22
VON DEN ersten
beiden Schritten meiner Sprachwerdung habe ich nun bereits erzählt,
es fehlt aber noch die Erzählung vom dritten Schritt, von meinem
ersten Sprechen im Kreise der anderen. Man könnte beinahe vermuten,
dass sich dieser Schritt noch an demselben Abend ereignete. Und so
war es denn auch. Deshalb setze ich dort wieder ein, wo ich meine
Erzählung unterbrochen habe, ich befinde mich in dem Fremdenzimmer,
in dem Vater und ich bisher übernachtet haben.
In diesem Zimmer
wartete ich nun auf Mutter, denn ich wusste ja, dass sie bald vom
See kommen würde. Durch das Fenster konnte ich den Weg, der vom
Wäldchen zur Gastwirtschaft führte, leicht überblicken, deshalb
hielt ich nach ihr Ausschau, ungeduldig darauf, dass sie mich
endlich begrüßen würde.
Als ich sie aus dem
Wäldchen heraustreten und auf den Hof zu eilen sah, beugte ich mich
durch das geöffnete Fenster etwas nach vorn, um in das Licht der
Laternen zu geraten, die das Gelände rund um den Gasthof bereits
erleuchteten. Da bemerkte ich, dass Mutter mich aus der Ferne
erkannte, jedenfalls blieb sie einen Augenblick stehen und begann
zu winken, ich winkte heftig zurück, endlich hatten wir uns beide
wieder im Blick.
Es umgab sie jedoch
etwas Fremdes, ja, das spürte ich sehr genau, und dieses Fremde
wirkte wie eine leichte, irritierende Störung unserer früheren
Zweisamkeit. Normalerweise wäre ich die Treppe so schnell wie ich
konnte heruntergesprungen, um sie zu umarmen, jetzt aber ging ich
die Treppe Schritt für Schritt hinab, als müsste ich mir erst
überlegen, wie ich mich ihr nähern sollte.
Als ich ihr unten in
der inzwischen erleuchteten Ga-ststube begegnete, hatte ich dazu
aber keinen Moment Zeit, denn Mutter packte mich fest, ja sie riss
mich beinahe an sich und drehte sich dann mit mir auf der Stelle,
so dass meine Beine hoch durch die Luft flogen. Was machte sie
denn? Sie war vor lauter Freude ja außer sich!
Sie schaute mich
aber nicht richtig an, sondern hielt mich eine Zeit lang
umschlungen, als genügte es ihr, meinen Leib wieder zu spüren und
an sich zu pressen. Erst nach Minuten setzte sie mich wieder ab und
ließ etwas locker, hielt jedoch weiter meine beiden Hände, als
wollte sie nun mit mir tanzen. Bevor das aber geschehen konnte,
blickte sie mir endlich auch ins Gesicht, und ich bemerkte, dass
sie das Fremde jetzt ebenfalls spürte, ja, sie zuckte ein wenig
zusammen und verlagerte ihr Gewicht wie nach einem kurzen Stolpern
von einem Fuß auf den andern.
Dann aber ließ sie
meine Hände los, und wir standen uns frei gegenüber. Ihr Mund stand
etwas offen, ihre Lippen zitterten ein wenig, was mich jedoch am
meisten hinschauen ließ und meine Blicke anzog, das waren ihre
Haare, die durch das Baden im See vollkommen durcheinandergeraten
waren und ihrem Gesicht etwas Wildes und Schönes
verliehen.
So wild und schön
hatte ich sie noch nie gesehen! Das offene Haar wirkte viel
fülliger und üppiger als das gekämmte, geordnete, und das schmale
Gesicht sah in diesem dunklen Wirrwarr noch schmaler als gewöhnlich
aus, als bildete es eine strenge Maske, mit deutlich markierten
Zügen. Die stark hervortretenden Backenknochen! Die sanft
abfallende Stirn mit der alten Wunde über dem rechten
Auge!
Wenn ich mich heute
an diesen Anblick erinnere, so glaube ich, etwas beinahe Antikes,
aber auch Rohes gesehen zu haben. Alles an diesem Kopf war Strenge,
aber hinter dieser Strenge spürte ich etwas von Atemlosigkeit oder
sogar von Gehetztheit, als wäre sie in Köln ununterbrochen
unterwegs gewesen. Ihre Haut war von diesem Unterwegssein gebräunt,
so dass der Schmuck, den sie nur an der rechten Hand trug,
besonders hell aufleuchtete. Der Armreif, den mein Großvater ihr
einmal geschenkt hatte! Der Hochzeitsring, den sie einmal verloren
hatte und der dann doch im Keller unseres Kölner Wohnhauses wieder
aufgetaucht war!
Ich staunte sie an,
aber auch sie staunte, denn in vielen Zügen glich mein Äußeres dem
ihren so, als wären wir nicht einige Zeit getrennt, sondern
vielmehr ganz im Gegenteil noch enger als sonst zusammen gewesen.
Auch ich war von den vielen Aufenthalten im Freien gebräunt, und
auch meine Haare waren ganz anders als sonst, viel länger und
außerdem vollkommen blond. Hinzu kam, dass die Spaziergänge und
Wanderungen zusammen mit dem fast täglichen Schwimmen meinen Körper
gekräftigt hatten, so dass an diesem Abend vor ihr in der Gaststube
ein körperlich geschulter, ja beinahe athletischer Junge
stand.
Später hat Mutter
einmal behauptet, ich hätte den Eindruck einer Skulptur gemacht,
die man gerade aus einem großen Steinblock herausgemeißelt habe, so
glatt und kantig seien meine Umrisse gewesen. Meine Nase sei ihr
viel spitzer und länger vorgekommen als zuvor, außerdem aber hätte
ich hungrig ausgesehen, mein Gott!, wie mager
ist er geworden!, habe sie mehrmals gedacht, wobei sie sich
diese Magerkeit aber nicht habe erklären können, da jeder Gast von
Hof und Wirtschaft im Normalfall wegen des guten und reichlichen
Essens meist zugelegt habe.
Zum Glück kam in
diesem Augenblick, als wir uns noch musterten, mein Vater hinzu,
Vater ging direkt zu mir und legte mir den Arm um meinen Hals, als
wollte er mich wie ein Schaustück präsentieren. Na, sieht er nicht gut aus?, fragte er, und ich
sehe Mutter noch lächeln, als lächelte sie nicht über mich, sondern
über den Stolz meines Vaters, der so tat, als habe er mich die
ganze Zeit eigenhändig versorgt und gepäppelt.
Dann aber zog er
mich mit in die Küche, wir essen in einer
halben Stunde zu Abend, Katharina, höre ich ihn noch sagen,
und ich wusste sofort, dass er Mutter mit diesem Satz aufforderte,
sich die Haare zu kämmen und sich umzuziehen, damit sie später am
Tisch einen ordentlicheren Eindruck machte.
Ich sah, wie sie mir
noch einen letzten Blick zuwarf und dann wirklich die Treppe hinauf
verschwand, während Vater und ich in die Küche gingen, um bei der
Vorbereitung des Abendessens zu helfen. Da Mutter an diesem Abend
aus Köln angereist war, wollte man sie mit einer besonders
festlichen Mahlzeit begrüßen, zwei Schwestern meines Vaters hatten
bereits den ganzen Nachmittag lang gekocht, und der älteste Bruder
ging die Reihenfolge der Speisen noch einmal laut durch und gab den
beiden jungen Kellnerinnen weitere Anweisungen. Daher herrschte in
der Küche ein solches Gedränge, dass Vater mich bat, zu Mutter aufs
Zimmer zu gehen, mir die Hände zu waschen und, wenn er uns rufe,
mit ihr gemeinsam zum Abendessen zu erscheinen.
Ich ging also die
Treppe zu unserem Zimmer hinauf und überlegte, ob ich noch weiter
in diesem Zimmer schlafen oder ob man mich aus Platzmangel noch an
diesem Abend in eines der anderen Fremdenzimmer verlegen würde. Die
Tür unseres Zimmers stand ein wenig offen, so dass ich
hineinschauen konnte. Mutter stand vor dem Spiegel und betrachtete
ihr Spiegelbild, sie probierte ein Kleid an, das ich zuvor noch nie
gesehen hatte. Dieses Kleid war rot, ja, genau, es handelte sich um
ein rotes, nein, dunkelrotes Sommerkleid mit einem runden
Ausschnitt über der Brust und einer langen Knopfleiste, die vom
Ausschnitt aus bis hinunter zu den Knien verlief.
Da das Kleid keine
Ärmel, sondern nur zwei einfache Träger hatte, waren Mutters
Rücken, der Nacken und die Oberarme in weiten Partien frei, diese
Partien aber waren nun viel heller als ihr Gesicht und erinnerten
mich an den hellen, goldgelb aufschimmernden Körper, der kurz zuvor
noch den See durchschwommen hatte. Die Holzbohlen im Flur
quietschten ein wenig, als ich noch vor der Tür stand, deshalb
drehte Mutter sich um, und ich sah sie bereits zum zweiten Mal an
diesem Abend auf eine neue Weise, denn jetzt erschien sie mir
plötzlich viel jünger als sonst und derart gut gekleidet, als habe
sie sich fein gemacht für einen Auftritt …
Komm her, mein lieber Junge!, eine Aufforderung
etwa dieser Art verbinde ich mit ihrer knappen, einladenden Geste,
so dass ich endlich Mut fasse, das Zimmer auch zu betreten. Sie
zieht mich wieder an sich, aber jetzt viel sanfter und geduldiger
als noch eben unten in der Gaststube, sie wiegt sich mit mir eine
Weile hin und her und dann küsst sie mich auf die Stirn.
Wir müssen uns erst wieder aneinander
gewöhnen, nicht wahr?, etwas in der Art will sie mir
anscheinend sagen, und ich sehe mich vor ihr stehen, unendlich
verlegen und hilflos, weil ich nicht weiß, was ich tun
soll.
Der Raum, in dem ich
mich jetzt befinde, ist aber nun Mutters Raum, ich rieche es genau,
in diesen Raum ist nun der altertümliche, schwere Duft eingezogen,
den ich später einmal als Maiglöckchenduft identifizieren werde. Noch aber
weiß ich natürlich nichts von einem Maiglöckchenduft, sondern
begreife nur, dass ich in diesem Zimmer nicht mehr übernachten
werde, weil es nun das Elternzimmer ist.
Dieser kurze
Gedanke, der Gedanke, gerade aus dem Zimmer vertrieben worden zu
sein, in dem ich mich in den letzten Wochen so wohlgefühlt habe,
lässt mich einen Moment lang traurig und damit noch hilfloser
werden, Mutter aber bemerkt so etwas natürlich sofort, sie vermutet
allerdings, dass meine plötzliche Traurigkeit von ihrer langen
Abwesenheit herrühre. Immer wieder streicht sie mir über den Kopf,
als wollte sie diese Traurigkeit mit allen Mitteln vertreiben, dann
aber kommt ihr ein Gedanke, und sie geht hinüber zum Bett, auf dem
noch immer ihr schwerer, noch nicht ausgepackter Koffer
liegt.
Ich sehe sie, wie
sie in diesen Koffer greift und einige Lagen ihrer Kleidung
beiseite legt, schließlich stößt sie auf eine größere Mappe. Sie
zieht diese Mappe hervor und winkt mir, ich solle zu ihr kommen,
und dann öffnet sie die Mappe auf dem Bett und lässt mich sehen,
was sich darin befindet: Meine Mutter hat mir das Alphabet in
hunderten von bunten, anscheinend von ihr selbst aus Buntpapier
ausgeschnittenen Buchstaben mitgebracht. Die bunten Buchstaben
liegen in der Mappe alle wild durcheinander, aber ich erkenne sie
deutlich, jedoch nicht als einzelne Buchstaben, sondern so, dass
sich diese einzeln daliegenden Buchstaben in meinem Kopf sofort zu
Wörtern verbinden.
P und A …- und sofort
funkt mein Kopf: Pappel. R, E und
I …- und sofort funkt mein Kopf:
Reiher. In Windeseile verbinden sich
die wild verstreut herumliegenden Buchstaben in meinem Kopf zu
Wörtern und kleinen Sätzen, es geht viel zu schnell, das spüre ich
sofort, es geht so schnell und so rasant, dass mir schwindelt, ich
schließe die Augen, aber die Buchstaben verbinden sich miteinander,
auch ohne dass ich sie anschaue, es ist, als habe nun ein
Automatismus Gewalt über mich, es schüttelt mich richtig durch, mir
wird schlecht, ich schaffe es gerade noch, das Waschbecken
aufzusuchen und mich zu übergeben.
Mutter aber versteht
anscheinend nicht, was da gerade mit mir geschehen ist, sie denkt
wohl, dass mich ihre Ankunft so mitnimmt, jedenfalls lege ich ihr
tröstendes Streicheln so aus, beruhige Dich
doch, wir sind ja wieder zusammen, das will sie mir
anscheinend sagen, denn sie tut nichts, mich von den bunten
Buchstaben zu befreien, sondern breitet sie wenig später auch noch
auf dem Bett aus, während ich mit dem Rücken zu ihr am Fenster
stehe und mich an das Fensterbrett klammere.
Ich will, dass diese
bunten Buchstaben verschwinden, am liebsten würde ich sie sofort
aus dem Fenster oder am besten gleich ins Feuer werfen, das aber
geht natürlich nicht, denn diese Buchstaben sind Mutters Geschenk
an ihren lieben und einzigen Sohn, mit dem sie doch eigentlich ein
neues Leben beginnen wollte.
Ich versuche, mich
zu beruhigen, ich schaue hinunter in den Garten und sehe, dass an
diesem Abend wegen Mutters Ankunft auf dem Hof im Freien gedeckt
wird, die Kellnerinnen sind schon beinahe mit dem Decken der langen
Tafel fertig, ich aber habe nicht den geringsten Appetit, nein, der
Appetit ist mir wirklich vergangen. Dann aber höre ich schon, dass
Vater uns ruft, Johannes, Katharina!
und noch einmal: Johannes,
Katharina!
Da nimmt Mutter mich
an der Hand und geht mit mir hinaus auf den Flur, ich gehe links
von ihr, sie rechts, und als wir so nebeneinander die kleine Treppe
hinabgehen, weiß ich auf einmal, was nun geschehen wird. Ich weiß
es ganz genau, es ist nicht nur eine Ahnung, nein, ich weiß es
wirklich, und bis heute ist mir unerklärlich, woher ich derart
genau wissen konnte, was als Nächstes passieren würde.
Ich erkläre es mir
so, dass ich unseren gemeinsamen Gang die Treppe hinab als den
Beginn eines Auftritts erlebte. Mutter ist so seltsam festlich
gekleidet, wie eine Künstlerin, wie eine Sängerin … – genau eine
solche Vermutung ging mir wohl durch den Kopf, und als wir unten,
in der leeren Gaststube, ankamen, wusste ich auch sofort, zu
welchem Zweck sie sich so festlich gekleidet hatte: Mutter wollte
Klavier spielen.
Die abendliche
Tischgesellschaft hatte sich längst draußen im Garten versammelt.
Einige Fackeln brannten und die Laternen warfen ein weiches,
diffuses Licht, während die Fenster der Gaststube weit geöffnet
standen, um die frische Abendluft einmal durch den Raum ziehen zu
lassen. Mutter aber ging mit mir nicht nach draußen, sondern direkt
auf das Klavier zu, auf dem ich an jedem Morgen gespielt hatte.
Kurz überlegte ich, ob ich ihr nicht zuvorkommen und ihren Auftritt
verhindern sollte, dann aber setzte ich mich auf ihren Wink hin an
einen Tisch und beobachtete sie, wie sie den Deckel des Klaviers
öffnete, die Finger ihrer beiden Hände für einen Moment auf die
Tasten legte, sich noch einmal nach mir umschaute und zu spielen
begann.
Sie begann sehr
leise, ja sogar unglaublich leise, ihr Klavierspiel war wohl
zunächst gar nicht draußen zu hören, dann aber setzte der konstante
Rhythmus sich durch, es war ein Walzer-Rhythmus, das bekam ich
sofort mit, Mutter spielte einen schmeichlerischen, sich langsam
erst aufbauenden, dann aber immer schneller drehenden Walzer. Nach
kaum einer Minute hatte ihr Spiel auch eine gewisse Lautstärke
erreicht, jedenfalls näherten sich draußen einige Personen den
Fenstern, um hineinzuschauen und zu sehen, wer dort gerade spielte,
ich hörte das Flüstern, es ist Katharina,
nein, das kann doch nicht sein, dochdoch, es ist Katharina, die
spielt, aber ich bitte Dich, was redest Du denn, dochdoch, ich
schwöre, es ist Katharina!
Dieses Flüstern
wuchs immer mehr, draußen herrschte ein regelrechtes Stimmengewirr,
einige konnten es noch immer nicht glauben, doch an den Fenstern
waren jetzt kleine Trauben von Neugierigen aufgetaucht, die, sobald
sie Mutter erkannten, ruhiger wurden und endlich ganz schwiegen.
Niemand kam jedoch hinein in die Gaststube, niemand wagte sich dort
einzufinden, selbst die jungen Kellnerinnen, die eben noch durch
die Gaststube geeilt waren, um die letzten fehlenden Gläser nach
draußen zu tragen, blieben im Eingang der Küche stehen und trauten
sich nicht mehr, die Gaststube zu durchqueren.
Nur ein einziger
Mensch kam schließlich von draußen herein, ich sah, wie der große
Schatten sich im Laternenlicht der Tür näherte, es war mein Vater,
mein Vater kam in die Stube und ging weiter bis zu meinem Tisch,
und dann setzte er sich neben mich, während meine Mutter spielte,
als habe sie ihn nicht bemerkt.
Damit also hatte sie
sich die Zeit meiner Abwesenheit in Köln vertrieben! Sie hatte sich
wieder ans Klavier gesetzt und anscheinend unermüdlich geübt, denn
ihr Spiel war so sicher und so gefestigt, als hätte sie in dieser
Hinsicht nie eine Krise erlebt. Sie spielte sogar mit einer
gewissen Brillanz, obwohl sie keine Virtuosenstücke ausgewählt
hatte, sondern einen Walzer nach dem andern vortrug, es waren
jedoch, wie dann auch rasch getuschelt wurde, Walzer von Frédéric
Chopin, in denen es Passagen genug gab, die etwas durchaus
Virtuoses hatten.
Ich möchte an dieser
Stelle meiner Erzählung kurz innehalten und zugeben, dass dieses
abendliche Vorspiel meiner Mutter der Grund für eine kuriose
Hassliebe wurde, die mich bis heute mit den Kompositionen Frédéric
Chopins verbindet. Ich muss das an dieser Stelle erwähnen, weil
diese Hassliebe in meinem Leben immer wieder eine große Rolle
gespielt hat und später der Anlass sowohl für eigentlich
überflüssige Katastrophen als auch für bestimmte Sternstunden
war.
Mein angespanntes
Verhältnis zu den Kompositionen Chopins hatte zum einen damit zu
tun, dass ich von Mutters Spiel hingerissen war wie noch von keinem
andern zuvor. Ab und zu hatte ich auf Schallplatten große Pianisten
spielen gehört, aber ich hatte noch nie einen spielen sehen. Mit
Mutters Spiel erlebte ich daher zum ersten Mal live einen mir
perfekt vorkommenden Auftritt, der die Verführungskraft der Musik
inszenierte und sich dafür genau der richtigen Stücke
bediente.
Die Walzer Chopins
nämlich hatten etwas außerordentlich Verführerisches, ja sie
kokettierten geradezu mit der Verführung, indem sie sich von
Walzern in Traumtänze und wieder zurück in Walzer verwandelten,
aparte Läufe einstreuten und daher letztlich ein raffiniertes Spiel
mit dem Walzer trieben, das auch all denen gefiel, die an
klassische Musik nicht gewöhnt waren, wohl aber sofort erkannten,
dass es sich offenbar um Walzer handelte.
In Bewunderung
dieses Raffinements und der Spielkunst meiner Mutter saß ich also
mit offenem Mund da, ich liebte dieses Spiel, ich liebte es in
diesem Moment über alles, und doch begann ich es von Minute zu
Minute auch mehr und mehr zu hassen. Warum hatte Mutter mir nichts
von ihrem Klavierüben verraten? Warum trat sie an diesem Abend
unseres Wiedersehens so demonstrativ auf, als habe sie endlich Zeit
gefunden, wieder ordentlich Klavier zu üben? Und warum spielte sie
genau auf jenem Klavier derart perfekt, auf dem ich zuvor meine
einsamen Übungen gemacht hatte?
Während sie
brillierte und weiter und weiter spielte, kam es mir so vor, als
geriete mein wochenlanges Üben in Vergessenheit, ja als würde es
vollkommen ausgelöscht. Nein, ich hatte in diesen Wochen nicht
Kompositionen von Frédéric Chopin, sondern Stücke von Johann
Sebastian Bach und Domenico Scarlatti gespielt, und diese Stücke
hatten nicht im Geringsten an das verführerische Raffinement
herangereicht, das die Stücke Chopins mit jedem Takt ausstrahlten.
Gefragt, ob ich schon einmal Stücke von Chopin gespielt hätte,
hätte ich sogar antworten müssen, dass dies bisher nicht der Fall
gewesen sei, nein, verdammt, ich hatte noch nie Chopin gespielt,
und wenn es in der Zukunft nach mir ginge, würde ich wohl auch nie
Stücke von Chopin spielen, denn diese Stücke waren ein
verführerisches und sich einschmeichelndes Träumer-und-Mitsummer-Gedudel, erfunden nur
deshalb, um mit unlauteren Mitteln zu prunken.
Träumer-und-Mitsummer-Gedudel – das war meine
erste, vom Hass auf das Spiel meiner Mutter genährte Beleidigung,
die nun den Kompositionen Chopins galt, und leider muss ich
zugeben, dass ich mich in meinem weiteren Leben geradezu darin
übertroffen habe, immer neue Beleidigungen der Kompositionen
Chopins zu erfinden. Natürlich konnte der Komponist Frédéric Chopin
nichts dafür, dass meine Mutter seine Stücke missbrauchte, um bei
all ihren Zuhörerinnen und Zuhörern gut anzukommen, natürlich traf
ihn an alledem nicht die geringste Schuld, es ging in der Beziehung
zwischen Chopin und mir aber auch nicht um Gerechtigkeit und
Anerkennung, sondern um etwas Emotionales, Diffuses: Ich konnte
Chopins Musik nach einiger Zeit, so verführerisch sie auch immer
sein mochte, nicht mehr ertragen und ausstehen, in meinen Ohren war
sie gerade wegen ihres Raffinements unerträglich durchschaubar, ein
Narkotikum, das ich am liebsten sofort verboten oder auf andere
Weise ausgeschaltet hätte.
Nun gut, lassen wir
es vorerst dabei bewenden, von Chopins Kompositionen wird später
noch ausführlicher die Rede sein …, wichtig ist im Augenblick nur,
dass ich Chopin zu lieben und gleichzeitig zu hassen begann und
dass dieselbe Liebe und derselbe Hass dem Spiel meiner Mutter
galten, das nicht aufhören wollte, sondern einen Walzer nach dem
andern kredenzte, Walzer für Walzer, und alle waren sie Walzer des
Komponisten Frédéric Chopin.
Beinahe eine halbe
Stunde, behauptete Vater später einmal, habe Mutter damals
gespielt, und am Ende habe selbst das Küchenpersonal ein wenig
gemurrt, weil man kein abendliches Konzert, wohl aber eine
Abendmahlzeit in mehreren Gängen geplant hatte, die nun alle warm
gehalten werden mussten, über eine halbe Stunde lang.
Dann aber war es
vorbei, und der Beifall war groß, und mein Vater umarmte meine
Mutter, die nun endlich nach draußen ging und sich dort weiter
feiern und an ihrem Ehrenplatz in der Mitte des langen Tisches
platzieren ließ. Nach ihrem Spiel hatte sie nicht nach mir
geschaut, sie hatte mich übersehen oder nicht mehr an mich gedacht,
auch das schmerzte mich, sie war also nach draußen geeilt, um den
Beifall und das Lob zu genießen, darauf war es ihr angekommen,
nicht aber darauf, den Abend vor allem als jenen Abend zu feiern,
an dem sie ihren einzigen, geliebten Sohn nach langer Trennung
wiedersah.
Am Ende ihres
Auftritts saß ich also wahrhaftig allein in der Gaststube. Nur mein
Onkel Hubert war noch in meiner Nähe, na,
Johannes, fragte er, willst Du uns
später auch noch was spielen? Ich stand auf und schüttelte
den Kopf, nein, ich wollte auf keinen Fall später noch irgend ein
Stück spielen, dessen Komponist kein Mensch genau kannte und das
keiner unbedingt hören wollte, nein, das wollte ich auf gar keinen
Fall.
Ich verließ die
Gaststube und ging draußen zu dem langen Tisch, an dem schon die
meisten Hofbewohner Platz genommen hatten, ich sah, dass Mutter in
der Mitte einer Tischseite saß und anscheinend direkt neben ihr ein
Platz auch für mich vorgesehen war. Ich wollte aber jetzt nicht
neben ihr sitzen, ich war völlig verbockt, ihr Auftritt hatte mich
tief gekränkt, in meinen Augen hatte sie mit den dürftigen Walzern
Chopins auf meine Kosten einen billigen Sieg errungen.
Und so ging ich
nicht hinüber auf ihre Tischseite, sondern zu der anderen Seite und
setzte mich ihr genau gegenüber, Auge in Auge mit ihr wollte ich
dieses Abendessen hinter mich bringen, und ich hatte mir
vorgenommen, kein einziges Mal zu lächeln oder sonst eine
freundliche Geste zu machen. Willst Du denn
nicht neben Deiner Mutter sitzen?, fragte mich jemand, ich
aber tat, als hätte ich die Frage nicht gehört, sondern setzte mich
einfach hin, die Tischordnung musste wohl rasch geändert werden,
aber das alles interessierte mich nicht, ich saß nicht neben
Mutter, sondern ihr gegenüber, und nur darauf kam es jetzt
an.
Endlich nahmen dann
alle Platz, und Onkel Hubert sprach das Tischgebet. Danach sagte er
noch zwei oder drei Sätze zu Mutters Begrüßung, und dass alle an
diesem Tisch sich über ihre Anreise aus Köln freuten. Einen Moment
war es in dem von vielen Fackeln zusätzlich erleuchteten Garten
beinahe andächtig still, ich glaubte sogar, den nahen Fluss
rauschen zu hören, so still kam es mir in diesem Moment vor. Der
Onkel wünschte allen schließlich einen guten Appetit und setzte
sich wieder …, als ich, noch in die Stille hinein, zu sprechen
begann: Da ist eine Suppenschüssel, und
daneben ist eine Suppenkelle. Da ist ein Unterteller, da ist ein
flacher Teller, da ist ein tiefer Teller. Der tiefe Teller ist ein
Suppenteller, der kleine Teller ist ein Nachspeisenteller. Da ist
eine Soßenschüssel mit einem Soßenlöffel. Da ist eine
Gemüseschüssel, und daneben ist eine Salatschüssel, und daneben ist
das Salatbesteck. Da ist Salz, da ist Pfeffer. Da ist Öl, da ist
Essig. Da ist ein Messer, da ist eine Gabel, da ist ein Löffel. Da
ist eine Salatgabel, da ist ein Salatlöffel, da ist ein Wasserglas,
da ist ein Bierglas, da ist ein Bierhumpen, da ist ein Weinglas. Da
ist ein Weißweinglas, da ist ein Rotweinglas. Da ist der Brotkorb,
da ist Brot …
Während ich das
alles aufsagte, hatte ich die Augen geschlossen. Ich brauchte mir
die Dinge auf dem Tisch nicht lange anzuschauen, ich hatte ihre
Bilder im Kopf, und indem ich mich an die Bilder erinnerte,
erinnerte ich mich an die Worte. So sprach ich nicht von dem schön
gedeckten Tisch vor meinen Augen, sondern von dem mit Bildern und
Worten gedeckten Tisch in meinem Kopf.
Als ich fertig war
und die Augen wieder öffnete, schaute ich Mutter an und erkannte
auf den ersten Blick, dass sie völlig überrascht und fassungslos
war. Sie hatte die Schultern hochgezogen, als fürchtete sie sich
vor etwas, sie saß angespannt da, als wäre sie geradezu entsetzt
und als zöge sie den Kopf ein, weil die Welt um sie herum gleich
zusammenzustürzen drohte. Eben hatte sie noch den Beifall und die
Eleganz ihres Auftritts genossen, jetzt aber hatte ich meinen
eigenen Auftritt folgen lassen, keine Kompositionen von Chopin,
sondern glasklare Sätze, da ist …, da ist …,
und da ist …
Sie war gar nicht
fähig, auf diesen Auftritt zu reagieren, sondern sie hielt sich die
rechte Hand vor den Mund, als wäre gerade etwas Schreckliches, ja
geradezu Furchtbares geschehen. Auch die anderen Teilnehmer an der
festlichen Mahlzeit rührten sich nicht, sondern starrten mich an,
als wäre ich ein außerirdisches Fabelwesen, das gerade aus dem
Weltall gekommen und an diesem Tisch gelandet wäre. Es war wieder
still, und die Stille kam mir noch schlimmer und anstrengender vor
als die Stille nach dem Tischgebet und den Begrüßungsworten des
Onkels. Warum sagt denn niemand etwas?,
dachte ich, warum, verdammt, sagt nicht
endlich jemand einen ersten, freundlichen Satz? Und warum,
verdammt, bekomme ich keinen Beifall?
Niemand, wirklich
niemand sagte zunächst einen Ton, alle waren anscheinend noch viel
zu sehr damit beschäftigt, zu begreifen, was gerade geschehen war.
Niemand sagte etwas, niemand klatschte, dann aber begann endlich
doch jemand zu sprechen, und er tat es auf eine Art und Weise, die
mir noch heute den größten Respekt und alle Bewunderung
abverlangt.
Es war mein Vater,
der endlich zu sprechen begann, mein Vater hatte sich zuerst
gefangen, vielleicht gelang ihm das in diesem schwierigen
Augenblick besser als den anderen, weil er meine täglichen
Fortschritte am besten von allen mitbekommen und immer daran
geglaubt hatte, dass sein Sohn einmal sprechen würde.
Das Erstaunliche war
nur, dass Vater mit keiner einzigen Bemerkung auf mein Sprechen
einging, dass er es weder kommentierte noch mich lobte, sondern
aufstand und auf die Gastwirtschaft zeigte: Und was ist das, Johannes?, fragte mein
Vater.
Perfekt! Mein Vater
fragte mich, was das war, so wie er die ganzen letzten Wochen für
mich gefragt und mir gezeigt hatte, was dieses oder jenes Ding da
vor meinen Augen war. Mein Vater forderte mich also auf, vor den
anderen das Frage- und Antwort-Spiel mit ihm zu spielen, mein Vater
verlangte noch mehr von mir, mein Vater war nicht damit zufrieden,
dass ich eine Kostprobe meines Sprechens oder ein paar luftige
Kompositionen zum Besten gab, mein Vater wollte, dass ich den
ganzen Reichtum meines neuen Wissens zeigte.
Ich stand auf, so
wie er, ich stand jetzt hinter dem Tisch und schloss die Augen, und
dann setzte ich wieder an: Das ist die
Wirtschaft. Das ist der Eingang mit einem Geländer. Das ist die
Laterne. Das ist die Wand mit den Fenstern. Das ist der Balkon und
der Balkonstuhl und der Balkontisch und die Balkonpflanze. Das ist
das Dach und die Traufe und der First. Das ist der Schornstein und
der Giebel und das Giebelfenster …
Da hörte ich, dass
geklatscht wurde, ja, es wurde wirklich geklatscht! Das Klatschen
wuchs und wurde lauter, und nun waren auch die ersten Stimmen zu
hören, anfeuernde Stimmen, Stimmen, die mich zu Höchstleistungen
anspornen wollten, gleichzeitig aber wurde auch auf den Tisch
getrommelt, als wollte jemand den Rhythmus zu meinen Worten und
Aufzählungen klopfen, weiter, weiter, ich machte weiter, das
Weitermachen war für mich ja kein Problem, ich hätte die halbe
Nacht weitermachen können, schließlich hatte ich Hunderte, ja
vielleicht sogar Tausende Worte auf Lager.
Dann aber spürte
ich, dass mich jemand an der Schulter berührte, ich öffnete die
Augen, Vater packte mich jetzt an der Schulter, und ich sah, dass
er mir vormachte, wie ich mich verbeugen sollte. Ich sollte mich
also zum Klatschen der anderen verbeugen, tief verbeugen sollte ich
mich, mehrmals, wie ein Klavierspieler nach seinem großen Auftritt
sollte ich mich verbeugen.
Ich trat einen
Schritt vom Tisch zurück, und dann verbeugte ich mich tief, wie
Vater es mir gezeigt hatte, alle lachten und freuten sich, nur
Mutter saß noch immer fassungslos hinter dem Tisch und schaute mich
an, als könnte sie nicht begreifen, was ich gerade vollbracht
hatte.
So stand ich
minutenlang und verbeugte mich immer wieder nach allen Seiten, bis
Vater mich an der Hand nahm und mit mir in die Gaststube
zurückging. Warum tat er das? Was hatten wir beide noch in der
Gaststube zu suchen?
In der Gaststube kam
es mir jetzt sehr dunkel vor, ich konnte Vater kaum erkennen, dann
aber hörte ich ihn in der Dunkelheit sprechen: Das war wunderschön und großartig, Johannes! Du hast
Deinem Vater gerade eine sehr große Freude gemacht! Alles, was wir
hier auf dem Hof gemeinsam getan haben, war also nicht umsonst,
nein, es war nicht umsonst. Manchmal habe ich, ehrlich gesagt,
nicht mehr daran geglaubt, dass wir beide es schaffen, aber wir
haben es doch geschafft. Du und ich, wir haben es geschafft, vor
allem aber hast Du es geschafft! Wenn Du so weiter machst, kann Dir
jetzt nichts mehr passieren! Wir sind über den Berg, Du kannst
jetzt sprechen, lesen und schreiben! Ab jetzt wirst Du es allen
zeigen …
Ich war so
unglaublich stolz, dass mein Vater das sagte, und noch stolzer war
ich darauf, dass er mit mir in die Gastwirtschaft gegangen war, um
mir das alles nicht vor den Augen der anderen, sondern allein nur
mir zu sagen. Wir beide hatten es geschafft, ja, wahrhaftig, wir
beide, Vater und Sohn, hatten etwas Großes
hinbekommen.
Ich war nun kein
einsames, stummes und zurückgebliebenes Kind mehr, ich war ein
Junge wie alle anderen, mit einem nicht mehr zu bändigenden,
jahrelang unterdrückten, jetzt aber umso vehementer ausbrechenden
Wissensdrang. Von nun an würde ich alles lesen, was mir unter die
Augen kam, und von nun an würde ich alles aufschreiben, was ich an
neuen Dingen sah. Ich war nun bereit, an die Volksschule
zurückzukehren und es, wie Vater gesagt hatte, allen zu zeigen
…