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WIR BEZOGEN eines
der fünf Fremdenzimmer im ersten Stock der Gastwirtschaft, die
sonst vor allem von Ferien- und Wochenendgästen aus dem Rheinland
belegt wurden. Aus dem einzigen Fenster hatten wir einen schönen
Blick auf den Fluss, die großen Eichen und Buchen an seinem Ufer
und das jenseitige, etwas ansteigende Wiesengelände mit Kühen und
Pferden. Frühmorgens gingen wir vor dem Frühstück kurz ins Wasser,
Vater schwamm einige Minuten, und ich ging zumindest bis zum Kopf
ebenfalls hinein und machte einige Schwimmbewegungen. Danach wurde
in der großen Küche an einem langen Tisch, auf dem sonst die
Bestandteile der Mahlzeiten klein geschnitten und für das Kochen
und Braten präpariert wurden, gefrühstückt.
Manchmal saßen bis
zu zwanzig Personen an diesem Tisch, Geschwister meines Vaters,
ihre Ehepartner, Mägde und Knechte, Küchenhilfen – trotz der vielen
Personen war es aber die ruhigste Mahlzeit des Tages und für alle
Anwesenden anscheinend ein großer Genuss. Fast alles, was sich auf
dem Tisch befand, war nämlich auf dem Hof hergestellt worden, das
Brot in dem kleinen Backes, der sich im flussnahen Teil des Gartens
befand, die Wurst bei den Schlachtungen in den weiten
Kellergewölben der Wirtschaft, der Honig, die Marmeladen, der Käse,
die Butter – all das schmeckte kräftig und eigen und war einer der
Gründe dafür, warum die Wirtschaft so gut besucht
wurde.
Nach dem Frühstück
gingen alle ihren Tätigkeiten nach, einige auf den Feldern, andere
im Garten oder in der Küche. Vater ging meist mit aufs Feld und kam
dann erst am Mittag wieder zurück, während ich ihn nicht
begleitete, sondern mich an das Klavier setzte, das sich in einem
Winkel eines Gastraums befand. Das Klavier hatte mein damals
bereits verstorbener Großvater einmal gespielt, alle, die mich üben
sahen, sagten mir das und erzählten von ihren Erinnerungen: Wie der
meist gut gelaunte, lebenslustige ältere Mann mit seinem dunklen
Schnauzer am Klavier gesessen und die Gäste unterhalten habe,
stundenlang, ohne die Kenntnis einer einzigen Note.
Zwei oder drei
Stunden übte auch ich jeden Morgen, ohne dass es jemanden störte.
Am Morgen waren noch keine Gäste da, der Morgen war die Zeit der
Vorbereitung der Mahlzeiten und der kleinen Reparaturen und
Instandsetzungen im Haus und draußen, im Garten, zu all diesen
Tätigkeiten passte mein Üben, auch dieses Üben war schließlich
nichts anderes als eine Vorbereitung und ein Training für Größeres.
Und so arbeitete in der Früh die ganze Hofgemeinschaft, und ich
hatte das Gefühl, meinen Teil zu dieser Arbeit beizusteuern. Dabei
wurde ich nicht einfach nur geduldet, sondern wirklich gemocht,
niemand sprach von meinen Problemen, und auch mein Vater machte
keine großen Worte über die schulischen Vorgänge, die uns an diesen
abgelegenen Ort geführt hatten.
Nach dem Üben ging
ich hinab zum Fluss, ich schaute zu, wie die Kähne gesäubert und
frisch gestrichen wurden, oder ich half im Garten, indem ich die
Pflanzen begoss oder das Unkraut von den schmalen Gehwegen harkte.
Im Grunde gab es laufend irgendetwas zu tun, man brauchte keinen
Moment zu überlegen, was genau, die Arbeit ergab sich von allein,
indem man mir dieses oder jenes Gerät in die Hand drückte oder mich
hinter den kleinen Tisch an der Kahnanlegestelle setzte, wo ich die
Kasse verwaltete und den Gästen in einen Kahn half, ihnen die Ruder
nachreichte und die Kähne ins Wasser schob, mit bloßen Füßen, die
Hosen hochgekrempelt bis zu den Knien …
Mein Gott! Die
Erinnerung an diese ersten Tage in meinem Leben, die ich ohne meine
Mutter verbrachte, stimmt mich heute melancholisch. Indem ich von
ihnen erzähle, entstehen vor meinem inneren Auge Bilder von so
großer und nachhaltiger Schönheit, dass sie mir vorkommen wie
Bilder von Claude Monet: Die langen Pappelalleen entlang des
Flusses mit den hellgrün blitzenden und sich im Wind drehenden
Blättern, die Raubvögel hoch oben auf den Baumspitzen entlang der
Straße, die unvermutet hinab aufs Feld stießen und sich dort eine
Maus schnappten, die schweren Gänse, die sich jeden Mittag am Wehr
zeigten und sich später im Schilf versteckten …- endlos könnte ich
in der Aufzählung und Beschreibung solcher Bilder fortfahren, die
in der Erinnerung etwas Weites und Strahlendes haben, ohne jede
Beimischung von Trauer oder Unbehagen.
Natürlich frage ich
mich heute, ob diese Tage wirklich so friedlich und klar, so
beinahe festlich und entspannt, verliefen, aber ich kann trotz
allen Nachdenkens nichts Gegenteiliges finden. Die Trauer, die ich
bei meiner Abreise aus Köln noch so heftig gespürt hatte,
verschwand auf dem Land vor allem dadurch, dass ich unaufhörlich
etwas zu tun hatte. Hinzu kam, dass ich in einer Gemeinschaft
lebte, die selbst dauernd beschäftigt war und all ihr Arbeiten
anscheinend nicht als eine Qual, sondern als eine mit einer
gewissen Hingabe zu absolvierende schöne Pflicht
empfand.
Schon nach wenigen
Tagen verblasste Mutters Bild daher allmählich, es kam immer
seltener in meinen Gedanken vor, und wenn ich an sie dachte, dann
mit einem leichten Erschrecken, als krampfte sich in meinem Innern
etwas zusammen bei der Erinnerung an die dunkle, stille und meist
etwas unheimliche Wohnung in Köln, in der sich jetzt vielleicht die
hellen Frauenstimmen austobten.
Wenn ich aber heute
an diese grünen, leuchtenden Landbilder denke, stellt sich ein
Heimweh ein, wie ich es in Rom beinahe noch nie erlebt habe. Nun
aber, in meiner Erinnerung an diese erste Zeit ohne Mutter, werde
ich davon überwältigt und gerate in eine starke Unruhe, wenn ich
inmitten meiner römischen Wohnung die Bilder meiner
Kindheitslandschaften vor meinem inneren Auge sehe.
Dabei möchte ich gar
nicht zurück in diese Landschaften, nein, das ist es nicht, mein
Heimweh ist keine Nostalgie und auch keine Verklärung all dieser
Tage. Ich sehne mich vielmehr nach einem langen Tisch und nach
Tischgesprächen am Mittag, ich sehne mich nach dem Dahintreiben in
einem Kahn in Begleitung von zwei oder drei anderen Träumern, und
ich sehne mich über alle Maßen danach, Klavier spielen und mit
diesem Spiel die Arbeit anderer Menschen unauffällig aus dem
Hintergrund begleiten zu dürfen.
In einem Anfall von
Hilflosigkeit habe ich in den letzten Tagen sogar manchmal daran
gedacht, bei meinen Nachbarn zu klingeln und der kleinen Marietta
meine Hilfe bei ihren Klavierübungen anzubieten. Als ich ihrer
schwarzhaarigen Mutter im Treppenhaus begegnete, fing ich sofort
an, davon zu sprechen, geriet aber bei der umständlichen Erwähnung
der Tatsache, dass auch ich – angeblich als Kind – einmal Klavier
gespielt habe, völlig durcheinander. Spielen
Sie denn noch heute?, fragte mich Mariettas Mutter, und ich
antwortete: Keineswegs, seit Langem nicht
mehr, und doch … Darauf winkte ich ab und verabschiedete
mich rasch, ich hatte meinen Auftritt nicht richtig vorbereitet,
ich hatte es gründlich vermasselt.
Als wollte ich mich
bestrafen, verließ ich danach das Haus, untersagte mir, bei
Marietta zu klingeln und nahm an der Metro-Station Piramide einen
Zug ans Meer. Etwas über eine halbe Stunde saß ich in einem
hellblauen, von den salzigen Winden der Umgebung gebleichten
Zugwagen und zwang mich, auf Gegenden zu schauen, die mit den
heimatlichen der Kindheit nicht die geringste Ähnlichkeit hatten.
Trockene, ockergelbe Schilflandschaften, kleine, verlassene
Bahnhöfe mit verfallenen Bahnhofsgebäuden, Reparaturwerkstätten mit
herumstreunenden Hunden und Katzen.
Als ich in Ostia
ankam, hatte ich das Gefühl, alle Wehmut hinter mir zu haben, ich
hatte eine andere Seite der Erdkugel erreicht, ich war dem Heimweh
entkommen. Ich ging die paar Schritte bis zum Meer und erreichte
die Ufer-Promenade über eine kleine Treppe. Von dort oben sah man
auf die Weite des gärenden Blaus, das in eine unendliche Ferne zu
rollen schien.
In die Ferne? Nein,
ich hatte mich gründlich getäuscht, denn während ich die kleinen
Wogen beobachtete, wie sie an dem dunkelgrauen Strand ausliefen wie
glitzerndes Zuckerwasser, das auf dem Sand feine weiße Spuren und
Linien zeichnete, kam prompt das Heimweh zurück. Es war sogar so,
als zöge mich dieses unendliche Blau immer tiefer hinein in einen
Erinnerungsstrudel und als provoziere es geradezu die Gegenbilder:
tiefdunkles Grün, die mächtige Andachtsstille der
Wälder.
Ich wandte mich ab
und ging die Uferpromenade entlang, ohne das Meer zu beachten. In
einem kleinen Restaurant wählte ich einen Tisch mit dem Rücken zum
Blau. Erwarten Sie noch jemanden?,
fragte der Kellner, und ich antwortete: Nein,
heute nicht, aber in der nächsten Woche komme ich mit ein paar
Freunden.
Was für einen Unsinn
ich daherredete! Und das alles nur, weil ich meine Wehmut nicht
unter Kontrolle hatte! Ich sehnte mich danach, ein paar einfache
Aufgaben in einer kleinen Gemeinschaft zu haben, die mit sich
zufrieden war und keine großen, unerreichbaren Ansprüche stellte,
und ich sehnte mich danach, endlich nicht mehr allein durch Rom und
seine Straßen zu gehen.
In jenen ersten
Tagen, die ich mit dem Vater auf dem Land verbracht hatte, hatte
ich das zufriedene und arbeitsame Leben von Menschen kennengelernt,
die dreimal am Tag an einem langen Tisch zusammenkamen, um all das
zu genießen, was sie angebaut, geerntet und mit eigenen Händen
hergestellt hatten. Die Erinnerung an dieses ruhige Dasein und all
die weiten Bilder, die es begleiteten, waren so stark, dass
anscheinend nicht einmal Rom und seine Umgebung dagegen
ankamen.
Das war allerhand,
damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war nach Rom gefahren, um
meine Erinnerungen auf Distanz zu halten und ihrem gefährlichen Sog
durch ein Leben in der Fremde zu entgehen, jetzt aber stellte ich
fest, dass diese Erinnerungen mich gefangen hielten und
Unterwerfung verlangten.
Wie hatte ich denn
in all der Zeit gelebt, in der ich den ersten Teil dieses Buches
geschrieben und von meinem stummen Dasein erzählt hatte? Ich hatte
mich in einer römischen Wohnung vergraben, zu niemandem richtig
Kontakt aufgenommen, einzelgängerische weite Spaziergänge gemacht
und letztlich an nichts anderes gedacht als an die bedrohlichen
Szenerien meiner Kindheit. Innerlich und äußerlich war ich
erstarrt, wie ein Mensch, der wochenlang unter einem Schock
steht.
Jetzt aber, als ich
mich daranmachte, von meinem zweiten Leben zu erzählen und von der
Gemeinschaft mit den Verwandten auf dem Land, der Arbeit dort und
der Nähe zur Natur, wurde dieses erstarrte Dasein mir unheimlich
und fremd. Verblüfft beobachtete ich, dass ich mich nach Menschen,
gemeinsamen Spaziergängen und Musik sehnte.
Diese Sehnsucht war
also der geheime Grund meines Heimwehs und meiner Wehmut, das
begriff ich, als ich am Meer von Ostia in einem Restaurant saß und
kleine, geschmorte Tintenfische bestellte. Warum koche ich nicht
selbst einmal an dem neuen Herd in meiner Wohnung und lade ein paar
Bekannte oder Nachbarn zum Essen ein?, dachte ich auf einmal und
bestellte ein besonders gutes Glas Wein, wobei ich den Kellner bat,
sich selbst ebenfalls ein Glas davon einzuschenken.
Mit einem Menschen
anstoßen! Ein paar Worte mit ihm wechseln! Ihn fragen, ob er etwa
hier am Meer aufgewachsen sei, nahe diesem Blau, das einem das Herz
so angenehm weite! Ja, er war hier aufgewachsen, ja, er hatte seine
Kindheit am Meer verbracht! Ich lud ihn ein, sich neben mich zu
setzen, das Restaurant war zum Glück beinahe leer, so dass es an
diesem gewöhnlichen Wochentag nichts zu tun gab.
Am Nachmittag fuhr
ich dann zurück und kaufte auf dem Markt von Testaccio noch etwas
ein. Ich schleppte alles hinauf in meine Wohnung und füllte den
Eisschrank. Ich wollte nicht mehr so weiterleben wie bisher, ich
wollte zurück zu dem geselligen und freundschaftlichen Leben, das
ich in Rom schon einmal als Jugendlicher geführt
hatte.
Die Grundlagen für
ein solches Leben hatte ich, so seltsam mir das auch heute vorkam,
in den ersten Tagen mit Vater auf dem Land gelegt. Diese Tage
hatten mich aus meiner jahrelangen Einsamkeit und Isolation
herausgerissen und mich zu einem Menschen gemacht, der mit anderen
zusammenarbeitete und sein Klavierspiel nicht nur, um sich selber
daran zu erfreuen, sondern auch als Unterhaltung für die anderen
betrieb.
So gesehen, hatte
das Leben auf einem abgelegenen Westerwälder Hof mein späteres
römisches Leben als junger Mann vorbereitet. Doch ich hole zu weit
aus, ich muss zurück zu den frühen Tagen, als ich das alles
natürlich noch längst nicht ahnte …