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VON DEN ersten beiden Schritten meiner Sprachwerdung habe ich nun bereits erzählt, es fehlt aber noch die Erzählung vom dritten Schritt, von meinem ersten Sprechen im Kreise der anderen. Man könnte beinahe vermuten, dass sich dieser Schritt noch an demselben Abend ereignete. Und so war es denn auch. Deshalb setze ich dort wieder ein, wo ich meine Erzählung unterbrochen habe, ich befinde mich in dem Fremdenzimmer, in dem Vater und ich bisher übernachtet haben.
 
In diesem Zimmer wartete ich nun auf Mutter, denn ich wusste ja, dass sie bald vom See kommen würde. Durch das Fenster konnte ich den Weg, der vom Wäldchen zur Gastwirtschaft führte, leicht überblicken, deshalb hielt ich nach ihr Ausschau, ungeduldig darauf, dass sie mich endlich begrüßen würde.
Als ich sie aus dem Wäldchen heraustreten und auf den Hof zu eilen sah, beugte ich mich durch das geöffnete Fenster etwas nach vorn, um in das Licht der Laternen zu geraten, die das Gelände rund um den Gasthof bereits erleuchteten. Da bemerkte ich, dass Mutter mich aus der Ferne erkannte, jedenfalls blieb sie einen Augenblick stehen und begann zu winken, ich winkte heftig zurück, endlich hatten wir uns beide wieder im Blick.
Es umgab sie jedoch etwas Fremdes, ja, das spürte ich sehr genau, und dieses Fremde wirkte wie eine leichte, irritierende Störung unserer früheren Zweisamkeit. Normalerweise wäre ich die Treppe so schnell wie ich konnte heruntergesprungen, um sie zu umarmen, jetzt aber ging ich die Treppe Schritt für Schritt hinab, als müsste ich mir erst überlegen, wie ich mich ihr nähern sollte.
 
Als ich ihr unten in der inzwischen erleuchteten Ga-ststube begegnete, hatte ich dazu aber keinen Moment Zeit, denn Mutter packte mich fest, ja sie riss mich beinahe an sich und drehte sich dann mit mir auf der Stelle, so dass meine Beine hoch durch die Luft flogen. Was machte sie denn? Sie war vor lauter Freude ja außer sich!
Sie schaute mich aber nicht richtig an, sondern hielt mich eine Zeit lang umschlungen, als genügte es ihr, meinen Leib wieder zu spüren und an sich zu pressen. Erst nach Minuten setzte sie mich wieder ab und ließ etwas locker, hielt jedoch weiter meine beiden Hände, als wollte sie nun mit mir tanzen. Bevor das aber geschehen konnte, blickte sie mir endlich auch ins Gesicht, und ich bemerkte, dass sie das Fremde jetzt ebenfalls spürte, ja, sie zuckte ein wenig zusammen und verlagerte ihr Gewicht wie nach einem kurzen Stolpern von einem Fuß auf den andern.
Dann aber ließ sie meine Hände los, und wir standen uns frei gegenüber. Ihr Mund stand etwas offen, ihre Lippen zitterten ein wenig, was mich jedoch am meisten hinschauen ließ und meine Blicke anzog, das waren ihre Haare, die durch das Baden im See vollkommen durcheinandergeraten waren und ihrem Gesicht etwas Wildes und Schönes verliehen.
So wild und schön hatte ich sie noch nie gesehen! Das offene Haar wirkte viel fülliger und üppiger als das gekämmte, geordnete, und das schmale Gesicht sah in diesem dunklen Wirrwarr noch schmaler als gewöhnlich aus, als bildete es eine strenge Maske, mit deutlich markierten Zügen. Die stark hervortretenden Backenknochen! Die sanft abfallende Stirn mit der alten Wunde über dem rechten Auge!
 
Wenn ich mich heute an diesen Anblick erinnere, so glaube ich, etwas beinahe Antikes, aber auch Rohes gesehen zu haben. Alles an diesem Kopf war Strenge, aber hinter dieser Strenge spürte ich etwas von Atemlosigkeit oder sogar von Gehetztheit, als wäre sie in Köln ununterbrochen unterwegs gewesen. Ihre Haut war von diesem Unterwegssein gebräunt, so dass der Schmuck, den sie nur an der rechten Hand trug, besonders hell aufleuchtete. Der Armreif, den mein Großvater ihr einmal geschenkt hatte! Der Hochzeitsring, den sie einmal verloren hatte und der dann doch im Keller unseres Kölner Wohnhauses wieder aufgetaucht war!
 
Ich staunte sie an, aber auch sie staunte, denn in vielen Zügen glich mein Äußeres dem ihren so, als wären wir nicht einige Zeit getrennt, sondern vielmehr ganz im Gegenteil noch enger als sonst zusammen gewesen. Auch ich war von den vielen Aufenthalten im Freien gebräunt, und auch meine Haare waren ganz anders als sonst, viel länger und außerdem vollkommen blond. Hinzu kam, dass die Spaziergänge und Wanderungen zusammen mit dem fast täglichen Schwimmen meinen Körper gekräftigt hatten, so dass an diesem Abend vor ihr in der Gaststube ein körperlich geschulter, ja beinahe athletischer Junge stand.
Später hat Mutter einmal behauptet, ich hätte den Eindruck einer Skulptur gemacht, die man gerade aus einem großen Steinblock herausgemeißelt habe, so glatt und kantig seien meine Umrisse gewesen. Meine Nase sei ihr viel spitzer und länger vorgekommen als zuvor, außerdem aber hätte ich hungrig ausgesehen, mein Gott!, wie mager ist er geworden!, habe sie mehrmals gedacht, wobei sie sich diese Magerkeit aber nicht habe erklären können, da jeder Gast von Hof und Wirtschaft im Normalfall wegen des guten und reichlichen Essens meist zugelegt habe.
 
Zum Glück kam in diesem Augenblick, als wir uns noch musterten, mein Vater hinzu, Vater ging direkt zu mir und legte mir den Arm um meinen Hals, als wollte er mich wie ein Schaustück präsentieren. Na, sieht er nicht gut aus?, fragte er, und ich sehe Mutter noch lächeln, als lächelte sie nicht über mich, sondern über den Stolz meines Vaters, der so tat, als habe er mich die ganze Zeit eigenhändig versorgt und gepäppelt.
Dann aber zog er mich mit in die Küche, wir essen in einer halben Stunde zu Abend, Katharina, höre ich ihn noch sagen, und ich wusste sofort, dass er Mutter mit diesem Satz aufforderte, sich die Haare zu kämmen und sich umzuziehen, damit sie später am Tisch einen ordentlicheren Eindruck machte.
 
Ich sah, wie sie mir noch einen letzten Blick zuwarf und dann wirklich die Treppe hinauf verschwand, während Vater und ich in die Küche gingen, um bei der Vorbereitung des Abendessens zu helfen. Da Mutter an diesem Abend aus Köln angereist war, wollte man sie mit einer besonders festlichen Mahlzeit begrüßen, zwei Schwestern meines Vaters hatten bereits den ganzen Nachmittag lang gekocht, und der älteste Bruder ging die Reihenfolge der Speisen noch einmal laut durch und gab den beiden jungen Kellnerinnen weitere Anweisungen. Daher herrschte in der Küche ein solches Gedränge, dass Vater mich bat, zu Mutter aufs Zimmer zu gehen, mir die Hände zu waschen und, wenn er uns rufe, mit ihr gemeinsam zum Abendessen zu erscheinen.
 
Ich ging also die Treppe zu unserem Zimmer hinauf und überlegte, ob ich noch weiter in diesem Zimmer schlafen oder ob man mich aus Platzmangel noch an diesem Abend in eines der anderen Fremdenzimmer verlegen würde. Die Tür unseres Zimmers stand ein wenig offen, so dass ich hineinschauen konnte. Mutter stand vor dem Spiegel und betrachtete ihr Spiegelbild, sie probierte ein Kleid an, das ich zuvor noch nie gesehen hatte. Dieses Kleid war rot, ja, genau, es handelte sich um ein rotes, nein, dunkelrotes Sommerkleid mit einem runden Ausschnitt über der Brust und einer langen Knopfleiste, die vom Ausschnitt aus bis hinunter zu den Knien verlief.
Da das Kleid keine Ärmel, sondern nur zwei einfache Träger hatte, waren Mutters Rücken, der Nacken und die Oberarme in weiten Partien frei, diese Partien aber waren nun viel heller als ihr Gesicht und erinnerten mich an den hellen, goldgelb aufschimmernden Körper, der kurz zuvor noch den See durchschwommen hatte. Die Holzbohlen im Flur quietschten ein wenig, als ich noch vor der Tür stand, deshalb drehte Mutter sich um, und ich sah sie bereits zum zweiten Mal an diesem Abend auf eine neue Weise, denn jetzt erschien sie mir plötzlich viel jünger als sonst und derart gut gekleidet, als habe sie sich fein gemacht für einen Auftritt …
 
Komm her, mein lieber Junge!, eine Aufforderung etwa dieser Art verbinde ich mit ihrer knappen, einladenden Geste, so dass ich endlich Mut fasse, das Zimmer auch zu betreten. Sie zieht mich wieder an sich, aber jetzt viel sanfter und geduldiger als noch eben unten in der Gaststube, sie wiegt sich mit mir eine Weile hin und her und dann küsst sie mich auf die Stirn. Wir müssen uns erst wieder aneinander gewöhnen, nicht wahr?, etwas in der Art will sie mir anscheinend sagen, und ich sehe mich vor ihr stehen, unendlich verlegen und hilflos, weil ich nicht weiß, was ich tun soll.
Der Raum, in dem ich mich jetzt befinde, ist aber nun Mutters Raum, ich rieche es genau, in diesen Raum ist nun der altertümliche, schwere Duft eingezogen, den ich später einmal als Maiglöckchenduft identifizieren werde. Noch aber weiß ich natürlich nichts von einem Maiglöckchenduft, sondern begreife nur, dass ich in diesem Zimmer nicht mehr übernachten werde, weil es nun das Elternzimmer ist.
Dieser kurze Gedanke, der Gedanke, gerade aus dem Zimmer vertrieben worden zu sein, in dem ich mich in den letzten Wochen so wohlgefühlt habe, lässt mich einen Moment lang traurig und damit noch hilfloser werden, Mutter aber bemerkt so etwas natürlich sofort, sie vermutet allerdings, dass meine plötzliche Traurigkeit von ihrer langen Abwesenheit herrühre. Immer wieder streicht sie mir über den Kopf, als wollte sie diese Traurigkeit mit allen Mitteln vertreiben, dann aber kommt ihr ein Gedanke, und sie geht hinüber zum Bett, auf dem noch immer ihr schwerer, noch nicht ausgepackter Koffer liegt.
 
Ich sehe sie, wie sie in diesen Koffer greift und einige Lagen ihrer Kleidung beiseite legt, schließlich stößt sie auf eine größere Mappe. Sie zieht diese Mappe hervor und winkt mir, ich solle zu ihr kommen, und dann öffnet sie die Mappe auf dem Bett und lässt mich sehen, was sich darin befindet: Meine Mutter hat mir das Alphabet in hunderten von bunten, anscheinend von ihr selbst aus Buntpapier ausgeschnittenen Buchstaben mitgebracht. Die bunten Buchstaben liegen in der Mappe alle wild durcheinander, aber ich erkenne sie deutlich, jedoch nicht als einzelne Buchstaben, sondern so, dass sich diese einzeln daliegenden Buchstaben in meinem Kopf sofort zu Wörtern verbinden.
 
P und A …- und sofort funkt mein Kopf: Pappel. R, E und I …- und sofort funkt mein Kopf: Reiher. In Windeseile verbinden sich die wild verstreut herumliegenden Buchstaben in meinem Kopf zu Wörtern und kleinen Sätzen, es geht viel zu schnell, das spüre ich sofort, es geht so schnell und so rasant, dass mir schwindelt, ich schließe die Augen, aber die Buchstaben verbinden sich miteinander, auch ohne dass ich sie anschaue, es ist, als habe nun ein Automatismus Gewalt über mich, es schüttelt mich richtig durch, mir wird schlecht, ich schaffe es gerade noch, das Waschbecken aufzusuchen und mich zu übergeben.
 
Mutter aber versteht anscheinend nicht, was da gerade mit mir geschehen ist, sie denkt wohl, dass mich ihre Ankunft so mitnimmt, jedenfalls lege ich ihr tröstendes Streicheln so aus, beruhige Dich doch, wir sind ja wieder zusammen, das will sie mir anscheinend sagen, denn sie tut nichts, mich von den bunten Buchstaben zu befreien, sondern breitet sie wenig später auch noch auf dem Bett aus, während ich mit dem Rücken zu ihr am Fenster stehe und mich an das Fensterbrett klammere.
Ich will, dass diese bunten Buchstaben verschwinden, am liebsten würde ich sie sofort aus dem Fenster oder am besten gleich ins Feuer werfen, das aber geht natürlich nicht, denn diese Buchstaben sind Mutters Geschenk an ihren lieben und einzigen Sohn, mit dem sie doch eigentlich ein neues Leben beginnen wollte.
Ich versuche, mich zu beruhigen, ich schaue hinunter in den Garten und sehe, dass an diesem Abend wegen Mutters Ankunft auf dem Hof im Freien gedeckt wird, die Kellnerinnen sind schon beinahe mit dem Decken der langen Tafel fertig, ich aber habe nicht den geringsten Appetit, nein, der Appetit ist mir wirklich vergangen. Dann aber höre ich schon, dass Vater uns ruft, Johannes, Katharina! und noch einmal: Johannes, Katharina!
 
Da nimmt Mutter mich an der Hand und geht mit mir hinaus auf den Flur, ich gehe links von ihr, sie rechts, und als wir so nebeneinander die kleine Treppe hinabgehen, weiß ich auf einmal, was nun geschehen wird. Ich weiß es ganz genau, es ist nicht nur eine Ahnung, nein, ich weiß es wirklich, und bis heute ist mir unerklärlich, woher ich derart genau wissen konnte, was als Nächstes passieren würde.
Ich erkläre es mir so, dass ich unseren gemeinsamen Gang die Treppe hinab als den Beginn eines Auftritts erlebte. Mutter ist so seltsam festlich gekleidet, wie eine Künstlerin, wie eine Sängerin … – genau eine solche Vermutung ging mir wohl durch den Kopf, und als wir unten, in der leeren Gaststube, ankamen, wusste ich auch sofort, zu welchem Zweck sie sich so festlich gekleidet hatte: Mutter wollte Klavier spielen.
 
Die abendliche Tischgesellschaft hatte sich längst draußen im Garten versammelt. Einige Fackeln brannten und die Laternen warfen ein weiches, diffuses Licht, während die Fenster der Gaststube weit geöffnet standen, um die frische Abendluft einmal durch den Raum ziehen zu lassen. Mutter aber ging mit mir nicht nach draußen, sondern direkt auf das Klavier zu, auf dem ich an jedem Morgen gespielt hatte. Kurz überlegte ich, ob ich ihr nicht zuvorkommen und ihren Auftritt verhindern sollte, dann aber setzte ich mich auf ihren Wink hin an einen Tisch und beobachtete sie, wie sie den Deckel des Klaviers öffnete, die Finger ihrer beiden Hände für einen Moment auf die Tasten legte, sich noch einmal nach mir umschaute und zu spielen begann.
 
Sie begann sehr leise, ja sogar unglaublich leise, ihr Klavierspiel war wohl zunächst gar nicht draußen zu hören, dann aber setzte der konstante Rhythmus sich durch, es war ein Walzer-Rhythmus, das bekam ich sofort mit, Mutter spielte einen schmeichlerischen, sich langsam erst aufbauenden, dann aber immer schneller drehenden Walzer. Nach kaum einer Minute hatte ihr Spiel auch eine gewisse Lautstärke erreicht, jedenfalls näherten sich draußen einige Personen den Fenstern, um hineinzuschauen und zu sehen, wer dort gerade spielte, ich hörte das Flüstern, es ist Katharina, nein, das kann doch nicht sein, dochdoch, es ist Katharina, die spielt, aber ich bitte Dich, was redest Du denn, dochdoch, ich schwöre, es ist Katharina!
Dieses Flüstern wuchs immer mehr, draußen herrschte ein regelrechtes Stimmengewirr, einige konnten es noch immer nicht glauben, doch an den Fenstern waren jetzt kleine Trauben von Neugierigen aufgetaucht, die, sobald sie Mutter erkannten, ruhiger wurden und endlich ganz schwiegen. Niemand kam jedoch hinein in die Gaststube, niemand wagte sich dort einzufinden, selbst die jungen Kellnerinnen, die eben noch durch die Gaststube geeilt waren, um die letzten fehlenden Gläser nach draußen zu tragen, blieben im Eingang der Küche stehen und trauten sich nicht mehr, die Gaststube zu durchqueren.
Nur ein einziger Mensch kam schließlich von draußen herein, ich sah, wie der große Schatten sich im Laternenlicht der Tür näherte, es war mein Vater, mein Vater kam in die Stube und ging weiter bis zu meinem Tisch, und dann setzte er sich neben mich, während meine Mutter spielte, als habe sie ihn nicht bemerkt.
 
Damit also hatte sie sich die Zeit meiner Abwesenheit in Köln vertrieben! Sie hatte sich wieder ans Klavier gesetzt und anscheinend unermüdlich geübt, denn ihr Spiel war so sicher und so gefestigt, als hätte sie in dieser Hinsicht nie eine Krise erlebt. Sie spielte sogar mit einer gewissen Brillanz, obwohl sie keine Virtuosenstücke ausgewählt hatte, sondern einen Walzer nach dem andern vortrug, es waren jedoch, wie dann auch rasch getuschelt wurde, Walzer von Frédéric Chopin, in denen es Passagen genug gab, die etwas durchaus Virtuoses hatten.
 
Ich möchte an dieser Stelle meiner Erzählung kurz innehalten und zugeben, dass dieses abendliche Vorspiel meiner Mutter der Grund für eine kuriose Hassliebe wurde, die mich bis heute mit den Kompositionen Frédéric Chopins verbindet. Ich muss das an dieser Stelle erwähnen, weil diese Hassliebe in meinem Leben immer wieder eine große Rolle gespielt hat und später der Anlass sowohl für eigentlich überflüssige Katastrophen als auch für bestimmte Sternstunden war.
Mein angespanntes Verhältnis zu den Kompositionen Chopins hatte zum einen damit zu tun, dass ich von Mutters Spiel hingerissen war wie noch von keinem andern zuvor. Ab und zu hatte ich auf Schallplatten große Pianisten spielen gehört, aber ich hatte noch nie einen spielen sehen. Mit Mutters Spiel erlebte ich daher zum ersten Mal live einen mir perfekt vorkommenden Auftritt, der die Verführungskraft der Musik inszenierte und sich dafür genau der richtigen Stücke bediente.
Die Walzer Chopins nämlich hatten etwas außerordentlich Verführerisches, ja sie kokettierten geradezu mit der Verführung, indem sie sich von Walzern in Traumtänze und wieder zurück in Walzer verwandelten, aparte Läufe einstreuten und daher letztlich ein raffiniertes Spiel mit dem Walzer trieben, das auch all denen gefiel, die an klassische Musik nicht gewöhnt waren, wohl aber sofort erkannten, dass es sich offenbar um Walzer handelte.
 
In Bewunderung dieses Raffinements und der Spielkunst meiner Mutter saß ich also mit offenem Mund da, ich liebte dieses Spiel, ich liebte es in diesem Moment über alles, und doch begann ich es von Minute zu Minute auch mehr und mehr zu hassen. Warum hatte Mutter mir nichts von ihrem Klavierüben verraten? Warum trat sie an diesem Abend unseres Wiedersehens so demonstrativ auf, als habe sie endlich Zeit gefunden, wieder ordentlich Klavier zu üben? Und warum spielte sie genau auf jenem Klavier derart perfekt, auf dem ich zuvor meine einsamen Übungen gemacht hatte?
Während sie brillierte und weiter und weiter spielte, kam es mir so vor, als geriete mein wochenlanges Üben in Vergessenheit, ja als würde es vollkommen ausgelöscht. Nein, ich hatte in diesen Wochen nicht Kompositionen von Frédéric Chopin, sondern Stücke von Johann Sebastian Bach und Domenico Scarlatti gespielt, und diese Stücke hatten nicht im Geringsten an das verführerische Raffinement herangereicht, das die Stücke Chopins mit jedem Takt ausstrahlten. Gefragt, ob ich schon einmal Stücke von Chopin gespielt hätte, hätte ich sogar antworten müssen, dass dies bisher nicht der Fall gewesen sei, nein, verdammt, ich hatte noch nie Chopin gespielt, und wenn es in der Zukunft nach mir ginge, würde ich wohl auch nie Stücke von Chopin spielen, denn diese Stücke waren ein verführerisches und sich einschmeichelndes Träumer-und-Mitsummer-Gedudel, erfunden nur deshalb, um mit unlauteren Mitteln zu prunken.
 
Träumer-und-Mitsummer-Gedudel – das war meine erste, vom Hass auf das Spiel meiner Mutter genährte Beleidigung, die nun den Kompositionen Chopins galt, und leider muss ich zugeben, dass ich mich in meinem weiteren Leben geradezu darin übertroffen habe, immer neue Beleidigungen der Kompositionen Chopins zu erfinden. Natürlich konnte der Komponist Frédéric Chopin nichts dafür, dass meine Mutter seine Stücke missbrauchte, um bei all ihren Zuhörerinnen und Zuhörern gut anzukommen, natürlich traf ihn an alledem nicht die geringste Schuld, es ging in der Beziehung zwischen Chopin und mir aber auch nicht um Gerechtigkeit und Anerkennung, sondern um etwas Emotionales, Diffuses: Ich konnte Chopins Musik nach einiger Zeit, so verführerisch sie auch immer sein mochte, nicht mehr ertragen und ausstehen, in meinen Ohren war sie gerade wegen ihres Raffinements unerträglich durchschaubar, ein Narkotikum, das ich am liebsten sofort verboten oder auf andere Weise ausgeschaltet hätte.
 
Nun gut, lassen wir es vorerst dabei bewenden, von Chopins Kompositionen wird später noch ausführlicher die Rede sein …, wichtig ist im Augenblick nur, dass ich Chopin zu lieben und gleichzeitig zu hassen begann und dass dieselbe Liebe und derselbe Hass dem Spiel meiner Mutter galten, das nicht aufhören wollte, sondern einen Walzer nach dem andern kredenzte, Walzer für Walzer, und alle waren sie Walzer des Komponisten Frédéric Chopin.
 
Beinahe eine halbe Stunde, behauptete Vater später einmal, habe Mutter damals gespielt, und am Ende habe selbst das Küchenpersonal ein wenig gemurrt, weil man kein abendliches Konzert, wohl aber eine Abendmahlzeit in mehreren Gängen geplant hatte, die nun alle warm gehalten werden mussten, über eine halbe Stunde lang.
Dann aber war es vorbei, und der Beifall war groß, und mein Vater umarmte meine Mutter, die nun endlich nach draußen ging und sich dort weiter feiern und an ihrem Ehrenplatz in der Mitte des langen Tisches platzieren ließ. Nach ihrem Spiel hatte sie nicht nach mir geschaut, sie hatte mich übersehen oder nicht mehr an mich gedacht, auch das schmerzte mich, sie war also nach draußen geeilt, um den Beifall und das Lob zu genießen, darauf war es ihr angekommen, nicht aber darauf, den Abend vor allem als jenen Abend zu feiern, an dem sie ihren einzigen, geliebten Sohn nach langer Trennung wiedersah.
 
Am Ende ihres Auftritts saß ich also wahrhaftig allein in der Gaststube. Nur mein Onkel Hubert war noch in meiner Nähe, na, Johannes, fragte er, willst Du uns später auch noch was spielen? Ich stand auf und schüttelte den Kopf, nein, ich wollte auf keinen Fall später noch irgend ein Stück spielen, dessen Komponist kein Mensch genau kannte und das keiner unbedingt hören wollte, nein, das wollte ich auf gar keinen Fall.
Ich verließ die Gaststube und ging draußen zu dem langen Tisch, an dem schon die meisten Hofbewohner Platz genommen hatten, ich sah, dass Mutter in der Mitte einer Tischseite saß und anscheinend direkt neben ihr ein Platz auch für mich vorgesehen war. Ich wollte aber jetzt nicht neben ihr sitzen, ich war völlig verbockt, ihr Auftritt hatte mich tief gekränkt, in meinen Augen hatte sie mit den dürftigen Walzern Chopins auf meine Kosten einen billigen Sieg errungen.
Und so ging ich nicht hinüber auf ihre Tischseite, sondern zu der anderen Seite und setzte mich ihr genau gegenüber, Auge in Auge mit ihr wollte ich dieses Abendessen hinter mich bringen, und ich hatte mir vorgenommen, kein einziges Mal zu lächeln oder sonst eine freundliche Geste zu machen. Willst Du denn nicht neben Deiner Mutter sitzen?, fragte mich jemand, ich aber tat, als hätte ich die Frage nicht gehört, sondern setzte mich einfach hin, die Tischordnung musste wohl rasch geändert werden, aber das alles interessierte mich nicht, ich saß nicht neben Mutter, sondern ihr gegenüber, und nur darauf kam es jetzt an.
 
Endlich nahmen dann alle Platz, und Onkel Hubert sprach das Tischgebet. Danach sagte er noch zwei oder drei Sätze zu Mutters Begrüßung, und dass alle an diesem Tisch sich über ihre Anreise aus Köln freuten. Einen Moment war es in dem von vielen Fackeln zusätzlich erleuchteten Garten beinahe andächtig still, ich glaubte sogar, den nahen Fluss rauschen zu hören, so still kam es mir in diesem Moment vor. Der Onkel wünschte allen schließlich einen guten Appetit und setzte sich wieder …, als ich, noch in die Stille hinein, zu sprechen begann: Da ist eine Suppenschüssel, und daneben ist eine Suppenkelle. Da ist ein Unterteller, da ist ein flacher Teller, da ist ein tiefer Teller. Der tiefe Teller ist ein Suppenteller, der kleine Teller ist ein Nachspeisenteller. Da ist eine Soßenschüssel mit einem Soßenlöffel. Da ist eine Gemüseschüssel, und daneben ist eine Salatschüssel, und daneben ist das Salatbesteck. Da ist Salz, da ist Pfeffer. Da ist Öl, da ist Essig. Da ist ein Messer, da ist eine Gabel, da ist ein Löffel. Da ist eine Salatgabel, da ist ein Salatlöffel, da ist ein Wasserglas, da ist ein Bierglas, da ist ein Bierhumpen, da ist ein Weinglas. Da ist ein Weißweinglas, da ist ein Rotweinglas. Da ist der Brotkorb, da ist Brot …
 
Während ich das alles aufsagte, hatte ich die Augen geschlossen. Ich brauchte mir die Dinge auf dem Tisch nicht lange anzuschauen, ich hatte ihre Bilder im Kopf, und indem ich mich an die Bilder erinnerte, erinnerte ich mich an die Worte. So sprach ich nicht von dem schön gedeckten Tisch vor meinen Augen, sondern von dem mit Bildern und Worten gedeckten Tisch in meinem Kopf.
 
Als ich fertig war und die Augen wieder öffnete, schaute ich Mutter an und erkannte auf den ersten Blick, dass sie völlig überrascht und fassungslos war. Sie hatte die Schultern hochgezogen, als fürchtete sie sich vor etwas, sie saß angespannt da, als wäre sie geradezu entsetzt und als zöge sie den Kopf ein, weil die Welt um sie herum gleich zusammenzustürzen drohte. Eben hatte sie noch den Beifall und die Eleganz ihres Auftritts genossen, jetzt aber hatte ich meinen eigenen Auftritt folgen lassen, keine Kompositionen von Chopin, sondern glasklare Sätze, da ist …, da ist …, und da ist …
Sie war gar nicht fähig, auf diesen Auftritt zu reagieren, sondern sie hielt sich die rechte Hand vor den Mund, als wäre gerade etwas Schreckliches, ja geradezu Furchtbares geschehen. Auch die anderen Teilnehmer an der festlichen Mahlzeit rührten sich nicht, sondern starrten mich an, als wäre ich ein außerirdisches Fabelwesen, das gerade aus dem Weltall gekommen und an diesem Tisch gelandet wäre. Es war wieder still, und die Stille kam mir noch schlimmer und anstrengender vor als die Stille nach dem Tischgebet und den Begrüßungsworten des Onkels. Warum sagt denn niemand etwas?, dachte ich, warum, verdammt, sagt nicht endlich jemand einen ersten, freundlichen Satz? Und warum, verdammt, bekomme ich keinen Beifall?
 
Niemand, wirklich niemand sagte zunächst einen Ton, alle waren anscheinend noch viel zu sehr damit beschäftigt, zu begreifen, was gerade geschehen war. Niemand sagte etwas, niemand klatschte, dann aber begann endlich doch jemand zu sprechen, und er tat es auf eine Art und Weise, die mir noch heute den größten Respekt und alle Bewunderung abverlangt.
Es war mein Vater, der endlich zu sprechen begann, mein Vater hatte sich zuerst gefangen, vielleicht gelang ihm das in diesem schwierigen Augenblick besser als den anderen, weil er meine täglichen Fortschritte am besten von allen mitbekommen und immer daran geglaubt hatte, dass sein Sohn einmal sprechen würde.
Das Erstaunliche war nur, dass Vater mit keiner einzigen Bemerkung auf mein Sprechen einging, dass er es weder kommentierte noch mich lobte, sondern aufstand und auf die Gastwirtschaft zeigte: Und was ist das, Johannes?, fragte mein Vater.
 
Perfekt! Mein Vater fragte mich, was das war, so wie er die ganzen letzten Wochen für mich gefragt und mir gezeigt hatte, was dieses oder jenes Ding da vor meinen Augen war. Mein Vater forderte mich also auf, vor den anderen das Frage- und Antwort-Spiel mit ihm zu spielen, mein Vater verlangte noch mehr von mir, mein Vater war nicht damit zufrieden, dass ich eine Kostprobe meines Sprechens oder ein paar luftige Kompositionen zum Besten gab, mein Vater wollte, dass ich den ganzen Reichtum meines neuen Wissens zeigte.
 
Ich stand auf, so wie er, ich stand jetzt hinter dem Tisch und schloss die Augen, und dann setzte ich wieder an: Das ist die Wirtschaft. Das ist der Eingang mit einem Geländer. Das ist die Laterne. Das ist die Wand mit den Fenstern. Das ist der Balkon und der Balkonstuhl und der Balkontisch und die Balkonpflanze. Das ist das Dach und die Traufe und der First. Das ist der Schornstein und der Giebel und das Giebelfenster …
 
Da hörte ich, dass geklatscht wurde, ja, es wurde wirklich geklatscht! Das Klatschen wuchs und wurde lauter, und nun waren auch die ersten Stimmen zu hören, anfeuernde Stimmen, Stimmen, die mich zu Höchstleistungen anspornen wollten, gleichzeitig aber wurde auch auf den Tisch getrommelt, als wollte jemand den Rhythmus zu meinen Worten und Aufzählungen klopfen, weiter, weiter, ich machte weiter, das Weitermachen war für mich ja kein Problem, ich hätte die halbe Nacht weitermachen können, schließlich hatte ich Hunderte, ja vielleicht sogar Tausende Worte auf Lager.
 
Dann aber spürte ich, dass mich jemand an der Schulter berührte, ich öffnete die Augen, Vater packte mich jetzt an der Schulter, und ich sah, dass er mir vormachte, wie ich mich verbeugen sollte. Ich sollte mich also zum Klatschen der anderen verbeugen, tief verbeugen sollte ich mich, mehrmals, wie ein Klavierspieler nach seinem großen Auftritt sollte ich mich verbeugen.
 
Ich trat einen Schritt vom Tisch zurück, und dann verbeugte ich mich tief, wie Vater es mir gezeigt hatte, alle lachten und freuten sich, nur Mutter saß noch immer fassungslos hinter dem Tisch und schaute mich an, als könnte sie nicht begreifen, was ich gerade vollbracht hatte.
So stand ich minutenlang und verbeugte mich immer wieder nach allen Seiten, bis Vater mich an der Hand nahm und mit mir in die Gaststube zurückging. Warum tat er das? Was hatten wir beide noch in der Gaststube zu suchen?
In der Gaststube kam es mir jetzt sehr dunkel vor, ich konnte Vater kaum erkennen, dann aber hörte ich ihn in der Dunkelheit sprechen: Das war wunderschön und großartig, Johannes! Du hast Deinem Vater gerade eine sehr große Freude gemacht! Alles, was wir hier auf dem Hof gemeinsam getan haben, war also nicht umsonst, nein, es war nicht umsonst. Manchmal habe ich, ehrlich gesagt, nicht mehr daran geglaubt, dass wir beide es schaffen, aber wir haben es doch geschafft. Du und ich, wir haben es geschafft, vor allem aber hast Du es geschafft! Wenn Du so weiter machst, kann Dir jetzt nichts mehr passieren! Wir sind über den Berg, Du kannst jetzt sprechen, lesen und schreiben! Ab jetzt wirst Du es allen zeigen …
 
Ich war so unglaublich stolz, dass mein Vater das sagte, und noch stolzer war ich darauf, dass er mit mir in die Gastwirtschaft gegangen war, um mir das alles nicht vor den Augen der anderen, sondern allein nur mir zu sagen. Wir beide hatten es geschafft, ja, wahrhaftig, wir beide, Vater und Sohn, hatten etwas Großes hinbekommen.
Ich war nun kein einsames, stummes und zurückgebliebenes Kind mehr, ich war ein Junge wie alle anderen, mit einem nicht mehr zu bändigenden, jahrelang unterdrückten, jetzt aber umso vehementer ausbrechenden Wissensdrang. Von nun an würde ich alles lesen, was mir unter die Augen kam, und von nun an würde ich alles aufschreiben, was ich an neuen Dingen sah. Ich war nun bereit, an die Volksschule zurückzukehren und es, wie Vater gesagt hatte, allen zu zeigen …