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ICH HABE meine
Mutter erst sehr viel später wieder richtig spielen hören, zunächst
aber wurde sie meine erste Klavierlehrerin. Man muss sich das
vorstellen: Mutter und Sohn sitzen vor einem Klavier und
erforschen, ohne miteinander sprechen zu können, gemeinsam das
Instrument.
Es begann damit,
dass der Deckel des dunkelbraunen Gehäuses aufgeklappt wurde. Von
oben war die gesamte Mechanik zu sehen: die weißen Filzhämmer, die
straff gespannten Saiten. Man konnte an ihnen zupfen oder die
Filzhämmer auf die Saiten prallen lassen, man konnte mit allen fünf
Fingern an ihnen entlangstreichen und ein rauschendes Glissando
erzeugen, man konnte aber auch mit beiden Händen wild in die Saiten
greifen, um einige ekstatisch wirkende Tonfolgen zu erfinden. Das
Innere des Klaviers ähnelte einem kleinen Orchester, das toben und
rauschen und in dem man mit immer heißer werdenden Fingern eine
freie Komposition spielen konnte.
Viel schwieriger
waren dagegen die Fingerübungen, mit denen wir auch sofort
begannen. In den ersten Unterrichts-Monaten lernte ich keine Noten,
sondern spielte immer wieder die kurzen Phrasen und Melodien nach,
die Mutter mir vorspielte. Zunächst waren es kleine Motive für die
rechte, dann Bassübungen für die linke Hand, nach etwa einem Monat
spielte ich mit beiden Händen zugleich.
Ich begriff sofort,
dass es darum ging, sich die Motive und Phrasen gut einzuprägen und
sie dann wieder und wieder zu spielen, zuerst im Zeitlupentempo,
allmählich dann immer schneller, jedoch immer so, dass man die
Bewegung der Finger noch kontrollieren konnte. Schluderte ich und
spielte zu schnell, zog Mutter meine Hände abrupt von der Tastatur
zurück und spielte die jeweilige Passage noch einmal in langsamem
Tempo.
Es war ein hartes,
große Geduld erforderndes Training, ja es war eine Art Sport, der
darauf zielte, jeden einzelnen Finger zu kräftigen und ihm zu immer
schnellerer und leichterer Bewegung zu verhelfen. Mit der Zeit
hörte ich mit diesem Training auch in den Stunden abseits vom
Klavier nicht mehr auf. Ich ertappte mich dabei, dass ich während
des Zeitschriften-Blätterns die Finger bewegte, ja ich trommelte
manchmal sogar während des Essens mit den Fingern rasch auf der
Stelle, als wäre ich ununterbrochen im Einsatz.
Erst später begriff
ich, dass Mutter ihrem Unterricht die Fingerübungen von Czerny zugrunde gelegt hatte. Aus
diesem Lehrbuch stellte sie ein kleines Übungsprogramm zusammen,
ohne sich an die von Czerny empfohlene Reihenfolge zu halten. Ich
kann mich jedoch nicht erinnern, diese Noten in den ersten Monaten
des Unterrichts jemals gesehen zu haben, nein, es gab keine Noten,
Mutter hielt sie vor mir verborgen, erst Jahre später entdeckte ich
sie mit vielen Anstreichungen und eigens von Mutter
zusammengestellten Listen.
Neben dem Üben der
kleinen Stücke war meine größte Freude aber das freie Spiel. Das
freie Spiel fand nach den Übungseinheiten statt und bot mir die
Möglichkeit, etwas Neues auszuprobieren. Ich konnte eigene, kleine
Melodien erfinden und mir meine eigenen Stücke basteln, ich konnte
tun und lassen, was ich wollte, niemand redete mir drein, auch
Mutter nicht, die sich zurückzog, wenn ich mit diesem Improvisieren
begann.
Oft nahm ich mir
dafür mehr Zeit als für das eigentliche Üben, und ich glaube noch
heute, dass eine tief sitzende Infektion durch Musik weniger durch
manisches Üben als durch Improvisieren geschieht. Das Improvisieren
machte mich ohne Befehle und Regeln mit dem Klavier vertraut und
sorgte für einen starken, emotionalen Kontakt. Meist verlief es wie
ein Gespräch mit dem Instrument, und in besonderen Momenten
kombinierte ich das Spiel auf den Tasten sogar mit den Griffen ins
Innere des Instruments. Ich spielte dann stehend, mit der linken
Hand in der Tiefe des Kastens, mit der rechten auf der
Tastatur.
Jahrzehnte später
habe ich einmal ein Konzert mit Keith Jarrett erlebt, der seinen
Auftritt ebenfalls im Stehen begann, eine Hand zupfte an den Saiten
des Flügels, die andere begleitete auf der Tastatur. Ich schloss
die Augen und glaubte plötzlich, das kleine Kind, das ich einmal
war, spielen zu hören. Ich weiß noch, wie mir ganz heiß wurde, es
war ein heftiger emotionaler Schub, der mich plötzlich wieder in
die Kindheit versetzte. Einen Moment lang hatte ich sogar Angst,
wieder die Sprache zu verlieren. Ich musste aufstehen und das
Konzert sofort verlassen, ich floh geradezu auf und davon, obwohl
ich mich monatelang auf nichts so sehr gefreut hatte wie auf dieses
Konzert.
Erst heute ist mir
klar, wie ideal das Klavierüben damals für mich war. Es bedeutete
das Ende der langweiligen, vertrödelten Stunden auf dem
Kinderspielplatz und den Anfang eines straffen Übungs-Programms,
dessen Erfolge deutlich zu erkennen waren. Zwei Stunden am
Vormittag und zwei am Nachmittag – das war keine Qual, sondern es
war die wichtigste und schönste Zeit des Tages für
mich.
Hinzu kam, dass ich
sehen und erleben konnte, wie sehr die Eltern sich über meine
Leistungen freuten. Manchmal war Mutter von ihnen sogar so
begeistert, dass sie während meiner Improvisationen aus einem
anderen Raum der Wohnung in das Esszimmer kam, eine Weile zuhörte
und irgendwann zu klatschen begann. Mutter klatschte! Mutter
lächelte! Hatte ich bisher jemals erlebt, dass sie sich so über
mich freute und dass sie so einverstanden mit dem war, was ich
tat?
Ich war nicht länger
ein kleines, wenig beachtetes Etwas, nein, ich war nun ein
Klavierspieler, der das fehlende Sprechen durch das Klavierspiel
ersetzte und sich mit Hilfe dieses Spiels auszudrücken versuchte.
So rückte das Musizieren an die Stelle des bisherigen
Sprachunterrichts, das aber hatte Konsequenzen vor allem für eine
Person, mit der ich mich bis dahin nicht hatte anfreunden
können.
Es handelte sich
dabei um die Sprachlehrerin, die einmal in der Woche erschien. Wenn
sie klingelte, gingen Mutter und ich keineswegs sofort zur Tür,
sondern taten erst so, als hätten wir das Klingeln nicht gehört.
Wenn die fremde Person dann aber wahrhaftig in der Tür stand,
würdigte ich sie nur eines kurzen Blicks und zog mich dann sofort,
ohne ihr die Hand zu geben oder sie auf eine andere Art zu grüßen,
in das Wohnzimmer zurück.
Ich setzte mich auf
den Sessel schräg vor das Fenster und wartete, bis sie hereinkam,
sie musste den ganzen Weg durch das Wohnzimmer zurücklegen, ohne
dass ich ihr entgegengekommen wäre. Vor meinem Sessel machte sie
halt und schaute mich lächelnd an, ich ahnte bereits, dass sie als
Erstes Heute habe ich Dir etwas besonders
Schönes mitgebracht sagen und dann irgendeinen Gegenstand
aus ihrer Tasche ziehen würde. Zunächst aber ging sie tief in die
Hocke und blickte mich ein wenig von unten her an, manchmal konnte
ich riechen, was sie am Abend zuvor alles gekocht und gegessen
hatte, dann roch sie nach Zwiebeln oder Gemüse oder sogar nach
Fisch.
Die Gegenstände, die
sie anschleppte, waren meist Spielsachen, die sie in einem
Kindergarten aufgegabelt hatte, das habe ich
aus dem lustigen Kindergarten mitgebracht, von dem ich Dir schon so
viel erzählt habe, sagte sie oft. Ich wusste aber genau,
dass sie immer wieder vom Kindergarten sprach, weil sie alles
darauf anlegte, mich in den Kindergarten zu bringen, jedes Mal
sprach sie davon und von den anderen lieben Kindern, die es dort
gebe, und davon, welchen Spaß es allen mache, in diesem
Kindergarten miteinander zu spielen.
Sie fragte mich aber
nie ganz direkt, ob ich einmal mitkommen wolle, sondern nahm meist
den kleinen Teddy, den sie aus dem Kindergarten mitgebracht hatte,
in die Hand, um mit ihm zu besprechen, was im Kindergarten so alles
los war. Dabei redete sie mit zwei Stimmen, mit der Stimme des
Teddys und mit ihrer eigenen, wie gefällt es
Dir denn so im Kindergarten, lieber Teddy?, begann sie, und
dann redete der Teddy so, wie die anderen Kinder auf dem
Kinderspielplatz redeten, genau so albern und aufdringlich, bis es
mir einfach zu bunt wurde, und ich mich von meinem Sessel
herabgleiten ließ, um mich in eine andere Ecke des Zimmers zu
setzen.
Nun waren wir wieder
weit voneinander entfernt, und die Sprachlehrerin musste mir in die
andere Ecke des Zimmers folgen, das aber tat sie zunächst
keineswegs, sie setzte sich vielmehr selbst auf den großen Sessel
und schaute eine Zeit lang aus dem Fenster, als warte sie auf eine
Person, die gleich kommen werde. Statt dieser Person betrat aber
meist Mutter das Zimmer, sie brachte der Sprachlehrerin etwas zu
trinken und stellte das Getränk auf das runde Samttischchen, wo es
dann meistens herumstand, ohne dass die Sprachlehrerin mehr als
einmal an ihm genippt hätte.
Wenn die Mutter das
Zimmer dann wieder verließ, ging ich hinter ihr her, so dass die
Sprachlehrerin eine Weile allein im Wohnzimmer blieb. Ich zählte
dann oft die Sekunden, die sie dort verbrachte, einmal waren es
über hundert gewesen, über hundert Sekunden hatte die
Sprachlehrerin also allein am Fenster des Wohnzimmers gesessen und
nichts anderes getan als hinauszustarren und an einer Tasse Tee zu
nippen. Kam sie dann endlich doch, um nach mir zu schauen, folgte
ich ihr sehr langsam wieder ins Wohnzimmer und setzte mich genau
dahin, wo ich zuletzt gehockt hatte.
Diesmal setzte sie
sich wieder zu mir, hatte aber erneut den kleinen Teddy dabei und
begann, in der Teddysprache zu reden, der Teddy sprach also von mir
und erzählte, dass er mein guter Freund
sei und mit mir spielen wolle, er brauchte so etwas aber nur einmal
zu sagen, schon packte ich ihn und brachte ihn hinüber zu dem
Sessel vor das Fenster, um ihn dorthin abzuschieben und ein- für
allemal mundtot zu machen.
Die Sprachlehrerin
wartete dann meist, bis ich wieder zurückkam, ihr erster Anlauf,
sich mit mir zu beschäftigen, war gescheitert, und ich schaute zu,
wie sie den zweiten startete, indem sie ein Buch aus ihrer Tasche
nahm, es vor mir ausbreitete und daraus vorzulesen
begann.
Gegen das Vorlesen
war nichts zu sagen, denn beim Vorlesen gab es keine zweite Stimme
und keinen dämlichen Teddy, also blieb ich still sitzen und hörte
mir alles an. Die Sprachlehrerin las jedoch nicht sehr gut, vor
allem störte mich, dass ihre Stimme immer leiser und leiser wurde,
außerdem las sie lustlos, weil die Geschichten, die sie vorlas, sie
anscheinend nicht im geringsten interessierten.
Wenn sie schließlich
nur noch schwach vor sich hin las und dazu immer häufiger stecken
blieb, verließ ich meinen Zuhörersitz und ging zurück zum Sessel,
um den Teddy beiseite zu legen und wieder dort Platz zu nehmen,
auch der zweite Anlauf der Sprachlehrerin, mit mir in Kontakt zu
kommen, war also danebengegangen.
Es kam vor, dass sie
danach aufgab, sie seufzte ein wenig oder fuhr sich durchs Haar
oder begann in ihrer Tasche zu kramen, als bemerkte sie mich nicht
mehr oder als wäre ich für sie gar nicht vorhanden. Warum blieb sie
auch nicht da, wo sie herkam, wenn sie so wenig Interesse an mir
hatte? Irgendjemand hatte ihr aufgetragen, mich wöchentlich zu
besuchen, das wusste ich doch. Sie besuchte mich nicht, weil sie
mich kennenlernen und wirklich etwas mit mir anfangen wollte,
sondern ausschließlich deshalb, weil diese Besuche zu ihren
Pflichten gehörten.
Wenn wir wieder weit
voneinander entfernt saßen und niemand von uns beiden sich rührte,
wurde es mir nach einer Weile zu viel. Manchmal holte ich mir dann
ein paar Spielsachen und verteilte sie auf dem Boden, um so zu tun,
als wollte ich mich mit ihnen beschäftigen. Oder ich verließ das
Zimmer und baute auf dem Küchentisch ein kleines Spiel auf, um es
dann später mit der Sprachlehrerin und der Mutter gemeinsam zu
spielen.
Ein solches Spielen
zu dritt gefiel mir am meisten, denn in so einem Fall hatte die
Sprachlehrerin wenigstens etwas zu tun und spielte wirklich mit mir
und ich auch mit ihr. War die Mutter dabei, war alles einfacher,
die Sprachlehrerin hätte also nur von vornherein dafür sorgen
müssen, die Mutter häufiger mitspielen zu lassen, dann hätten wir
uns vielleicht jeden Ärger erspart.
Gerade die
Beteiligung der Mutter war jedoch für die Sprachlehrerin nur der
letzte Ausweg. Sie kam dann nur sehr widerwillig und zögernd in die
Küche und machte ab und zu auch eine böse Bemerkung: Na gut, tun wir dem Dickkopf halt den Gefallen. So
einen Satz sagte sie irgendwohin in die Runde, nicht zu mir, nicht
zur Mutter, es war, als spräche sie mit sich selbst und hielte
Mutter und mich für dumme Esel, denen man dann und wann einen
kleinen Gefallen tun müsse, damit sie nicht völlig
verdummten.
Nach solch bösen
Bemerkungen holte ich das Spiel Mensch ärgere
Dich nicht hervor und baute es auf dem Küchentisch auf. Bei
Mensch ärgere Dich nicht gewann die
Sprachlehrerin nie, denn ich verbündete mich immer mit Mutter, und
Mutter wiederum verbündete sich mit mir. Standen Mutters Figuren
sehr gut, ließ ich ihr beim Gewinnen den Vortritt und räumte die
Figuren der Sprachlehrerin ab, und umgekehrt war es meist
genauso.
Dann konnte ich
sehen, wie sich die Sprachlehrerin erst so richtig ärgerte, sie
stand auf, verließ die Küche und ging auf die Toilette, als müsste
sie sich beruhigen oder als hätte man sie beleidigt. Meist war das
der Moment, in dem alle Anläufe der Sprachlehrerin gut sichtbar ins
Leere gelaufen waren. Sie ging dann wie eine Verliererin in das
Wohnzimmer zurück und setzte sich beleidigt irgendwo hin, und ich
ging dann auch ins Wohnzimmer und spielte allein mit meinen
Spielsachen auf dem Boden, auf den sie sich niemals gesetzt
hätte.
So blieben wir noch
eine Weile jeder für sich an seinem Platz, ich spielte für mich,
und die Sprachlehrerin ordnete ihre paar Sachen und schaute
wichtigtuerisch in ihren Kalender oder fummelte an ihren Haaren
herum. Nach einigen zähen Minuten war dann die lange Stunde vorbei,
und die Sprachlehrerin verschwand wieder im
Treppenhaus.
Kaum war sie
verschwunden, ging Mutter ins Wohnzimmer und öffnete das große
Fenster, danach aber ging sie auch noch in die Küche und riss auch
dort das Fenster weit auf. Alles, was zur Sprachlehrerin gehörte
und noch an sie erinnerte, flog hinaus, so dass wir durchatmen und
uns wieder beruhigen konnten. Mutter kochte sich einen Tee und
setzte sich wieder mit einem Buch in den Sessel schräg vor dem
Fenster, und ich beschäftigte mich ebenfalls wieder allein, nachdem
die lästigen Annäherungsversuche der fremden Person endlich vorbei
waren.
So waren die Stunden
immer verlaufen, bis ich das Klavierspiel entdeckte. Seit ich
täglich am Klavier saß, war die Sprachlehrerin nur noch lästig. Ich
schleppte keine Spielsachen mehr an, um anstandshalber damit zu
spielen, ich hörte nicht mehr zu, wenn sie lustlos aus
Kinderbüchern vorlas, und ich baute auch keine Gesellschaftsspiele
wie Mensch ärgere Dich nicht mehr auf,
um wenigstens irgendetwas mit ihr gemeinsam zu machen.
Stattdessen ließ ich
sie abblitzen. Ich musterte sie kurz, drehte mich um und verließ
das Zimmer, in dem sie ihren Teddy auspacken wollte. Im Esszimmer
setzte ich mich an das Klavier und übte. Die Zeit mit der
Sprachlehrerin war verlorene Zeit, ich konnte auf sie verzichten –
das wollte ich beweisen und offen zeigen, dass ich zu keinerlei
Kompromissen bereit war. Nicht einmal die Rolle des kleinen Ekels,
die ich im Umgang mit der Sprachlehrerin schließlich so gut
beherrscht hatte, reizte mich noch. Ich war über diese Kindereien
hinweg, für mich hatte ein anderes Leben begonnen, ein Leben mit
der Musik.
Einige Wochen,
nachdem das Klavier im Haus war, gab die Sprachlehrerin auf, und
ich habe sie nie wieder gesehen.