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MUTTER UND ich – wir
hatten nach unserer mehrwöchigen Trennung nicht sofort wieder
zueinandergefunden. Jeder von uns beiden spürte es, unser früherer
gemeinsamer Rhythmus passte nicht mehr, der eine tat dies und der
andere jenes, mehr als den halben Tag verbrachte jeder für sich
allein.
Wenn ich mich am
frühen Morgen an das Klavier setzte, nahm sie zwar neben mir Platz
und kontrollierte mein Spiel, ich mochte diese Kontrolle aber
eigentlich nicht mehr und noch viel weniger mochte ich, dass sie
sich später selbst an das Klavier setzte und übte, während ich
draußen im Freien einer anderen Beschäftigung
nachging.
Während der letzten
Wochen hatte jeder von uns beiden ohne den anderen auskommen
müssen, darunter hatte die frühere Symbiose gelitten. Wir hätten
versuchen können, die Risse wieder zu kitten, aber inzwischen hatte
jeder bestimmte Eigenheiten und Vorlieben entwickelt, auf die er
nicht wieder verzichten wollte.
Ich selbst bemerkte
zwar an vielen Kleinigkeiten, dass Mutter sich Mühe gab, die alte
Nähe zu mir wiederherzustellen, hielt mich aber ihr gegenüber etwas
zurück, weil ich ihren Brief noch genau im Kopf hatte. Sie hatte
doch geschrieben, dass wir nicht so weitermachen wollten wie
bisher, ja sie hatte doch ausdrücklich den Wunsch geäußert, dass
sich etwas ändern müsse. Wenn sie aber wirklich dieser Meinung war
und es sich nicht nur um Absichtserklärungen handelte, durften wir
beide nicht mehr einen Großteil des Tages in der Nähe des anderen
verbringen.
Dass ich mich ihr
gegenüber zurückhalten müsse und dass ich meinen bisherigen
Tagesablauf nicht wieder ändern dürfe – das alles ging mir die
ganze Zeit durch den Kopf, ich konnte über so etwas aber noch nicht
sprechen, da ich vorerst nur über eine sehr einfache Sprache
verfügte.
Ich antwortete jetzt
zwar meist, wenn ich etwas gefragt wurde und die Frage verstanden
hatte, aber ich antwortete in kurzen, einfachen Hauptsätzen, die
auf die Fragesteller nicht selten komisch wirkten. Alle Bewohner
des Hofes waren zwar gebeten worden, mich nicht auszulachen und
meine ersten sprachlichen Äußerungen nicht gleich wieder im Keim zu
ersticken – die jüngeren hielten sich daran aber nicht, sondern
begannen immer wieder zu lachen und lachten dann hinter
vorgehaltener Hand weiter.
All dieser Spott
machte mir aber nicht mehr viel aus, zum einen deshalb, weil ich an
Spott schon seit den ersten Kinderjahren gewohnt war, zum anderen,
weil ich fest daran glaubte, bald besser und freier sprechen zu
können. Vorerst brauchte ich zum Sprechen noch sehr konkrete
Bilder, ich musste sie vor Augen haben, und ich musste genau
wissen, wie man die Gegenstände auf diesen Bildern benannte. Was
mir jedoch fehlte, waren die Verben und Adverbien, die Bewegung und
Aktionen in meine Sprache gebracht hätten. Deshalb antwortete ich
zum Beispiel auf eine Frage wie Wohin gehst
Du, Johannes? nicht mit einem Ich gehe
zum Fluss, ich gehe schwimmen,
sondern mit einem Da ist der Fluss. Am Fluss
sind die Pappeln, womit ich ausdrücken wollte, dass ich in
der Nähe der Pappeln im Fluss schwimmen wollte.
Um mich richtig zu
verstehen, musste man also meine Sätze miteinander kombinieren und
ein Gespür dafür haben, wie die Lücken in meinen Sätzen zu füllen
waren. Der einzige, der das perfekt beherrschte, war mein Vater,
der meist genau ahnte, was ich sagen wollte. Meine Mutter dagegen,
die unsere Spaziergänge und Streifzüge ja nicht mitbekommen hatte,
stand nicht selten vor einem Rätsel, zumal sie ja selbst noch nicht
sprach und daher nicht weiter nachfragen konnte.
Auch von meinen
anderen Fortschritten hatte sie selbst zunächst wenig, Mutter hatte
keine Freude daran, sich viel draußen im Freien zu bewegen, und sie
unternahm mit mir auch sonst nichts, obwohl ich zum Beispiel damit
gerechnet hatte, dass sie mich einmal zum Baden in dem uns beiden
vertrauten See mitgenommen hätte. Das aber tat sie nicht, sie nahm
mich nicht mit, ging aber, wie ich rasch herausgefunden hatte,
durchaus manchmal allein in das Wäldchen und damit zum
See.
Für mich hatten ihre
einsamen Gänge zur Folge, dass ich selbst den See nicht mehr
aufsuchte, sondern nur noch im Fluss schwimmen ging, manchmal
badeten und schwammen wir wahrscheinlich zur selben Stunde in zwei
getrennten Gewässern, ich verstand das nicht, ich verstand nicht,
warum Mutter nicht daran dachte, ihrem einzigen, geliebten Sohn
einen Waldsee zu zeigen, in dem sie selbst doch offensichtlich gern
badete.
Da ich mich aber
auch nicht aufdrängen wollte, ging ich jetzt meist mit einigen
anderen Kindern baden, wobei es mich immer häufiger zu der steilen
Felspartie hinzog, von der aus die etwas älteren ihre waghalsigen
Sprünge ins Wasser machten. Direkt unterhalb des Felsens war der
Fluss sehr dunkel, schattig und viel ruhiger als an anderen
Abschnitten, in einigem Abstand zu dieser fast kreisrunden, glatten
und in den Felsen hinein ragenden Fläche dagegen strömte er
schnell, so dass sich die jüngeren Kinder, die sich noch nicht auf
den Felsen wagten, dort einige Meter mittreiben
ließen.
Das tat nun auch ich
immer wieder und beobachtete dabei aus einer gewissen Entfernung
die älteren, die nahe an den Felsen heranschwammen, ihn über eine
schmale, kurvenreiche Fährte hinaufkletterten, sich oben zu
mehreren auf dem Felsplateau versammelten und dann einer nach dem
anderen heruntersprangen.
Ich hatte mir schon
oft ausgemalt, wie schön es sein müsste, ebenfalls einmal von dort
oben zu springen, als ich an einem Nachmittag von einem der älteren
Kinder aufgefordert wurde, mit hinaufzugehen. Hast Du etwa Angst?, fragte der Junge und sagte,
nachdem ich den Kopf geschüttelt hatte: Na
dann komm mit hinauf!
Angst war ein Wort, das ich nicht mehr gerne hörte,
denn dieses Wort hatte ich meine halbe Kindheit lang hören müssen.
Der Junge hat ja eine solche Angst …, Seine
Mutter hat noch immer Angst …, Die stehen vielleicht eine Angst aus
…, Haben die etwa schon wieder Angst? – ich hatte alles, was
mit der Angst zu tun hatte, in fast allen denkbaren Formulierungen
geboten bekommen und schließlich selbst nicht mehr verstanden,
warum anscheinend alles, was mit Mutter und mir zu tun hatte, immer
wieder auf diese verdammte Angst hinauslief.
Hier, auf dem Land,
hatte ich keine Angst, die Angst war bereits nach wenigen Tagen
verschwunden und danach hatte es überhaupt keinen Grund mehr
gegeben, sich ängstlich zu fühlen oder vor lauter Angst ein
Versteck aufzusuchen. Nein, ich hatte wahrhaftig keine Angst mehr,
und ich wollte nicht, dass wieder von Angst die Rede war, ich hatte
keine Angst mehr zu sprechen und erst recht hatte ich keine Angst,
von einem Felsen ins tiefe Wasser zu springen.
Weil ich mir in
dieser Sache sehr sicher war, folgte ich dem älteren Bub, den ich
sonst gar nicht kannte, vielleicht wusste er nicht, mit was für
einer ehemals furchtsamen Kreatur er es zu tun hatte, ja vielleicht
wusste er überhaupt nicht, wer ich war – umso besser, dann würde er
mich auch nicht laufend beobachten, wenn ich mit ihm den Felsen
hinaufkletterte.
Wir schwammen
hintereinander zu der dunklen Stelle des Flusses, wir klammerten
uns an dem Felsen fest und zogen uns hoch, bis wir Boden unter den
Füssen hatten, dann kletterten wir den Felsen hinauf, ich
hinterher, mit gesenktem Kopf, mich mit beiden Händen
absichernd.
Oben angekommen,
schaute ich hinunter. Ich erkannte die nahe Gastwirtschaft, die
lang gezogenen Hügel am Horizont, das Wäldchen, die Wiesen mit den
verstreut herumstehenden Gruppen von Kühen – all das war aus dieser
Höhe gut zu überblicken und machte einen friedlichen, ruhigen
Eindruck. Wenn ich jedoch direkt nach unten, in die Tiefe, schaute,
bekam ich es nun doch mit der berüchtigten Angst zu tun. Wie weit
das Wasser entfernt war, wie unglaublich weit! Wie dunkel und
abstoßend es wirkte, als wollte es einen hinabziehen und nicht mehr
freigeben! War es schon einmal vorgekommen, dass einer der Springer
in der Tiefe geblieben war, konnte so etwas geschehen, konnte es
vielleicht passieren, dass man sich in der Tiefe in irgendwelchen
Algenwäldern verfing und dann nicht mehr auftauchte?
Wir standen zu zweit
hoch oben auf dem Plateau, und mein Begleiter schaute mich an:
Du hast doch Angst! Du bist noch nie hier
runtergesprungen, habe ich recht? Ich wusste nicht, was ich
antworten sollte, ich wollte nicht zugeben, noch nie gesprungen zu
sein, denn ich war schließlich genau so groß und wohl auch genau so
kräftig wie mein Gegenüber, der anscheinend schon viele Male den
Sprung gewagt hatte. Gab es einen Satz mit Angst, den ich hätte sagen können? Fast hätte ich
in der Eile Die Angst ist tief gesagt,
dann aber fiel mir gerade noch eine andere Formulierung ein:
Der Fluss ist tief.
Der Junge, der neben
mir stand, nahm diesen hilflosen, ja törichten Satz aber
anscheinend ernst, er beugte sich jedenfalls etwas vor, schaute
herunter und antwortete: Fünf Meter! Der Fluss
soll hier über fünf Meter tief sein, aber nur an dieser Stelle, nur
hier! Er blickte kurz noch einmal zur Seite und schaute mich
fragend an, ob sein Satz bei mir angekommen war und mich
beeindruckt hatte, dann aber wurde es ihm zu viel. Einen Schritt
trat er noch zurück, dann nahm er einen kleinen Anlauf, und ich sah
ihn in die Tiefe fliegen, wo er im Wasser verschwand, bald aber
wieder auftauchte und mir zuwinkte, als wäre der Sprung ein großer
Spaß gewesen.
Nun war also ich
dran, aber ich zögerte noch, verdammt, jetzt hatte ich wirklich
wieder Angst, jetzt hatte mich dieses
lähmende, erstickende Gefühl wieder gepackt, so dass ich mich nicht
rühren konnte, sondern, wie früher als kleines Kind, auf der Stelle
erstarrte. Hätte es hier oben bloß ein Versteck gegeben, in das ich
mich hätte zurückziehen können! Sollte ich einfach wieder
hinabsteigen oder was zum Teufel sollte ich tun?
Ich blickte noch
einmal Hilfe und Rat suchend in die Ferne, als ich meine Mutter
bemerkte, die vom Wäldchen aus näherkam und über die Wiese auf den
Fluss zulief. Sie hatte mich anscheinend oben auf dem Felsen
erkannt, denn sie winkte energisch, um mir zu bedeuten, auf keinen
Fall in den Fluss zu springen. Ihr Laufen, ihre Unruhe, ihr
dramatisches Abwinken – ich schaute mir das nicht gerne an, zumal
es mich an viele Szenen in meiner Kindheit erinnerte, in denen sie
mich immer wieder davon abgebracht hatte, einmal irgendetwas zu
wagen.
Warum mischte sie
sich wieder ein? Warum überließ sie nicht mir die Entscheidung und
brachte mich jetzt wieder wie früher so durcheinander, dass ich am
Ende gar nicht mehr wusste, was ich tun sollte?
Sie rannte auf den
Fluss zu und blieb dann an seinem Ufer, direkt gegenüber dem
Felsen, stehen, immer wieder signalisierte sie etwas mit beiden
Armen, sie wollte mir anscheinend unbedingt verbieten, von der Höhe
zu springen, am Ende war sie vor lauter Erregung beinahe außer
sich.
Ich formte meine
beiden Hände zu einem Trichter und rief ihr von der Höhe aus zu:
Der Fluss ist hier tief, aber sie
schüttelte nur abwehrend den Kopf, als stimmte nicht, was ich
sagte. Der Fluss ist sehr tief, rief
ich weiter, sie aber wollte das nicht hören und geriet derart in
Panik, dass ich kaum noch hinschauen konnte.
Ich spürte genau,
dass es für mich jetzt darauf ankam, bei meinem Vorhaben zu
bleiben: Ich musste springen, ganz unbedingt, die alten Zeiten, in
denen Mutter mir immer wieder gesagt hatte, was ich tun durfte und
was nicht, waren endgültig vorbei.
Deshalb trat ich,
wie ich es bei meinem Vorgänger gesehen hatte, einen kleinen
Schritt zurück, um für den Anlauf auszuholen … – als ich Mutter vom
gegenüberliegenden Ufer her schreien hörte: Johannes, Du springst nicht! Spring nicht! Tu das Deiner
Mutter nicht an!
Es war, als habe sie
die stärkste und letzte Waffe eingesetzt, um mich von meinem
Vorhaben abzubringen. Ich dachte aber in diesem Moment keinen
Augenblick darüber nach, dass ich meine Mutter gerade zum ersten
Mal einige zusammenhängende Sätze hatte rufen hören, nein, ich kam
gar nicht dazu, darüber lange nachzudenken, sondern ich folgte dem
starken inneren Impuls, den ich gerade noch gespürt hatte, lief an
und sprang von der Höhe hinab ins Wasser.
Was für ein
wunderbarer Moment! Das Eintauchen in die Kälte, das Verschwinden
in der Tiefe, die plötzliche Erleichterung darüber, dass nicht das
Geringste passiert war, das Vergnügen an der momentanen Entfernung
von Licht, Luft und Sonne, die sekundenlange Zugehörigkeit zu den
Bewohnern des Wasserreichs, das langsame, verzögerte Auftauchen
und, am schönsten: das stolze Herausstrecken des Kopfes aus dem
Wasser, wie nach einer zweiten Geburt! …
Kaum eine Stunde
später ist mir auf der Toilette der Gastwirtschaft schlecht
geworden. Ich saß draußen an meinem Gartentisch und notierte meine
Tages-Lektion, als ich eine plötzliche Schwäche und einen heftigen
Schwindel spürte. Ich sagte niemandem etwas davon, aber als ich
mich auf der Toilette befand, wusste ich, dass die Angst mich nun
doch noch einmal gepackt hatte. Verdammt! Ich hatte sie längst
besiegt, und nun rächte sie sich und verfolgte mich noch ein
letztes Mal!
Wahrhaftig, ja, es
stimmt, es war ein letztes Mal, denn seit diesem Abend habe ich nie
wieder Angst gehabt, vor nichts und vor niemandem mehr. Später hat
mir diese Angstfreiheit sehr geholfen, denn sie war wohl auch mit
ein Grund dafür, dass meine Verlegenheit oder Scheu gegenüber
anderen Menschen verschwand. So konnte ich zum Beispiel bereits
wenige Monate nach diesem Ereignis die anderen Klavierspieler nicht
verstehen, die mir vor einem gemeinsamen Klaviervorspiel in der
Schule zuflüsterten, dass sie große Angst hätten oder sogar
vor Angst vergingen. Nein, ich verging
nicht vor Angst, und es war sogar noch viel besser: In angespannten
Situationen, in denen es auf viel ankam, war ich besonders ruhig
und konzentriert, als begleiteten mich die Schreie meiner Mutter
gerade in solchen Augenblicken.
Andern mag so etwas
seltsam vorkommen, aber ich hatte wahrhaftig in bestimmten,
wichtigen Augenblicken meines Lebens das sonderbare Gefühl, von
diesen Schreien meiner Mutter mit gesteuert zu werden. Diese
Schreie, die ich nie aus dem Ohr bekommen habe und die mich seither
begleiten, hatten auf mich nämlich nicht die erhoffte abschreckende
Wirkung, sondern sie immunisierten mich vielmehr gegen die Angst,
ja sie sorgten dafür, dass ich mich von der Außenwelt vollkommen
zurückzog und mich ganz auf mich selbst konzentrierte.
Man muss es sich in
etwa so vorstellen, dass mir in genau dem Moment, in dem meine
Mutter zu schreien begann, eine Art Panzer wuchs. Dieser Panzer
wehrte alle Attacken und Zugriffe auf meinen Körper ab und sorgte
dafür, dass dieser Körper nur noch seinen eigenen, von außen nicht
mehr zu beeinflussenden Regungen folgte. Vielleicht kennen
Hochleistungssportler, die ja ebenfalls in bestimmten Momenten aufs
Äußerste konzentriert sein und sich von niemandem ablenken lassen
dürfen, dieses Gefühl, ich weiß es nicht, ich weiß aber, dass mich
später vor vielen Auftritten am Klavier und später am Flügel eine
Art Engelsruhe befiel, die mir jede Art von Aufregung oder sogar
Angst ersparte.
Vielleicht waren
diese Ruhe und diese Trance, die ich auch nach meinem Sprung noch
eine Zeit lang empfand, letztlich der Grund dafür, dass ich auf die
ersten Worte meiner Mutter überhaupt nicht reagierte. Ich ging ans
Ufer und trocknete mich ab, und ich gesellte mich nicht zu den
vielen anderen Menschen, die von den Schreien meiner Mutter
angelockt worden waren und sich nun um sie kümmerten.
Nachdem ich
aufgetaucht war, war sie erst langsam wieder still geworden. Sie
war vor Aufregung und Erschöpfung auf den Boden gesunken und hatte
kurze Zeit später wegen ihres heftigen Zitterns von den anderen
eine Decke umgelegt bekommen. Man hatte nach meinem Vater
geschickt, der noch auf dem Feld gearbeitet hatte, schon bald aber
zur Stelle gewesen war. Mutter war in die Gastwirtschaft gebracht
und ins Bett gelegt worden, man hatte einen Arzt kommen lassen.
Angeblich war sie bald eingeschlafen und hatte sehr fest
geschlafen, so dass der Arzt unverrichteter Dinge wieder hatte
abziehen müssen. Vater hatte die ganze Zeit an ihrem Bett
verbracht, und als sie tief in der Nacht wieder aufgewacht war und
eine Zeit lang mit ihm gesprochen hatte, kam er zu mir in mein
Zimmer, setzte sich an mein Bett und sagte: Johannes, es ist alles in Ordnung! Deine liebe Mutter
spricht wieder mit uns …
Die Walzer von
Chopin liefen die ganze Zeit, als ich mich an all diese Szenen
erinnerte. Ich räumte meine Küche ein wenig auf und ordnete die
Lebensmittel, die ich gekauft hatte, immer wieder neu auf dem
großen Küchentisch. Als ich sie in Ruhe überschaute, konnte ich
erkennen, dass sie wohl für eine ganze Woche gereicht hätten. Warum
hatte ich bloß so viel eingekauft und warum hatte ich mich nicht an
die Idee eines schlichten Abendessens gehalten?
Das große
Stillleben, das ich schließlich komponiert hatte, war derart schön,
dass ich es Antonia und Marietta nicht vorenthalten wollte. Ich
legte eine CD mit Stücken von Domenico Scarlatti auf und klingelte
bei meiner Nachbarin, obwohl es noch früh am Nachmittag war.
Antonia Caterino erschien in einem strengen, seidenen Morgenmantel
in der Tür und vermutete, dass ich mich in der Zeit vertan habe.
Ich sagte ihr, dass sie sich zusammen mit Marietta unbedingt
all die schönen Sachen anschauen müsse,
die ich am Vormittag gekauft habe. Sie lachte, sie verstand nicht
genau, was ich meinte, vielleicht war ich auch etwas zu
durcheinander, um mich klar auszudrücken. Jedenfalls sagte Sie:
Kommen Sie doch erst einmal herein!,
und dann betrat ich die Wohnung der Familie Caterino und hörte
sofort, dass in einem der hinteren Zimmer der erste Satz des
Italienischen Konzerts von Johann
Sebastian Bach gespielt wurde.
Die Wohnung war viel
größer und eleganter als meine, sie hatte vier Zimmer, von denen
aus man auf den weiten Platz vor dem Wohnhaus schauen konnte, und
dazu noch mehrere kleinere, die nach hinten, zum Innenhof hin,
gingen. Antonia führte mich durch die vorderen, mit viel Geschmack
möblierten, während sie die hinteren nur kurz erwähnte, als habe
sich im einen Teil der Wohnung der schönere, im anderen aber der
finstere Teil des Lebens abgespielt. Seltsamerweise brachte ich den
hinteren Teil denn auch sofort mit ihrem inzwischen abwesenden Mann
in Verbindung, ja die Vorstellung, dass dieser Mann in genau diesen
Zimmern zum Innenhof hin gehaust habe, setzte sich wie eine dumme
Fixierung sofort fest.
Im Grunde
interessierte mich das alles aber nicht besonders, mich
interessierte vielmehr das Klavierspiel, das ich die ganze Zeit
hörte, nichts reizte mich jetzt so sehr, wie in die Nähe eines
halbwegs gestimmten Klaviers zu geraten, mein Gott, mein Verhalten
hatte sogar beinahe etwas von dem eines Süchtigen. Antonia bemerkte
davon nichts, sie konnte ja nicht ahnen, was ich alles mit dem
Klavierspiel verband, ich hörte sie fragen, ob wir nicht bereits
einen Aperitif trinken wollten, und ich nickte sofort und sagte,
dass ich gern einen Campari trinken und dabei am liebsten Marietta
etwas beim Üben zuhören würde.
Antonia freute mein
Vorschlag, sie führte mich auch sofort in das Zimmer ihrer Tochter,
nehmen Sie doch Platz, flüsterte sie
leise, und dann sah ich, dass ich direkt neben dem Klavier auf
einem Sessel Platz nehmen sollte, auf dem anscheinend gerade noch
Antonia selbst gesessen hatte, um das Spiel ihrer Tochter Marietta
zu verfolgen und vielleicht hier und da zu
korrigieren.
Ich setzte mich auf
den Sessel und bemerkte sofort, dass mir in diesem Moment seltsam
heiß wurde. In meinem ganzen Leben hatte ich keine Klavierschüler
gehabt und niemanden im Klavierspiel unterrichtet, wohl aber war
ich selbst ein Leben lang von den verschiedensten
Klavierlehrerinnen und Klavierlehrern und am Ende sogar von einigen
großen Pianisten unterrichtet worden. Ich kannte mich also mit
diesem Sesselplatz aus, ich wusste, wie und wann ein guter Lehrer
von diesem Sessel aus am besten in die Übungen seiner Schüler
eingreift, ich wusste es ganz genau, und es reizte mich schon in
dem Augenblick, in dem ich Platz nahm, genau das zu
tun.
Ich schlug jedoch
ein Bein übers andere und lehnte mich zurück, Marietta spielte
immerhin so konzentriert, dass sie auf mein Erscheinen nichts gab,
sie spielte weiter und weiter, aber ich sah auf den ersten Blick,
dass sie an vielen Stellen einen völlig falschen, ja geradezu
abwegigen Fingersatz benutzte. Wer hatte ihr diesen Fingersatz
beigebracht, wer war der Idiot? Ein Kenner oder ein halbwegs
erfahrener Klavierspieler konnte es nicht sein, dafür war alles zu
chaotisch und unüberlegt.
Es reizte mich immer
mehr, sofort einzugreifen, aber ich riss mich zusammen, zunächst
wollte ich abwarten, bis der Campari serviert wurde. Ich versuchte,
nicht auf die Tasten zu schauen, und blickte mich stattdessen etwas
im Zimmer um, das in der Tat noch ein richtiges Kinderzimmer war,
mit einigen Bildern einer mir unbekannten britischen Pop-Band an
der Wand. Wie brachte so jemand wie Marietta das zusammen, die
Stücke dieser Band, die sie doch wahrscheinlich sehr mochte, und
den ersten Satz des Italienischen
Konzerts von Johann Sebastian Bach?
Ich hatte nicht den
Eindruck, dass sie gegen ihren Willen übte, nein, es sah nicht so
aus, sie hatte anscheinend durchaus Freude daran, diesen Satz zu
spielen, und sie spielte ja auch gar nicht schlecht, wenn auch noch
viel zu gehemmt.
Als Antonia mit zwei
Gläsern Campari und einem Glas Orangensaft erschien, hörte Marietta
sofort auf zu spielen und drehte sich nach mir um. Sie war nicht
erstaunt, mich zu sehen, nein, sie lächelte, es kam mir beinahe so
vor, als freute sie sich über mein Erscheinen. Ich nickte, ich
klatschte betont theatralisch, Marietta lachte jetzt sogar so, als
wäre der freundliche, gerade aus dem Nichts erschienene Herr sehr
willkommen.
Wir stießen mit
unseren Gläsern an, wir nahmen einen Schluck, dann aber erklärte
Antonia ihrer Tochter, dass auch ich einmal Klavier gespielt habe,
das stimmt doch?, das habe ich doch richtig in
Erinnerung?, fragte sie. Sie hätte so etwas nicht fragen,
sie hätte meine sowieso bereits bestehende starke Anziehung durch
das einen Meter vor mir stehende Klavier nicht verstärken sollen,
ich antwortete jedenfalls nicht, sondern nickte nur und fragte
Marietta dann sofort, wer für den Fingersatz verantwortlich sei,
den sie eben benutzt habe.
Marietta begriff
nicht, was?, was wollte ich wissen?, es ging um die Fingersätze?,
waren Fingersätze denn wichtig? Sie fragte so naiv und so drollig,
dass Antonia lachen musste, dann aber lachten die beiden zusammen,
als hätten sie sich nie einen Gedanken über Fingersätze gemacht und
als hätte ich gerade eine besonders unsinnige Frage
gestellt.
Das Lachen der
beiden reizte mich ein wenig und forderte mich gleichzeitig heraus,
dochdoch, sagte ich, Fingersätze sind sehr wichtig, es gibt Menschen auf der
Welt, die machen sich überhaupt nur darüber Gedanken!
Marietta staunte: Wirklich? Und ich machte gerade keinen Spaß,
sondern es gab wirklich Menschen, die sich nur über Fingersätze
Gedanken machten? Aber nein, das war ja unmöglich, aber nein, ich
machte ja nur einen Scherz!
Ich saß nicht kaum
einen Meter vor einem halbwegs gestimmten Klavier, um mir nach
beinahe zwei Jahrzehnten eines pianistischen Studiums sagen zu
lassen, dass ich bloß einen Scherz machte, wenn ich über
Fingersätze sprach. Marietta, darf ich Dir mal
etwas zeigen?, fragte ich leise und war regelrecht
erleichtert, als sie sofort ihren Platz räumte. Wir tauschten die
Plätze, ich saß jetzt an einem römischen, halbwegs gestimmten
Klavier, es war zu seltsam, wie war ich eigentlich hierher
geraten?, ganz offensichtlich war ich doch einzig und allein diesen
Klavierklängen gefolgt und hatte mir auf raffinierte Art Zugang zu
dieser Wohnung und ihren Bewohnern verschafft, die mich im
Augenblick vor allem deshalb interessierten, weil sie ein
spielbares Klavier besaßen.
Schau mal, Marietta, hier diese Stelle …, sagte
ich, an dieser Stelle bleibst Du immer wieder
hängen, weil Du einen falschen Fingersatz verwendest. Ich
spielte die Passage betont langsam, Note für Note, damit man genau
beobachten konnte, welche Finger ich benutzte. Als ich damit durch
war, spielte ich sie noch zwei-, dreimal, und jedes Mal spielte ich
ein wenig schneller. Und schau mal, Marietta,
genau dieselben Probleme hast Du wegen eines falschen Fingersatzes
an dieser Stelle …
Ich geriet sofort in
Fahrt und ging eine Stelle nach der andern an, viel hätte nicht
gefehlt, und ich hätte meine Korrekturen sofort in die Noten
eingetragen, in die eine unbeholfene Hand keine Fingersätze, wohl
aber einige Angaben über die jeweils notwendige Lautstärke
eingetragen hatte. Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf,
anscheinend hatte Marietta wirklich einen miserablen Lehrer, der
sich statt um die durchaus wichtigen Fingersätze um Angaben über
die Lautstärke kümmerte, die jeder einigermaßen musikalische
Spieler gar nicht benötigte, weil sie sich von selbst
verstanden.
Vielleicht hatten
Marietta und Antonia erwartet, dass ich mir nur zwei oder drei
kurze Passagen vornehmen wollte, da hatten sie sich verrechnet,
denn natürlich genoss ich es sehr, endlich wieder einmal
Klaviertasten zu berühren. Als ich gar nicht mehr aufhörte, stand
Marietta auf und verließ das Zimmer, ich unterbrach mein Spiel und
fragte Antonia, ob ich das Kind etwa langweile, na ja, antwortete sie,
vielleicht wäre es besser gewesen, Marietta zunächst einmal für ihr
Spiel zu loben.
Ich nahm einen
Schluck Campari und antwortete: Mein Gott, Sie
haben völlig recht, ich bin ein Idiot, ich hätte Marietta zunächst
loben müssen, anstatt gleich über die falschen Fingersätze zu
sprechen. Aber einmal unter uns: Die Fingersätze sind wirklich das
Letzte, und die Angaben für die Lautstärken hier in den Noten sind
geradezu kindisch. Ich an Ihrer Stelle würde dem Kind einen
besseren Klavierlehrer besorgen.
Antonia lächelte
wieder, aber ich bemerkte, dass sie leicht verkrampft lächelte. Und
dann sagte sie: Ichbin ihr Klavierlehrer, ich
bin es selbst!
Ich drehte mich auf
dem runden Klavierhocker ganz zu ihr herum und ließ meine Arme an
beiden Seiten des Körpers heruntersinken. Entschuldigen Sie, Signora, ich wollte Sie nicht kränken,
und ich kann zu meiner Ehrenrettung nur anführen, dass ich
keineswegs ein paar Jahre Klavierunterricht erhielt, sondern ein
paar Jahrzehnte, so dass ich, mit anderen Worten, ein ausgebildeter
Pianist bin. Zum Teil wurde ich sogar hier in Rom ausgebildet, kaum
einige Kilometer von hier, im römischen Conservatorio. Ich rede
also nicht einfach daher und mokiere mich über Fingersätze oder
Lautstärken-Angaben, sondern ich spreche als ein Mann vom Fach.
Dennoch, Sie haben recht, ich hätte das nicht tun sollen, ich hätte
feinfühliger und freundlicher vorgehen müssen, es tut mir
leid.
Ich stand auf, um
mich vom Klavier zu entfernen, als Antonia eine entschiedene
Bewegung machte, die mich stehen bleiben ließ. Sie antwortete, dass
sie natürlich keine Ahnung von alldem gehabt habe und dass sie
meine Reaktion unter diesen Umständen verstehe. Jetzt, wo sie über
mein Vorleben Bescheid wisse, erinnere sie sich sogar daran, dass
sie einmal vermutet habe, dass ich gut Klavier spielen könne. Ich
habe nämlich in ihren Augen wie ein Pianist ausgesehen, ja, genau,
ich habe auf sie den Eindruck eines Pianisten gemacht.
Ich konnte mir nicht
richtig ausmalen, welche Vorstellung Antonia Caterino von einem
Pianisten hatte, vor vielen Jahrzehnten hatte man sich darunter
doch eher ephebische Jünglinge mit einer dekadenten Liszt-Mähne und
damit einen Typus vorgestellt, mit dem mein Äußeres nicht das
Geringste gemein hatte. Ich war groß, kräftig und in extremen
Sonnenperioden zudem noch blond – man hätte mich vielleicht auch
für einen norwegischen Speerwerfer oder einen finnischen
Filmregisseur halten können, wie man aber auf den Gedanken kam, in
mir einen Pianisten zu vermuten, war mir völlig
unklar.
Egal, ein wenig
fühlte ich mich sogar geschmeichelt, anscheinend hatte Antonia sich
über mich und mein Vorleben ein paar Gedanken gemacht, so etwas
gefiel mir schon allein deshalb, weil sich viele Jahre meines
Lebens kein Mensch irgendwelche Gedanken über mich und mein Leben
gemacht hatte.
Was meinen Sie, wie kann ich meinen Fehler
wiedergutmachen?, fragte ich Antonia. Sie legte einen Finger
auf ihren Mund, stand auf, verließ das Zimmer und kam nach kaum
einer Minute wieder mit ihrer Tochter zurück. Sie sagte, dass sie
Marietta erzählt habe, dass ich einmal Pianist gewesen sei, und
dann sagte sie weiter, dass mir Mariettas Spiel gut gefallen habe.
Aber ja, setzte ich sofort nach,
es hat mir sehr gefallen, wahrhaftig, Du hast
mir damit eine große Freude gemacht, Marietta!
Anders als ich
befürchtet hatte, wirkte Marietta nicht beleidigt oder sogar
gekränkt, sondern erleichtert, ja sogar zufrieden. Sehr gut, sie
war also psychisch durchaus stabil und hatte auch noch nicht die
üblichen Marotten pubertierender Mädchen, die es schaffen, jede
kleine und noch so unschuldige Geste eines Gegenübers als eine
Beleidigung auszulegen.
Danke, sagte Marietta also, und dann bat sie mich,
ihr und ihrer Mutter nun den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Johann Sebastian Bach
am Stück vorzuspielen. Am Stück?! Um Himmels willen! Das hatte ich nun
wiederum gar nicht gewollt, ich hatte das Klavier zwar berühren,
aber keineswegs am Stück auf ihm
spielen wollen, schließlich war ich auf so etwas nicht vorbereitet,
nein, wirklich nicht.
Ich spürte aber
sofort, dass es auch nicht gut angekommen wäre, sich jetzt noch
lange zu zieren, ich hatte nun einmal von meinem früheren
Pianisten-Dasein erzählt, da konnte ich jetzt nicht so tun, als
koste es mich endlose Überwindung, ein Stück von Johann Sebastian
Bach zu spielen. Ich habe das Stück verdammt
lange nicht mehr gespielt, sagte ich und wusste noch in
demselben Moment, dass all meine Entschuldigungen und Ausreden
nicht halfen. Ich sollte spielen – und zwar sofort!
Nun gut, was stellte
ich mich denn so an, es handelte sich schließlich nicht um ein
Konzert, sondern um eine private Vorstellung, da durften mir
durchaus ein paar Fehler unterlaufen, darauf kam es jetzt gar nicht
an, es kam vielmehr darauf an, Marietta und ihrer Mutter eine
Freude zu machen. Als Einstimmung auf unser Abendessen! Oder
vielleicht sogar als Beginn einer Freundschaft!
Ich setzte mich, ich
drehte den Klavierhocker etwas höher, ich legte beide Hände, so wie
ich es gewohnt war, kurz auf die Tasten, ohne sie anzuschlagen.
Dann konzentrierte ich mich und begann zu spielen.
Es hörte sich gar
nicht so schlecht an, ich spielte nur etwas zu schnell. Durch
irgendwelche trüben Erinnerungen hatte ich eine sehr rasche Version
des Stückes im Ohr, ja, wahrhaftig, ich spielte es viel rascher als
etwa Alfred Cortot, vor allem aber spielte ich es lauter, ich
spielte es wirklich verdammt laut. Aber ich spielte nicht schlecht,
nein, keineswegs, dafür, dass ich dieses Stück seit Jahrzehnten
nicht gespielt hatte, spielte ich es sogar ganz ausgezeichnet! Was
für eine Freude es machte, diese Finger wieder genau dafür
einzusetzen, wofür sie eigentlich seit meiner Kindheit bestimmt
waren! Nicht für das Schreiben mit einem Stift, nicht für das
Tippen auf einer Computer-Tastatur waren sie nämlich bestimmt,
nein, Gott hatte mir diese kräftigen, schönen Finger geschenkt,
damit ich mit ihnen Klavier spielte!
Meine Finger … –
später hat mir Antonia auf meine Nachfrage hin einmal erklärt, dass
sie mich nach einem angeblich zufälligen Blick auf meine Finger für
einen Pianisten gehalten habe. Die Finger hatten mich also dazu
gemacht, nicht mein sonstiges Äußeres! Ich wäre nie darauf
gekommen, dass meine Finger das entscheidende Kriterium für diese
Vermutung gewesen waren, so ein spezifisches Merkmal fiel wohl vor
allem einer genau beobachtenden Frau und bestimmt nicht häufig
einem Mann auf.
Jetzt, während
meines Spiels, aber verstand ich nicht mehr, wie ich nicht selbst
darauf gekommen war. Diese Finger waren doch wirklich auffällig,
sie waren auch in früheren Jahrzehnten manchen Menschen sofort
aufgefallen, zum Beispiel hier in Rom einer jungen Frau hinter der
Theke einer kleinen Bar im Norden Roms, die mich bei meinem zweiten
Besuch dieser Bar gefragt hatte, ob ich etwa ein Pianist sei. Diese
Frage hatte damals …, nein, ich erzähle diese Geschichte hier jetzt
nicht weiter, nein, auf keinen Fall, ich erzähle vielmehr jetzt,
was in der Wohnung von Antonia und Marietta Caterino geschah, als
ich den ersten Satz von Bachs Italienischem
Konzert spielte …
Nach drei oder vier
Minuten bemerkte ich nämlich plötzlich, dass Antonia ans Fenster
ging und es öffnete. Sie strich die weißen Gardinen beiseite und
dann ging sie auf Zehenspitzen anscheinend ins Nebenzimmer, um auch
dort die Fenster zu öffnen. Da wir uns im ersten Stock des
Wohnhauses befanden, musste mein Spiel nun auch draußen, auf dem
weiten Platz, zu hören sein, sie hätte mich
fragen müssen, ob mir das recht ist, dachte ich und
überlegte, ob ich mein Spiel abbrechen sollte, eine solche Aktion
kam mir aber zu eigensinnig und divenhaft vor, nein, ich war nie
ein zickiger Jungpianist im Stile einiger zickiger Altmeister
gewesen, das zickige Klavierspiel Arturo Benedetti-Michelangelis
zum Beispiel hatte mir nie etwas bedeutet, obwohl es damals, als
ich am römischen Conservatorio studiert hatte, als das Nonplusultra
des italienischen Virtuosentums gegolten hatte.
Also weiter und, wie
immer, nicht auf die Umgebung geachtet! Und so spielte ich den
ersten Satz des Italienischen Konzerts
von Johann Sebastian Bach zu Ende und empfand dieses Spiel sogar
als ein großes, wiedergefundenes Glück, warum hatte ich mich bloß
so lange dagegen gesperrt, wieder einmal Klavier zu spielen, warum
hatte ich mich so lange von der schwersten Krise meines Lebens, die
unter anderem dazu geführt hatte, dass ich das Klavierspiel
abgebrochen hatte, entmutigen lassen?
Auch von dieser
Krise erzähle ich an dieser Stelle meiner Lebenserzählung noch
nichts, denn diese Passage meiner Erzählung hier ist ja eine rundum
glückliche, ich spielte wieder Klavier und indem ich spielte,
lockte ich die Bilder des kleinen Knaben wieder an, der damals …,
damals zum Schluss des langen Landaufenthalts auf dem Klavier in
der Gaststube der großväterlichen Gastwirtschaft einmal Bachs
Italienisches Konzert gespielt
hatte.
Das Kind sitzt an
einem halbwegs gestimmten Instrument, das Kind beherrscht dieses
Stück, seit Kurzem beherrscht es auch das Sprechen einigermaßen,
vor allem aber hat es jetzt eine Mutter, die wieder spricht,
mühelos, ja sogar so gewandt, dass das Kind sie überaus gern
sprechen und vorlesen hört, keine Stimme hört das Kind lieber als
die Stimme seiner Mutter …, und während in der Gaststube die halbe
Belegschaft der Wirtschaft und beinahe all ihre Bewohner versammelt
sind, gehen in der Küche drei junge Köchinnen der Vorbereitung des
abendlichen Abschiedsessens nach …, auf dem langen Küchentisch
liegen die großen, glänzenden Fleischstücke und die frisch
gefangenen Forellen, und daneben liegen Berge von Pfifferlingen,
Steinpilzen, Hallimasch und Morcheln, die Vater und ich im nahen
Wäldchen gefunden haben …
Ich spiele weiter
und weiter, und kurz vor dem Ende gehen die alten Bilder vor lauter
Vorfreude über in die Bilder meines eigenen Tisches in der Wohnung
gleich nebenan, auch dort ist ja der Tisch festlich und üppig
gedeckt, es gibt zwar keine Pfifferlinge und keine Morcheln, wohl
aber weiße Trüffeln. Die letzten Töne, der Schlussakkord! … – und
Antonia und Marietta beginnen zu klatschen, es ist ein Klatschen,
das sofort überspringt, hinunter auf den weiten Platz vor dem
Wohnhaus, auf dem sich anscheinend Gruppen von Zuhörern versammelt
haben, um das Fest dieses glücklichen Moments mit uns zu begehen
…