber entlocken, ob meine
Bewerbung überhaupt Chancen hatte. Der Abt lehnte diesen Vorschlag
sofort ab, nein, darauf könne er nicht eingehen, solche
Vorab-Prüfungen würden schon allein deshalb nicht durchgeführt,
weil sonst mit einem wahren Ansturm von Eltern zu rechnen sei, die
ihr Kind ebenfalls einmal testen lassen wollten.
Erst nach diesen
ablehnenden Worten des Abts schaltete sich meine Mutter in das
Gespräch ein, indem sie dem Abt erklärte, dass sie noch einige
persönliche und eher private Fragen
habe und darum bitte, diese Fragen kurz mit ihm allein besprechen
zu dürfen. Weder Vater noch ich ahnten, was sie meinte, wir sagten
zu ihren dunklen Sätzen aber weiter nichts, sondern warteten noch
eine Weile in dem Klosterhof des Kreuzgangs, bis Mutter ihre
Unterredung mit dem Abt beendet hatte.
Als sie wieder mit
ihm erschien, hatte er seine Einstellung zu uns merklich verändert,
er wirkte interessierter, ja geradezu passioniert, und er erklärte
zu unserem Erstaunen, dass er eine Ausnahme machen werde und ich
vor dem Abschied noch ein von mir ausgewähltes Stück spielen
dürfe.
Seine Worte
erinnerten mich an unsere erste Begegnung mit Walter Fornemann,
damals hatte Mutter es mit viel Geschick bereits einmal geschafft,
dass ich jemandem, der dies eigentlich gar nicht wollte, vorspielen
durfte. Was aber hatte sie jetzt dem Abt erzählt? Mit Ausführungen
über die besonderen Schönheiten der französischen Musik konnte sie
ihn doch nicht überzeugt haben! Was also war es
gewesen?
Ich habe in meinem
Leben immer wieder erlebt, dass Mutter andere Menschen auch in nur
sehr kurzen Gesprächen von etwas überzeugen konnte. Ihre starke
Wirkung war zum einen sicher eine Folge jenes ruhigen und
melodiösen Tons, von dem ich schon erzählt habe. Jeder, der diesen
Ton hörte, wurde zum Zuhören gezwungen, aber er tat es gern, als
folgte er einer Verlockung.
Daneben bestand
Mutters Wirkung wohl aber auch darin, dass sie in ein Gespräch
immer wieder sehr grundsätzliche Sätze einstreute, die einen
aufhorchen, nachdenken und innehalten ließen. Sie benutzte nie zu
viele solcher Sätze, es waren höchstens zwei oder drei, doch der
Zuhörer gewann oft den Eindruck, dass er gefordert oder gefragt
sei.
Mutters stärkste
Waffe aber waren kurze Mitteilungen über ihre Vergangenheit, die
sie jedoch nur als Andeutungen in ein Gespräch einbrachte. Solchen
Andeutungen konnte man sich nicht entziehen, sie hinterließen Rat-
und Hilflosigkeit, und sie führten fast immer dazu, dass der
Gesprächspartner ihr auf irgendeine Weise beistehen und helfen
wollte.
Ich vermute, dass
sie gegenüber dem Abt zu allen drei Hilfsmitteln gegriffen hat.
Statt Kloster und Internat wie eigentlich vorgesehen nun zu
verlassen, begleiteten wir ihn jedenfalls noch einmal zurück in die
langen Fluchten der auffallend stillen Gebäude. Wo befanden sich
eigentlich die dreihundert Schüler, die aus allen Gegenden
Deutschlands hierhergekommen waren, um einmal gute Musiker zu
werden? Nichts war von ihnen zu hören oder zu sehen, draußen, auf
dem weiten Hof vor dem großen Klostergebäude, schritt nur manchmal
ein Mönch oder ein schwarz gekleideter Geistlicher über den
knirschenden Kies und verschwand in irgendeiner
Pforte.
Als wir den
Musiksaal des Internatsgebäudes erreicht hatten und der Abt noch
dabei war, die Tür aufzuschließen, hörte ich meine Mutter flüstern:
Kein Bach! Kein Mozart! Kein Beethoven!
Ich erschrak einen Moment, weil ich dieses Diktat überhaupt nicht
verstand. Warum denn keine Stücke dieser Komponisten? Und welche
denn sonst?
Ich betrat den
Musiksaal als Letzter, ich war etwas durcheinander, als Mutter mich
zurückhielt und erneut flüsterte: Spiel die
große C-Dur-Fantasie! Spiel den Anfang der großen
C-Dur-Fantasie! Ich wusste jetzt zwar sofort, was sie
meinte, begriff jedoch immer noch nicht, warum ich im Musiksaal
dieses Internats ausgerechnet Robert Schumanns große Fantasie in C-Dur spielen sollte. Mutter selbst
hatte mich das Stück nämlich noch nie spielen hören, und Vater
hatte ich im Verdacht, dieses Stück überhaupt nicht zu kennen.
Warum also gerade dieses Stück?
Erst später an
diesem Tag, als wir bereits wieder im Zug saßen und zurück nach
Köln fuhren, wurde das Rätsel gelöst, denn auf mein Nachfragen hin
erklärte mir meine Mutter, dass Walter Fornemann vor wenigen Wochen
behauptet habe, lange Zeit habe er keinen Schüler die große
C-Dur-Fantasie von Robert Schumann so
gut spielen hören wie mich.
Dass Walter
Fornemann so etwas in vollem Ernst
behauptet hatte, galt als ein starkes
Stück, denn Walter Fornemann war niemand, der sein Lob
besonders freigebig verteilte. Mir zum Beispiel hatte er davon kein
Wort gesagt, und ich hatte auch nicht den Eindruck, dass ich
ausgerechnet diese Komposition bereits so gut beherrschte, dass der
Zeitpunkt für ein öffentliches Vorspiel gekommen wäre.
Was ich dagegen
wusste, war, dass ich dieses Stück anders spielte als andere
Stücke, ja dass es im Grunde sogar kein einziges Klavierstück gab,
das ich so spielte wie dieses. Diese Besonderheit hatte damit zu
tun, dass die C-Dur-Fantasie meine
inneren Bilder und damit auch meine Gefühle besonders stark
ansprach und dass ich die Bilder, die ich mit diesen Klängen
verband, mit unserer Familienphantasie
und damit mit unserem Domizil auf der ländlichen Höhe in
Zusammenhang brachte.
Der stürmische,
leidenschaftliche Beginn! Die Schläge der rechten Hand zu den
rollenden Wirbeln der Linken! …- und schon stand ich allein auf der
Höhe des Hügels und schaute in die weite Umgebung, an deren
Horizont blasse Wolken entlangzogen …
Vielleicht war es
dieser geheime Zauber gewesen, der mein Vorspiel so besonders hatte
erscheinen lassen, jedenfalls hatte der Abt mich schon bald
unterbrochen und meinen Eltern im Flüsterton mitgeteilt, dass er
sich eine Ablehnung durch die Aufnahme-Kommission der Lehrenden in
meinem Fall nicht vorstellen könne.
Während unserer
Rückfahrt im Zug sorgte diese Reaktion aber keineswegs für
ungetrübte Freude, vielmehr spürten wir die Schwere der
Entscheidung und waren uns noch bei der Ankunft in der Nacht
unsicher, wie wir handeln sollten.
Später habe ich die
geheimen Signale dieses für mein Leben wichtigen Tages immer als
ein schlechtes Omen verstanden. Dass ich mit der C-Dur-Fantasie Schumanns einen so starken Eindruck
hinterlassen hatte, hatte uns alle etwas betört, gleichzeitig aber
auch verhindert, dass wir dem eigentlichen Hintergrund dieses
kleinen Erfolges auf den Grund gegangen waren.
Die C-Dur-Fantasie war in meinen Augen nämlich damals
eine große Erzählung, die nicht mit anderen Musikstücken und
Erzählungen zu vergleichen war, sondern ausschließlich mit meinem
eigenen Leben zu tun hatte. Ich kannte keine andere Komposition,
die solche Verbindungen herstellte, wie ich überhaupt keinen
anderen Komponisten neben Robert Schumann kannte, der meine eigenen
Bilder und Erlebnisse mit seiner Musik derart berührte und traf.
Seit ich begonnen hatte, Schumann zu spielen, war mir vom ersten
Moment an klar gewesen, dass er mein Lieblingskomponist war, und
nach einer Weile war meine Anhänglichkeit sogar so weit gegangen,
dass ich ernsthaft glaubte, ihm ähnlich zu sehen.
Seltsam war nur,
dass ich bisher niemandem von dieser besonderen Zuneigung erzählt
hatte. Fornemann hatte ich nichts gesagt, weil er auch Schumann
bereits einmal in seine Lästereien mit einbezogen hatte, und meiner
Mutter hatte ich meine Schumann-Sympathien verschwiegen, weil die
Zuneigung noch zu frisch war und ich noch nicht die richtigen Worte
dafür fand.
Ausgerechnet diese
Zurückhaltung war nun aber der Grund dafür gewesen, dass meine
Eltern und wohl auch der Abt mein Vorspiel falsch eingeschätzt
hatten. Sie hatten nicht ahnen oder gar wissen können, dass ich
während dieses Vorspiels mit nichts anderem beschäftigt war als mit
meinen Geschichten sowie den suggestiven Bildern der Vergangenheit,
und dass hinter diesen geheimen Verbindungen nichts anderes steckte
als die tiefe Sehnsucht, weiter mit den Eltern zusammen sein und
leben zu dürfen.
Gerade weil
Schumanns Kompositionen diese Sehnsucht beinahe ununterbrochen
ansprachen, liebte ich sie also, es war jedes Mal, als entrückten
sie mich in lauter Kinderszenen und erzählten von meinen einsamen
Stunden in der Kölner Wohnung, von den Stunden allein mit der
Mutter, von der Ankunft des Vaters am Nachmittag, vom stillen
Spielen am Rhein, aber auch von der morgendlichen Begeisterung auf
dem Land, von den Spaziergängen zwischen mannshohen Maisstauden und
Kornähren und von der Begleitung durch den Vater auf Wegen, die nur
uns gehörten.
Das alles aber
konnten meine Eltern und der Abt damals nicht ahnen. Sie hörten
ausschließlich brillant gespielte Musik, während ich selbst aus
diesem Spiel vor allem meine Sehnsucht nach den Orten meiner
Kindheit heraushörte. Dieser starken Sehnsucht hätte ich vertrauen
und von ihr hätte ich unbedingt sprechen müssen, doch genau das tat
ich nicht. Ich blieb still und wartete darauf, wie meine Eltern
sich entscheiden würden, während meine Eltern von meinem ersten
Schumann-Auftritt derart überrascht und wohl auch verführt waren,
dass sie diesen Auftritt der neuen Umgebung und der angeblich
besonderen Aura des Klostergeländes
zuschrieben.
Niemals habe ich den Jungen zuvor so gut spielen hören,
Niemals habe ich den Jungen zuvor so gut spielen hören, soll
mein Vater nach diesem Auftritt heimlich zu meiner Mutter gesagt
haben, und meine Mutter soll sich beim späteren Durchqueren des
Hofes vor dem Kloster bekreuzigt haben, als hätte der gute Geist
des Ortes dazu beigetragen, dass ich so glänzend gespielt
hatte.
Heute frage ich
mich, ob damals wirklich niemand, selbst nicht der Abt, bemerkte,
dass mein Schumann-Spiel überhaupt nicht in dieses Kloster und sein
Internat passte. Man hätte es hören und sehen müssen, ja man hätte
von der ersten Sekunde meines Spiels an begreifen müssen, dass man
einen Jungen, der derart Schumann spielte, nicht Hunderte von
Kilometern von seinem bisherigen Zuhause entfernt in ein Internat
stecken konnte, in dem Schumanns C-Dur-Fantasie ein beliebiges Stück unter anderen
Übungsstücken war.
An jenem
denkwürdigen Tag aber spürte und empfand das alles wohl keiner. Wir
verließen das Internat zu dritt mit der Gewissheit, dass man mich
aufnehmen würde, und seit diesem Zeitpunkt arbeitete diese Idee
noch heftiger und aufdringlicher als zuvor in unseren Köpfen, ohne
dass wir hätten ahnen können, dass genau diese Idee und dieser Plan
es waren, die mein Leben von Grund auf gefährden und alle
bisherigen Errungenschaften wieder zum Einstürzen bringen würden
…
Vielleicht aber
hätten wir uns ja noch besonnen und anders entschieden, wenn damals
nicht plötzlich auch von weiteren Veränderungen die Rede gewesen
wäre. Wir reisten nun schon eine ganze Weile zwischen Köln und dem
Land hin und her, in Köln zahlten wir Miete, doch auf dem Land
bewohnten wir inzwischen das kleine Einfamilienhaus auf der Höhe,
um dessen Gärten sich meine Mutter mit besonderer Hingabe
kümmerte.
Als sie hörte, dass
in der ländlichen Ortsbücherei, in der sie ihren Beruf als
Bibliothekarin erlernt hatte, die Stelle der Leiterin neu besetzt
werden sollte, spielte sie sofort mit dem Gedanken, sich zu
bewerben. Eine Weile sprach sie von der sich plötzlich eröffnenden
Chance, genau dort wieder zu arbeiten, wo sie als junge Frau
gearbeitet hatte, sogar mit einer Freude, als wäre unsere
endgültige Übersiedlung aufs Land bereits beschlossene
Sache.
Vielleicht waren es
Mutters Schwung und ihre damit verbundene gute Laune, die auch
Vater über seine Arbeit nachdenken ließen. Warum machte er sich
nicht auf dem Land selbständig und eröffnete dort sein eigenes
Büro? Im Grunde hatte er das bereits vor dem Krieg tun wollen, es
sich aber in jungen Jahren wegen mangelnder Berufserfahrung noch
nicht zu tun getraut. Jetzt aber war anscheinend der Zeitpunkt
dafür gekommen, und diesen Zeitpunkt galt es zu
nutzen.
Meine Eltern spürten
das Verlockende all dieser neuen Perspektiven, und die Gespräche
darüber in unserer Kölner Küche führten regelrecht zu einer
Aufbruchsstimmung. Nur ich konnte sie nicht recht genießen, weil
ich unsicher war, ob die Einschulung in ein Internat auch für mich
eine Verbesserung darstellte. Dass ich jedoch auf dem Land kein
Gymnasium besuchen konnte, das stand fest, denn auf dem Land gab es
kein Gymnasium mit einer besonderen Förderung musisch begabter
Schüler.
In den Planungen und
Gedanken der Familie lief also alles immer entschiedener auf den
endgültigen Umzug aufs Land und auf ein neues Berufsleben meiner
Eltern zu. Ich sah meine Mutter bereits vor mir, wie sie jeden
Morgen zu der Bücherei direkt gegenüber der alten Pfarrkirche
aufbrechen würde, wo noch immer ein Jugendfoto von ihr neben der
Eingangstür hing, und ich konnte mir auch meinen Vater gut
vorstellen, wie er am Morgen mit seinen rot-weißen
Vermessungsstäben und einem Theodolit loszog, um für die Bauern in
der Umgebung Grundstücke und Felder zu vermessen.
Während ich mir das
alles jedoch vorstellte, spürte ich, dass ich in den elterlichen
Planungen nicht mehr so vorkam wie früher. Früher hatte man alles
an meinem Befinden und dem Befinden meiner Mutter ausgerichtet,
jetzt aber, wo es uns besser ging, spielte das alles kaum noch eine
Rolle. Aus unserem Leben zu dritt schien jedenfalls auf einmal eher
ein Leben zu zweit zu werden, ja, ich hatte wirklich den Eindruck,
dass meine Eltern dabei waren, sich von mir zu
entfernen.
Natürlich sagte ich
so etwas nie, ich konnte so etwas nicht sagen, denn selbst in
späteren Jahren habe ich es nur sehr selten und dann auch nur gegen
die größten inneren Widerstände fertiggebracht, anderen von meinen
Empfindungen und Gefühlen zu erzählen. Für all diese Empfindungen
und Gefühle hatte ich keine Worte, denn die Worte, die ich so
mühsam gelernt und dann miteinander verbunden hatte, bezogen sich
noch immer auf die direkt zugänglichen, sinnlich wahrnehmbaren
Gegenstände. Alles, was darüber hinausging, gehörte für mich in das
Reich des Ungefähren und war daher schwer zu benennen und erst
recht nicht zu beschreiben.
Trotz der
anhaltenden Sprachlosigkeit in diesen Dingen spürte ich aber
dennoch genau, welche Zukunft sich für mich abzeichnete. Ich sah
mich auf mich selbst gestellt und weitgehend allein, ich sah einen
Jungen, den man in einem Kloster unterbrachte, damit er von dort
aus ohne weitere Ablenkungen den direkten Weg in den pianistischen
Himmel fand. Und ich sah ein Elternpaar, das nun ein vor mir
verborgenes Leben in der Ferne führen würde, mit lauter neuen
Interessen und Beschäftigungen, die ich vielleicht nicht einmal
kennenlernen würde.
Was aber sollte ich
tun? Das Klavierspiel aufzugeben, war unmöglich. Mit dem üblichen
Klavierunterricht weiterzumachen, war halbherzig. Nein, es war
schon richtig, ich gehörte nun auf eine strenge und auf mein
jetziges Können hin zugeschnittene Schule, die genau dieses Können
förderte und mir den zeitraubenden Umgang mit vielen anderen
Lernstoffen ersparte. Was ich an solchen Lernstoffen brauchte, das
verschaffte ich mir durch die Bücher und meine Lektüren, das
sogenannte Grundwissen ergab sich dann schon von allein. In
früheren Jahren hatte ich oft von einer Schule geträumt, in der die
Musik die wichtigste Rolle spielte, warum aber bekam ich es jetzt,
wo man mich genau auf eine solche Schule schicken wollte, mit der
Angst zu tun?
Ach, ich wusste es
doch genau und konnte es doch mit keiner Silbe sagen: Ich wollte
mich um keinen Preis von den Eltern trennen. Bis zum damaligen
Zeitpunkt meines Lebens waren sie mir Freunde, Vertraute,
Spielkameraden, einfach alles gewesen. Ich hatte zwar inzwischen
gelernt, auch mit anderen Jungen auszukommen, mit ihnen zu spielen
und mit ihnen etwas zu unternehmen. All diese Beschäftigungen aber
reichten doch nicht im Geringsten an das Zusammensein mit meinen
Eltern heran. Wie sollte das denn aussehen, ein Tag und eine Nacht
ohne sie? Wie sollte denn überhaupt ein Morgen beginnen ohne die
Stimme meiner Mutter, und wie wäre es abends, wenn ich meinen Vater
nicht begrüßen konnte, wenn er von der Arbeit nach Hause
kam?
Schon allein bei der
bloßen Vorstellung eines Lebens ohne Eltern geriet ich in leise
Panik, warum begriff das denn niemand, und warum behaupteten alle,
mit denen über unser neues Leben gesprochen wurde, der Junge könne
sich wirklich freuen, eine so ideale
Ausbildung zu bekommen. War eine Ausbildung ohne die
Gegenwart meiner Eltern wirklich ideal?
Und was war das Wort ideal für ein
tückisches und böses Wort, wenn man mit ihm derart leicht die
Ängste eines Kindes überdecken konnte?