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MEINE ERSTE Unterrichtsstunde für Marietta war kein großer Erfolg. Sie hat mir etwas vorgespielt, und ich habe dieses Spiel unterbrochen; dann habe ich wiederum ihr etwas vorgespielt, und sie hat das alles mit einem freundlichen Lächeln ertragen. Am Ende waren wir beide etwas ratlos: Wie sollte es weitergehen?
 
Nun hatte ich ja lediglich versprochen, sie in einer Übergangsphase zu unterrichten, und mir dabei von vornherein ausgemalt, dass diese Übergangsphase nicht von allzu langer Dauer sein werde. Ich hatte aber auch versprochen, mich um einen guten Klavierlehrer zu kümmern, obwohl ich augenblicklich keine große Lust und nicht den richtigen Antrieb für diese aufwendige Suche habe.
Am einfachsten wäre es gewesen, in das Conservatorio zu gehen, dort hätte ich rasch die Adresse eines jungen Studenten bekommen, der sich gern mit Klavierunterricht etwas Geld dazuverdient hätte. Ich wollte und konnte das Conservatorio aber aus gewissen Gründen jetzt noch nicht aufsuchen, ja ich hatte sogar das dumpfe Gefühl, als wäre mir der Zugang zu diesem Gebäude versperrt. Ich möchte auf diese auf den ersten Blick kindliche Hemmung jetzt nicht näher eingehen, zu einem späteren Zeitpunkt meiner Erzählung wird wohl deutlich werden, worin die ernst zu nehmenden Ursachen dieser Hemmung bestanden.
Marietta und ihrer Mutter gegenüber befand ich mich jedenfalls in einer Klemme: Ich sollte das Mädchen unterrichten und wusste doch nicht, wie ich das tun sollte. Mich einmal in der Woche neben sie ans Klavier zu setzen, Fingersätze zu korrigieren und sonst alles beim Alten zu lassen, kam nicht in Frage. Gespräche über Lieblingskomponisten und die Schönheiten bestimmter Stellen in einem Stück zu führen, war jedoch auch nicht das Richtige.
Eine Idee wäre es gewesen, Marietta mit den Grundlagen der Harmonielehre vertraut zu machen, doch wollte nicht ausgerechnet ich es sein, der ihr solche Leistungen abverlangte und sie mit Musiktheorie quälte. Und, um ehrlich zu sein: Ich konnte mir nicht vorstellen, wie gerade dieses lebenslustige und offene Mädchen den Vorschlag aufnehmen würde, zu einem vorgegebenen Generalbass die passenden Akkorde zu suchen.
Marietta hätte mich bestimmt angeschaut, als verlangte ich von ihr etwas ganz und gar Überflüssiges, ja sogar Sinnloses. Und vielleicht hätte sie damit sogar recht gehabt, vielleicht war es wirklich überflüssig und sinnlos, ein Mädchen wie Marietta mit Harmonielehre vertraut zu machen. Obwohl die Kenntnis von Harmonielehre den Hörgenuss erheblich steigert! Obwohl die Harmonielehre viele Raffinessen und Schönheiten für einen wirklich passionierten Klavierspieler bereithält! Und obwohl die Harmonielehre mir selbst gerade in Mariettas Alter viel Freude gemacht hat!
 
Schluss damit! Ich war von meiner Ausbildung und meinen Neigungen her weder ein Klavier- noch ein Harmonielehre-Lehrer, das konnte ich immerhin zu meiner Ehrenrettung sagen. Was aber dann? Wie sollte ich Marietta unterrichten?
 
Die Fragen, die ich hier stelle, sind inzwischen rein rhetorischer Natur, denn ich habe nun wahrhaftig einige Einfälle zu diesem Thema gehabt, auf die ich geradezu stolz bin. Diese Einfälle ergaben sich dadurch, dass ich Unterrichtsstunden neben Marietta am Klavier vorerst kategorisch ausschloss. Wo und wie aber konnte ich sie denn sonst unterrichten? Ganz einfach: In der Stadt, während langer Spaziergänge, die wir gemeinsam unternehmen würden, um Rom ganz nebenbei als ein einziges großes Musikangebot kennenzulernen!
 
Die Idee war nicht neu, ich erinnere nur daran, dass ich selbst ja längst mit derartigen Spaziergängen begonnen hatte. Neu war nur, dass ich solche Spaziergänge nicht mehr allein unternahm, sondern von nun an zusammen mit Marietta unterwegs war.
Marietta, sagte ich also, lass uns Musik sammeln, und zwar überall, wo wir ihr begegnen! Und dann zogen wir los, nahmen ein Notenheft mit, lauschten und hörten uns um, und ich notierte, was wir gerade hörten und was Marietta gefiel. Die Melodie eines Schlagers, der Rhythmus eines Schlagzeugs, das Summen eines Walzers, der Klingklang von Glocken … – all das sammelte ich und skizzierte es in unserem Heft, und dann notierten wir dazu, wo und wann wir den jeweiligen Musikfetzen gehört hatten.
Damit aber nicht genug, sondern noch viel mehr! Ich fragte Marietta, welche Stücke sie in den letzten Jahren gespielt hatte. Das Ergebnis war ebenso trostlos wie jämmerlich: Anscheinend hatte ihr Klavierunterricht ausschließlich aus Stücken klassischer Musik bestanden! Warum aber das? Natürlich war nichts dagegen einzuwenden, solche Musik zu üben, natürlich nicht, wohl aber war es sehr einfallslos, ja geradezu sträflich dumm, einem zwölfjährigen Mädchen ausschließlich solche Musik vorzusetzen. Längst musste es den Eindruck haben, das Klavier sei lediglich erfunden worden, um darauf Bach, Händel und Mozart zu spielen. Was für ein Unsinn! Und wer hatte sich so ein traniges Übungsprogramm ausgedacht?!
 
Ich kam darauf lieber nicht zu sprechen, fragte aber doch nach, ob Marietta schon einmal Jazz gehört habe. Nein, hatte sie nicht. Und andere als westeuropäische Musik, Musik aus Cuba, der Karibik oder Indien? Nein, auch an solche Musik konnte sie sich nicht erinnern. Ihre Vorstellung von Musik hatte also bisher beinahe vollständig darin bestanden, sich auf der Empore der Leipziger Thomaskirche oder in einigen klassizistischen Wohnungen der Wiener Innenstadt ein unauffälliges Sitz-Plätzchen in längst vergangenen Jahrhunderten zu verschaffen. Wir lebten inzwischen im einundzwanzigsten Jahrhundert, wenigstens das bisschen Pop-Musik, das Marietta hörte, kam aus unserer Gegenwart, mit den Stücken ihres bisherigen Klavierunterrichts jedoch hinkte sie mehr als zweihundert Jahre hinter der Entwicklung her.
Es genügte also nicht, nur mit ihr spazieren zu gehen, um hier und da eher zufällig etwas Musik aufzuschnappen, ich musste noch viel mehr tun. Und so beschaffte ich mir ein monatlich erscheinendes Veranstaltungsprogramm der Stadt Rom und suchte zusammen mit Marietta Konzerte vor allem jener Musikrichtungen und Stile heraus, die sie noch nicht kannte. Argentinischer Tango, portugiesischer Fado, äthiopischer Soul, aber auch sizilianische Trauermärsche, lateinamerikanische Revolutionslieder oder russische Mönchsgesänge – wir hörten uns das alles dann wirklich an, wobei für mich selbst von großer Bedeutung war, dass wir solche Musik auch wirklich live hörten.
Das alles wurde mit guter Klassik gemischt, mit Konzerten in den römischen Ruinen spätabends, mit Auftritten junger Pianisten in den Kellern des Viertels Trastevere oder mit Opern-Aufführungen in den Thermen an den Wochenenden, wenn wir es uns leisten konnten, bis weit nach Mitternacht draußen im Freien Musik von Verdi oder Puccini zu hören.
 
Meist ganz nebenbei erkundigte ich mich danach, was Marietta von all diesen Darbietungen besonders gefiel. Hatten wir etwas gefunden, suchte ich nach den entsprechenden Noten oder komponierte selbst ein kurzes Stück in der jeweiligen Musikrichtung für das Klavier. Der Unterricht wirkte dadurch locker und wie improvisiert, und doch lagen diesem Programm die vielen kleinen Skizzen und Aufzeichnungen zugrunde, die ich oft noch während der Konzerte notierte. Es waren meist nur ein paar Noten, ich konnte mich auf mein absolutes Gehör und mein Gedächtnis verlassen, und doch brauchte es einige Kenntnis und Erfahrung, um aus diesen Andeutungen kleine Stücke oder Songs zu machen.
 
Nach kurzer Zeit fand auch Antonia an diesem Programm ein derartiges Gefallen, dass wir uns abends schließlich immer häufiger zu dritt auf den Weg in das Zentrum machten. Antonia lenkten solche Abendunternehmungen von ihren Ehe-Problemen ab, und in Gegenwart ihres Kindes kam sie erst gar nicht auf den Gedanken, lange über ihren Mann zu sprechen. Überrascht stellte ich fest, dass sie auch ohne die Fixierung auf solche Themen existieren konnte und dass sie mit der Zeit in mir nicht mehr nur den Adressaten für ihre rasch wechselnden psychischen Stimmungen sah.
 
Ab und zu setzten wir uns in der tiefen Nacht, wenn Antonia ihre Tochter bereits ins Bett gebracht hatte, noch einmal für einen letzten nächtlichen Drink auf den großen Platz vor unserem Wohnhaus. Meist waren wir sehr müde und von der Musik, die wir zuvor gehört hatten, noch immer betäubt. Gerade in solchen Momenten aber gelangen uns die besten Unterhaltungen. Sie fielen uns beiden erstaunlich leicht, dabei wurden doch nur sehr knappe Sätze gewechselt, als wäre uns längst die Luft ausgegangen.
 
Vorgestern zum Beispiel, es war schon nach eins, sagte Antonia plötzlich sehr müde, tonlos und langsam, als wollte sie sich nicht mehr richtig anstrengen: Ich hatte seit anderthalb Jahren keinen Sex! Ich antwortete nicht, ich ließ diesen Satz einfach so stehen. Jeder Satz, den ich darauf geantwortet hätte, wäre nachts um eins wahrscheinlich ein großer Blödsinn gewesen.
Nach einer längeren Pause aber schob sie dann noch eine Frage nach, und in meinen Ohren hörte sie sich merkwürdigerweise an wie ein kurzer, lässiger Griff einer Hand in die Saiten eines Cellos: Und Sie, Johannes, wann hatten Sie das letzte Mal Sex? Ich antwortete wieder nicht, sondern schaute nur kurz auf die Uhr. Dann trank ich langsam mein Glas aus und sagte: Liebe Antonia, die ganz großen Themen besprechen wir morgen, einverstanden? Antonia war einverstanden, sie nickte, und wir ließen es in dieser Nacht dabei bewenden.
 
Seither bekomme ich diesen Dialog nicht mehr aus dem Kopf. Er lässt mich aber nicht nur wegen seines Themas nicht los, nein, er irritiert mich vor allem auch deshalb, weil die Frage, wann ich das letzte Mal Sex hatte, die erste Frage nach meinem Privatleben war, die Antonia mir überhaupt stellte. Sicher, sie hatte mich, seit wir uns kannten, auch einiges halbwegs Private gefragt, diese Fragen hatten eine gewisse Grenze jedoch nie überschritten. Selbst wie es mir ging oder wie ich mich fühlte oder ob ich zufrieden, glücklich, melancholisch oder euphorisch war, hatte Antonia mich niemals gefragt, während ich selbst sie doch so etwas beinahe täglich gefragt hatte und wir dann gemeinsam ihrem jeweiligen Gefühlszustand auf den Grund gegangen waren.
 
Jetzt, wo mir unser kurzer tiefnächtlicher Dialog wieder durch den Kopf geht, fällt mir aber erneut auf, dass es mir mit vielen Menschen so ergeht. Kaum jemand fragt mich etwas sehr Privates oder gar Intimes, während ich mit meinen Gesprächspartnern rasch in die Untiefen ihrer Psyche gerate. Warum aber fragt mich kaum jemand? Warum nicht?!
 
Wenn ich es genauer bedenke, haben mich auch meine Eltern fast niemals etwas sehr Privates gefragt. Meine Mutter fragte danach grundsätzlich nicht, und mein Vater fragte mich dann und wann derart allgemein und vorsichtig, dass ich eine solche Frage meist nur noch abnicken und damit erledigen konnte. Geht es Dir gut? Aber ja doch, mir ging es gut. Kommst Du gut voran? Aber sicher, ich kam gut voran. Hast Du Freunde im Internat gefunden? Jawohl, es gab ein paar Jungs, mit denen ich häufiger zusammen war als mit anderen Jungs. Macht Dir das Leben im Internat Spaß? Ja, ich war mit dem Leben im Internat sehr zufrieden.
 
Zu Hause also merkte man mir überhaupt nicht an, was im Internat vor sich ging. Ich sprach von den Stücken, die ich auf der Orgel übte, und meine Eltern waren derart stolz auf mein Können, dass sie dem Pfarrer unserer Pfarrei auf dem Land vorschlugen, mich einmal auf der Orgel der Dorfkirche spielen zu lassen. Wollte ich das? Machte das auch mir Spaß? Ja, es machte mir Spaß, wenn niemand außer meinen Eltern und dem Herrn Pfarrer zuhörte.
 
Beinahe beflissen und übereifrig war ich dabei, alle eventuellen Bedenken der Eltern beiseite zu fegen. Nein, die zeitweilige Trennung von ihnen machte mir nichts aus, ich kam inzwischen damit zurecht. Nein, die anderen Jungs gingen mit mir nicht ungerecht, sondern freundlich und aufmerksam um. Manchmal hörten sich unsere Unterhaltungen so an, als hätte ich die Antwort schon vor der Frage parat, und wahrhaftig war es ja so, ich hatte mir die Antworten auf die Fragen der Eltern längst überlegt, ich war bestens auf sie vorbereitet.
Um richtige, ernsthafte, sich Zeit lassende Fragen handelte es sich, wie gesagt, sowieso nicht. Die Fragen, die meine Eltern stellten, waren vielmehr Pflichtfragen. Mit diesem Begriff hatten wir Schüler all die Fragen getauft, die wir während unserer Aufenthalte zu Hause über uns ergehen lassen mussten. Pflichtfragen brachte man hinter sich, sie hatten nichts zu bedeuten, Pflichtfragen mussten gestellt werden, um den schönen Schein des elterlichen Interesses an der Zukunft des Kindes zu erhalten.
 
Waren aber meine Eltern an dieser Zukunft wirklich noch so interessiert, wie sie es in meinen Kinderjahren doch einmal gewesen waren? Wenn ich jetzt manchmal für ein paar Tage nach Hause kam, hatte ich den Eindruck, dass ihr Interesse nachgelassen hatte und sie mit ihren eigenen Sorgen und Problemen beschäftigt waren. Diese Sorgen kreisten nach ihrem Umzug um Vaters neue Existenz und Mutters Arbeit in der Bibliothek. Mich wunderte, wie leicht es ihnen anscheinend gefallen war, Köln zu verlassen und unsere gemeinsame, von mir sehr geliebte Wohnung aufzugeben. Gelegentlich schien es so, als wären sie sogar erleichtert, sich von Köln getrennt zu haben, dabei hatten wir in dieser Stadt doch so viel erlebt, von dem man sich gar nicht trennen konnte.
Ich selbst jedenfalls glaubte, von Köln niemals Abschied nehmen zu können, wusste aber nicht, wie ich die Verbindung zu der einzigen Stadt, in der ich mich vollkommen zu Hause fühlte, hätte aufrechterhalten können. Meine Eltern waren mit Sack und Pack, wie Vater das nannte, aus ihr verschwunden, so dass ich irgendwann einmal allein auf dem großen, ovalen Platz stehen und zu den Fenstern jener Wohnung hinaufstarren würde, in der ich meine Kindheit verbracht hatte. Schon bei diesem Gedanken wurde mir beinahe übel, ich durfte daran nicht denken, nein, ich durfte mich auf solche Phantasien keineswegs einlassen.
Schließlich konnte man das Ganze aber auch noch von der Seite meiner Eltern her betrachten: Meine Eltern nämlich freuten sich, endlich wieder in ihrer Heimat angekommen zu sein. Auf dem Land und damit in ihren eigenen Kindheitsgegenden fühlten sie sich nach wie vor am wohlsten, hier lebten die vielen Verwandten und die Freunde, hier verging kein Tag, ohne dass man nicht mit vielen Menschen, die man liebte oder achtete, gesprochen hätte.
Bald zwei Jahrzehnte nach dem Krieg durfte das einzige noch am Leben gebliebene Kind nicht mehr die Hauptrolle spielen. Es hatte sich einzuordnen in die neuen Verhältnisse – so dachten meine Eltern wohl insgeheim und glaubten dabei fest, dass mir so etwas gelingen würde. Ich aber wusste damals noch nicht, wie ich diesen Sprung in das neue, veränderte Leben schaffen sollte. Noch war ich gehorsam und erschien nach außen hin ruhig und einverstanden mit allem, was um mich geschah. Doch ich wurde stiller und stiller, und dieser innere Rückzug dauerte so lange, bis ich mich beinahe wie von selbst zu wehren begann.