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IN DEN letzten Tagen bin ich einige Male im Hausflur stehen geblieben und habe auf Mariettas Klavierspiel geachtet. Es ist wirklich erstaunlich, sie übt jetzt ganz anders als früher und oft mehrmals am Tag, jedes Mal etwa zwanzig bis dreißig Minuten.
Ich höre, dass sie begonnen hat, mit dem Klavier zu spielen, sie spielt sich zunächst etwas ein, indem sie eine Melodie oder ein kleines Lied intoniert, dann folgen meist ein paar Akkorde die ganze Tastatur hinauf und hinab. Schließlich widmet sie sich zwei, drei kleinen Stücken, jedes aus einem anderen Genre.
 
Auch klassische Musik behandelt sie jetzt so, dass sie zum Beispiel eine Sonate nicht in voller Länge und nicht Satz für Satz einstudiert, sondern meist nur einen einzigen Satz übt und ihn dann mit anderen Klavierstücken verbindet. Dabei stellen sich ganz ungeahnte, überraschende Effekte ein: Ein Stück Ragtime und danach der langsame Satz einer Mozart-Sonate, ein Tanzstück aus einer Suite von Händel und danach ein Tango!
Marietta hat gerade an diesen Kontrasten großen Gefallen gefunden, und die Freude, die ihr die Musik seit Neustem macht, ist schon daran zu erkennen, dass sie sich immer neue CDs ausleiht und sie auf Stücke hin durchhört, die sie dann unbedingt spielen möchte.
 
Außerdem aber gibt es noch eine weitere kleine Veränderung, die bisher niemandem außer mir aufgefallen ist: Marietta hat den Sitz ihres Klavierhockers etwas tiefer gedreht und berührt jetzt während des Übens mit ihren Füßen die Erde! Als ich Antonia darauf aufmerksam machte, reagierte sie, als wäre diese Veränderung nichts Besonderes, ich aber weiß, dass diese Umstellung ein gutes Zeichen ist.
Marietta schwebt nämlich jetzt nicht mehr wie ein kleines Kind mit lästig hin und her pendelnden, unruhigen Beinen auf ihrem Sitz, sondern sucht den Bodenkontakt und die Haftung. Das aber zeigt mir, dass sie nicht mehr die übende Puppe sein will, die man einfach vor ein Klavier gesetzt hat, weil die Eltern das nun einmal so wollten, sondern dass sie ein junges Mädchen sein möchte, das Klavier übt, wann immer es sich dafür entscheidet.
Sie springt an das Instrument, sie zieht den Klavierhocker ein Stück beiseite, schwingt sich darauf, rückt ihn zurecht, und schon geht es los! Früher näherte sie sich dem Instrument sehr vorsichtig und als ginge von ihm etwas Einschüchterndes aus, jetzt aber geht sie mit ihm wirklich so um, als gehörte es ganz selbstverständlich zu ihrem Leben.
 
Ich habe ihren neuen Schwung noch dadurch weiter angefacht, dass ich ihr vorgeschlagen habe, auf dem großen Platz vor unserem Haus einmal ein kleines Konzert im Freien zu geben. Wie soll das denn gehen?, hat sie sehr ernsthaft gefragt, und ich habe ihr vorgeschlagen, dass wir einen Flügel ausleihen und auf einem kleinen Podium in der Mitte des Platzes postieren. Weiter habe ich ihr angeboten, mich um Scheinwerfer, die passende Beleuchtung und Sitzreihen mit Stühlen zu kümmern, wir sollten uns das durch den Kopf gehen lassen, habe ich abschließend gesagt und das Thema damit vorläufig beendet. Ich weiß aber genau, dass Marietta weiter darüber nachdenkt, und ich hoffe insgeheim, dass sie irgendwann von allein wieder auf das Thema zurückkommt.
 
In den Gesprächen mit ihr mache ich so etwas oft, ich tippe ein Thema bloß an und komme irgendwann dann wieder darauf zurück. Kinder in Mariettas Alter, denke ich, lieben das monotone Erwachsenen-Grübeln nicht, sie wollen leicht und möglichst abwechslungsreich unterhalten werden und mit den Themen jonglieren, anstatt sie Punkt für Punkt durchzugehen. Am einfachsten ist es, genau hinzuhören und zu beobachten, wie sie selbst etwas erzählen, und dann in ganz ähnlicher Form darauf zu reagieren. In Mariettas Fall habe ich damit jedenfalls großen Erfolg, denn inzwischen erzählt sie mir sogar Dinge, die vor ein paar Monaten noch völlig tabu waren. So weiß ich zum Beispiel nun, dass sie die Trennung ihrer Eltern viel weniger schlimm findet als ihre Mutter das früher vermutete. Sergio, ihr Vater, wohnt zwar jetzt etwa zehn Minuten entfernt, auf der anderen Seite des Tibers, sie kann aber, wann immer sie will, mit ihm telefonieren, ihn besuchen, mit ihm ein Eis essen gehen oder am Wochenende mit ihm in die Albaner-Berge fahren, wo die Großeltern wohnen. Das alles ist kein Problem, ja es ist sogar alles viel besser als früher, als die Familie zu dritt unterwegs war und die Eltern sich angeblich laufend stritten. Was haben sich Mamma und Papa gestritten, was haben sie sich gestritten!, sagt Marietta und schaut mich dabei nicht an. Über die Ehe ihrer Eltern redet sie, als wäre sie eine ältere Verwandte mit einer jahrzehntelangen Lebenserfahrung.
Dass ihr Vater Sergio Journalist bei einer römischen Tageszeitung ist, wusste ich schon, erst Marietta versorgte mich dann aber mit Nachrichten über das, was er schreibt und wofür er sich von Berufs wegen interessiert. Manchmal zeigt sie mir sogar einen Artikel, den ihr Vater extra für sie ausgeschnitten und ihr dann geschenkt hat. Sie klebt diese Artikel auf ein Blatt Papier und reiht sie in große Ordner ein, Sergio schreibt wirklich gut, sagt sie, wenn sie in einem der Ordner blättert, danach aber seufzt sie kurz, als werde sie nie seine stilistische Brillanz erreichen, und stellt den Ordner schließlich wieder an seinen Platz.
 
Obwohl sie mir wirklich viel erzählt und wir beinahe jeden Tag miteinander sprechen, weiß ich doch nicht genau, was sie von mir hält. Ich selbst habe das Gefühl, als wären wir gute Freunde, wozu denn auch passt, dass wir die wöchentliche Unterrichtsstunde aufgegeben haben und uns zusammen ans Klavier setzen, wann immer es uns gerade gefällt. Kommst Du später mal auf eine halbe Stunde vorbei?, ruft Marietta, und dann komme ich später einmal vorbei, um mir anzuhören, wie sie ein bestimmtes Klavierstück angeht und übt.
Bisher haben wir uns noch kein einziges Mal gestritten, ja es gab nicht einmal eine richtige Meinungsverschiedenheit. Nur als ich ihr vorschlug, auch einmal zusammen in die Oper zu gehen, lehnte sie ab, und als ich sie fragte, warum sie denn ausgerechnet dieses Angebot so entschieden ausschlage, antwortete sie, dass die Menschen sich in Opern immer so heftig streiten würden und dass sie solche Streitereien einfach nicht sehen und hören wolle. Gibt es Opern, in denen sich Menschen nicht streiten? Gibt es das? Gegenwärtig bin ich dabei, mir das genauer zu überlegen.
 
Antonia, mit der ich mich oft über Mariettas Ansichten und Meinungen unterhalte, behauptet jedenfalls, ihre Tochter erfahre die Trennung ihrer Eltern inzwischen nicht mehr als eine Einschränkung, sondern im Gegenteil als eine günstige Erweiterung ihrer Lebensumstände.
Früher habe es nur eine Wohnung mit uneinigen Eltern gegeben, jetzt aber gebe es zwei und mit meiner Wohnung sogar drei Wohnungen, in denen Marietta sich zu Hause fühle. Und da alle drei Wohnungen nicht weit voneinander entfernt seien, könne sie in jeder ein Stück des Tages mit jeweils anderen Menschen und Themen verbringen.
Mit ihr, Antonia, bespreche sie die sogenannten weiblichen Themen, mit ihrem Vater rede sie über seine Artikel, über Sport und Politik, und in den Gesprächen mit mir schließlich gehe es um Musik. So ein Gesprächsangebot habe sie, Antonia, in ihrer Kindheit nicht gehabt, sie sei vielmehr mit zwei älteren Brüdern groß geworden, die ab einem bestimmten Alter überhaupt nicht mehr mit ihr geredet und ganz nebenbei noch das Interesse der Eltern übermäßig beansprucht hätten.
 
Wie im Falle Mariettas sind für Antonia beinahe alle Lebensverhältnisse Teil eines psychologischen Dramas, das in allen Facetten besprochen und gedeutet werden muss. Selbst die große Geschichte, die sie ihren Schülern am Gymnasium beibringt, ist in ihrer Perspektive vor allem eine Fundgrube für solche Dramen. Schon kurz nach Beginn einer Unterhaltung geraten wir beide daher immer wieder auf die Ebene der Deutung, Antonia ist die Expertin, ich bin der Laie, man kann sich vorstellen, wie unausgeglichen solche Gespräche verlaufen und wie einseitig sie ausgehen.
Selbst dann nämlich, wenn ich glaube, einen sicheren Treffer gelandet zu haben, zieht Antonia noch eine letzte Variante aus der Tasche und übertrumpft meine Deutung einer Geschichte mit einem letzten, schlagenden Argument. Meist gebe ich in solchen Fällen dann auf und denke im Stillen weiter darüber nach, um das Drama vielleicht irgendwann noch einmal aufrollen und mir die nächste Abfuhr vonseiten Antonias holen zu können.
Gut, dass sie nicht weiß, worüber ich gerade schreibe! Mit vollem Elan hätte sie sich auf meine Internatsjahre gestürzt und mir erläutert, dass die Trennung von meinen Eltern mich aus dem Gleis geworfen, gleichzeitig aber auch erst jene Freiheitsimpulse freigesetzt habe, deren ein Junge in der Adoleszenz so dringend bedürfe.
Insofern, hätte Antonia weiter behauptet, wären meine Internatsjahre keine vergeblichen Jahre gewesen, schließlich hätte ich dort gelernt, meinen eigenen Gefühlen zu vertrauen und sie auch gegenüber weit überlegenen Mächten, wie zum Beispiel denen der Kirche, auszusprechen.
 
Einer solchen Deutung hätte ich wieder einmal nur zustimmen können, denn, ja, genau so empfand ich meine Jahre auf dem Internat aus dem Rückblick wohl auch: Als Jahre, die meine Widerstandsimpulse verstärkt und meine Selbständigkeit gefördert hatten. Im Nachhinein war ich sogar stolz darauf, sie erlebt und überstanden zu haben. Ich hatte in diesen Jahren durchaus etwas gelernt, und doch hatte ich gerade noch zum richtigen Zeitpunkt den Absprung geschafft …
 
Noch an dem fraglichen Abend meiner Rückkehr ins Internat nämlich hatten mein Vater und der Abt in einem Zweier-Gespräch das Ende meiner Internatszeit beschlossen. Zuvor hatten wir zu dritt länger über meine Eindrücke und meine Einschätzungen des Internats-Daseins gesprochen, und ich hatte, ohne zu zögern oder irgendwelche Umwege zu machen, gesagt, wie ich die Sache sah und was ich dachte. Da die großen Sommerferien unmittelbar bevorstanden, ließ man mich ziehen und bestätigte mir später sogar noch in meinem Zeugnis, dass ich die vierte Gymnasialklasse geschafft hatte.
 
Bereits am Morgen des nächsten Tages packte ich meine Sachen und reiste mit meinem Vater zurück aufs Land. Erst während der Zugreise erfuhr ich, dass er meiner Mutter nichts von meiner Flucht aus dem Internat erzählt hatte. Einer solchen Nachricht, behauptete er, sei sie noch immer nicht gewachsen, eine solche Nachricht würde sie weit zurückwerfen. Mir selbst aber machte er keinen einzigen Vorwurf, sondern tat stillschweigend so, als hätte ich das einzig Richtige getan.
Als ich ihn fragte, wie es denn nun mit mir weitergehen sollte, sagte er noch während der Fahrt, dass er daran denke, mich in Köln aufs Gymnasium zu schicken. Wenn ich das ebenfalls wolle, müsste ich allerdings an jedem Morgen eine Hinfahrt von fast einer Stunde im Zug und am Mittag oder Nachmittag noch einmal eine Stunde Rückfahrt in Kauf nehmen. Das alles sei eine Strapaze, keine Frage, aber er selbst sei als Schulbub an jedem Morgen beinahe vierzig Minuten auf dem Fahrrad vom Hof seiner Eltern aus zum Bahnhof und von dort noch einmal dreißig Minuten mit dem Zug zum Gymnasium in der nächsten Kreisstadt gefahren.
Mit der Zeit habe er sich daran gewöhnt, und auch ich werde mich daran gewöhnen, außerdem könne ich unterwegs Hausaufgaben machen oder etwas lesen oder mich mit sonst etwas Interessantem beschäftigen. In Köln gebe es jedenfalls inzwischen ein Gymnasium mit sogenanntem musischem Zweig, und außerdem gebe es in Köln schließlich noch Walter Fornemann, der mich von nun an wieder wöchentlich unterrichten könne.
 
Ich antwortete, dass ich mir das alles durch den Kopf gehen lassen werde, dabei konnte ich kaum verheimlichen, wie sehr ich mich freute. Ich würde in Köln aufs Gymnasium gehen! Ich würde beinahe jeden Tag zumindest eine gewisse Zeit wieder in dieser mir so vertrauten und nahen Stadt verbringen! In Walter Fornemanns Unterricht würde ich Stücke von Schumann und Brahms spielen, und während der freien Zeit zwischen Schule und Klavierunterricht würde ich mich am Rhein herumtreiben, stundenlang …
 
Genauso ist es dann wenig später auch gekommen. Ich bezog im noch immer einsam gelegenen Haus meiner Eltern auf dem Land ein kleines Zimmer unter dem Dach und ging während der sich direkt anschließenden Sommerferien wieder zusammen mit meinem Vater auf Reisen. Damals ahnte ich noch nicht, dass es das letzte Mal war, denn damals konnte ich noch nicht wissen, dass meine Sehnsucht nach langen Wanderungen und dem sorglosen Unterwegs-Sein keine einmalige Sache, sondern ein tief sitzender Drang, ja beinahe eine Sucht war, die sich nicht mehr bändigen ließ.
Ich war nun vierzehn Jahre alt und bekam immer wieder zu hören, in so einem Alter beginne die Pubertät. Meine Eltern jedoch hatten keine richtige Ahnung davon, was das im Einzelnen bedeutete, und auch ich wusste nicht, was ich mir darunter vorstellen sollte.
Antonia übrigens verwendet das Wort Pubertät nicht, weil sie es für abstoßend und kalt hält. Stattdessen sagt sie Adoleszenz, was sich im Italienischen wie nostalgisches Latein anhört. Marietta steht also, wie Antonia behauptet, kurz vor dem Eintritt in die Adoleszenz, ich dagegen kann nicht feststellen, dass sie irgendwelche Anzeichen pubertären Verhaltens zeigt.
Von ihrem Schulunterricht her kennt Antonia jedoch angeblich diese Anzeichen genau. Alles beginnt, wie sie behauptet, mit einer häufigeren Abwesenheit des jungen Menschen von zu Hause. Zunächst fällt diese Abwesenheit niemandem so richtig auf, selbst der junge Mensch nimmt sie nicht bewusst wahr. Sie entsteht vielmehr ganz nebenbei, zum Beispiel dadurch, dass er für den Schulweg länger braucht als zuvor. Er macht Umwege, verweilt hier und da, unterhält sich, streift umher. Am Nachmittag bleibt er nicht mehr so lange in der elterlichen Wohnung wie bisher, sondern hat in der Umgebung oder in der Stadt bestimmte Termine. Er schließt sich einer Freundin oder einem Freund an, zu zweit sind sie dann unterwegs, erkunden fremde Gegenden, nehmen Witterung auf, sondieren das Erwachsenen-Leben. Auf schleichende Weise beginnt damit die Entfernung von der Kindheit. Erst sind es nur einige Minuten am Tag, dann werden es Stunden, am Ende sind die jungen Menschen alle paar Nächte unterwegs, um kurz vor Mitternacht völlig überanstrengt wieder zu Hause zu erscheinen.
 
Für Antonia steht fest, dass auch Marietta schon bald mit solchen Streifzügen und kleinen Expeditionen in unbekannte Gegenden der Stadt beginnt. Die Vorzeichen sind angeblich bereits daran zu erkennen, dass sie jetzt mittags mit einer Schulfreundin von der Schule zurückkommt, mit der sie den Schulweg früher niemals geteilt hat. Allein gehen sie nicht auf Tour!, behauptet Antonia und macht bei solchen Sätzen den Eindruck einer Detektivin, die einem schwierig zu lösenden Fall auf der Spur ist.
 
Erst richtig angeheizt wurde ihr Spürsinn aber an einem Nachmittag, als Marietta sich zum Tennisspielen verabredet hatte, jedoch nicht, wie vereinbart, zu einer bestimmten frühen Abendstunde wieder erschien. Als die Frist um eine halbe Stunde überzogen war, klingelte Antonia bei mir und bat mich, ihr auf einen Drink Gesellschaft zu leisten. Sie sei nicht nervös, nein, ganz gewiss nicht, aber sie sei doch etwas unruhig, und im Fall einer solchen Unruhe habe sie sich einfach nicht mehr im Griff. Die Folge davon sei manchmal, dass sie auf irgendeine Weise peinlich reagiere, das aber wolle sie diesmal vermeiden, und zwar dadurch, dass sie mit mir zusammen ein Glas Campari trinke.
 
Ich war einverstanden, schloss die Tür hinter mir zu und ging hinüber in die gegenüberliegende Wohnung, auf deren Namensschild es noch immer eine Familie Caterino mit Sergio, Antonia und Marietta gab. Ich setzte mich zu Antonia in die Küche, wir tranken Campari und versuchten, etwas zu plaudern, währenddessen bereitete Antonia eine Pizza vor, angeblich, um Marietta eine besondere Freude zu machen, in meinen Augen aber, um sich etwas abzulenken.
Ich tat, als machte es mir nichts aus, ihr etwas zu helfen, und schnappte mir einen kleinen Korb mit Zwiebeln und Knoblauch, um eine Portion davon in winzigste Stücke zu schneiden. Auf dem Herd blubberten frische, gute Tomaten vom Markt, das Küchenfenster stand offen, die letzte Abendsonne fiel noch herein. Hätten wir nicht beide laufend an Marietta und ihr Fernbleiben gedacht, wäre es eine friedliche, schöne Szene gewesen, ein Betrachter hätte Antonia und mich sogar für ein Paar halten können, das mit all seinen eingeübten Handgriffen und seiner stillschweigenden Vertrautheit jederzeit ein Paar für eine Pasta-Werbung im Fernsehen hätte abgeben können.
Statt diesen Eindruck zu erhalten, steuerte Antonia jedoch zu den harmonischen Bildern einen Text bei, der von den schwankenden Interessen junger Mädchen, ihrer Orientierungslosigkeit und ihrem angeblichen Hang zu Extremen handelte. Je länger Marietta fortblieb, umso dramatischer und leider auch theoretischer redete Antonia, schließlich erging sie sich in der Schilderung von dubiosen Fällen an ihrer Schule, die alle in einer Katastrophe geendet hatten.
 
Man kann sich daher vorstellen, wie erleichtert ich war, als kurz vor neunzehn Uhr Vater Sergio anrief und mitteilte, dass Marietta auf dem Rückweg von ihrem Tennis-Spiel bei ihm vorbeigekommen sei und nun auch bei ihm übernachten wolle. Antonia war von ihren fehlgeleiteten furchtbaren Phantasien und Ängsten derart erschöpft, dass sie ohne Gegenrede zustimmte, natürlich könne das Kind bei seinem Vater übernachten, warum nicht?, sie habe sich ein klein wenig Sorgen gemacht, aber, nun gut, sie wolle Mariettas Wünschen nicht im Wege stehen. Das Gespräch dauerte nicht lange und endete mit ein paar Vereinbarungen für den kommenden Morgen, danach legte Antonia das Telefongerät beiseite und fuhr sich mit dem Rücken der rechten Hand über die Augen, ich schaute kurz hin, konnte aber nicht entdecken, dass sie den Tränen nahe war.
 
Vor uns auf dem Tisch lag auf einem großen Holzbrett ein gewaltiger, gerade erst aufgegangener Hefeteig für die Pizza, auf dem Herd kochten die Tomaten, und auf meinem Platz türmte sich ein Berg mit klein geschnittenen Zwiebeln und Knoblauch. Bereits in dem Moment, als Antonia das Gespräch beendet hatte, wirkte all das jedoch wie Makulatur. Im Grunde wollten Antonia und ich doch gar keine Pizza essen, und im Grunde wollten wir auch nicht kochen.
Ich musste lachen und sagte ihr, dass unsere Bemühungen in meinen Augen etwas Rührendes hätten, eigentlich hätte ich nämlich gar keinen Appetit auf Pizza. Antonia begann auch sofort zu lachen und ging dann zum Herd, um die Flamme abzustellen. Danach räumte sie den Teig sowie die Zwiebeln und den Knoblauch beiseite, ich half ihr, die Sachen zu verpacken und in den Kühlschrank zu stellen, doch während wir noch dabei waren, hielt Antonia plötzlich einen Moment inne und sagte: Wie schön, Johannes, jetzt sind wir endlich einmal allein.
Ich hatte alles verstanden, jedes Wort hatte ich gehört, und doch hörte sich das alles in meinen Ohren noch nach etwas anderem an, ja, genau, es hörte sich an wie eine direkte Fortsetzung ihrer nächtlichen Bemerkung: Seit anderthalb Jahren hatte ich keinen Sex!
Durch einen einzigen, auf den ersten Blick unschuldigen Satz herrschte in der Küche plötzlich eine andere Atmosphäre. Wir waren nicht mehr das besorgte und treu sorgende Paar, das für seine Kinder eine gute Pizza zubereitet, nein, wir waren Mann und Frau, die man gerade aus ihren Einzel-Käfigen gelassen hatte, ohne zu bedenken, dass beide eine Weile keinen Sex mehr gehabt hatten.
 
Ich antwortete nicht sofort, denn mit mir ist es in solchen Momenten immer dasselbe: Ich sage nichts, ich warte ab, was geschieht, ich erlebe eine gewisse, sehr angenehme Unruhe und eine gewisse, sich allmählich steigernde Anspannung, und das alles ist mir lieber als eine rasche und eindeutige Klärung der Situation.
Es hat schon Fälle gegeben, in denen ich einen Abend und eine halbe Nacht damit zugebracht habe, die Steigerungsphasen einer erotischen Annäherung zu genießen, während ich doch beinahe die ganze Zeit über nichts anderes gesprochen habe als über ein zu langes Tennis-Match, das ich am Nachmittag desselben Tages im Fernsehen gesehen hatte.
Über Tennis zu sprechen, fällt mir leicht, ja ich glaube sogar, dass ich über Tennis besser sprechen kann als über jede andere Sportart. Antonia hat auch dafür eine Erklärung, und zwar die, dass Tennis eine Sportart für verrückte Einzelgänger und ewige Kämpfer mit immenser Ausdauer sei und eben deshalb genau die richtige Sportart für mich, der ich für meine Romanarbeit doch ebenfalls die Erfahrungen eines verrückten Einzelgängers und die eines ausdauernden Kämpfers bräuchte. Kein Wunder also, dass Tennis mich mehr interessiere als Fußball, Fußball sei eben mehr etwas für Männer mit einem gut ausgeprägten Gemeinschafts- oder Geselligkeits-Sinn wie ihn etwa Sergio, ihr Mann, schon allein dadurch besitze, dass er mit vier Geschwistern groß geworden sei …
 
Ich sagte also zunächst nichts, ärgerte mich dann aber, dass ich schon wieder dabei war, in die Rolle des zurückhaltenden Beobachters zu schlüpfen. Wegen dieses leichten Ärgers begann ich daher nun doch zu reden, ich sprach davon, dass ich einmal eine Zeit lang Tennis gespielt hätte, es sollte sich so anhören, als wollte ich wieder einmal über das Thema Tennis plaudern, klang nun aber so, als wollte ich auf dem Weg über das Thema Tennis wieder den Faden zum Thema Marietta aufgreifen.
An Antonias Reaktion bemerkte ich, dass sie diesen Faden aber keineswegs aufgreifen wollte, ach, sagte sie, reden wir nicht über Tennis und Marietta, reden wir lieber einmal von Dir!
Von mir?! Wirklich von mir?! Hatte sie das wirklich gesagt und meinte sie das etwa auch so?!
 
Ich habe bereits erzählt, wie selten es geschieht, dass mich jemand bittet, von mir zu erzählen. Da es aber so selten geschieht, bin ich auch nicht daran gewöhnt, so etwas zu tun. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Restaurant oder in einer Kneipe zusammen mit einem Freund oder einer Freundin gesessen habe und ihnen etwas Privates von mir erzählt hätte.
Wenn ich aber doch einmal von mir erzähle, tue ich das in schriftlicher Form wie zum Beispiel in einem Roman, der von mir handelt. Auch in Briefen und Mails kann ich, wenn auch nicht so gut wie in der Romanform, von mir erzählen. In all diesen Fällen habe ich nämlich das Gefühl, die Steuerung und die Herrschaft über mein Erzählen zu behalten. Beim mündlichen Erzählen aber und beim Anblick eines vielleicht sogar noch nahen Gegenübers ist das nicht möglich. Vielleicht beginne ich in solchen Fällen manchmal noch, etwas von mir zu erzählen, schon nach wenigen Minuten ist das aber meist wieder vorbei, und ich habe eine geschickte Überleitung zu anderen Themen gewählt.
 
Nein, von mir erzählen kann ich einfach nicht, und natürlich ist auch diese Unfähigkeit eine Folge meiner frühsten Kindheit, als jede Frage an das stumme Kind mir wie eine Bedrohung erschien und ich wegen meiner Stummheit nicht antworten konnte. So gesehen, verfolgt mich meine Kindheit noch immer, ja, sie verfolgt mich, wohin auch immer ich gehe und obwohl ich gegen nichts so sehr anzukämpfen versuche wie gegen diese Verfolgung und gegen die Nachwirkungen, die mir von meiner Kindheit geblieben sind.
 
Der ausdauerndste und längste Kampf, den ich gegen diese Nachwirkungen führe, besteht in meinem Schreiben. All mein ewiges Schreiben, könnte ich nämlich behaupten, besteht letztlich nur darin, aus mir einen anderen Menschen als den zu machen, der ich in meiner Kindheit gewesen bin. Irgendwann soll nichts mehr an dieses Kind erinnern, irgendwann möchte ich Geschichten erzählen, die nicht mehr den geringsten Anschein erwecken, noch etwas mit meiner Kindheit zu tun zu haben. Bisher ist mir das selbst in mehreren Jahrzehnten noch nicht gelungen, auch wenn es bei manchen meiner Romane und Geschichten auf den ersten Blick so aussieht, als wäre ich meinem alten Thema endlich entkommen.
Der erste Blick aber trügt, es ist ein flüchtiger, oberflächlicher Blick, es ist der Blick von Lesern, die sich leicht täuschen lassen. All die Leser jedoch, die mich auch privat etwas genauer kennen, bemerken während der Lektüre meiner Bücher sehr schnell, an welchen Stellen ich mich wieder in meine privaten Obsessionen verstrickt habe. Ich selbst fürchte diese Stellen, denn natürlich fürchte ich, dass ich gerade in solchen Passagen etwas allzu Privates oder Intimes preisgebe.
Das Private oder Intime besteht übrigens nicht unbedingt darin, dass ich auf Details meines Lebens zu sprechen komme, nein, keineswegs, von solchen Details lässt sich vielmehr durchaus leicht und distanziert erzählen, und zwar gerade deshalb, weil sie Teile einer Erzählung und damit einer offenen Mitteilung sind. Das wirklich Intime dagegen ist unter der Oberfläche versteckt, es sitzt im Untergrund der Details, es arbeitet mit versteckten Andeutungen, mit winzigen Spuren und Fährten …
 
Genug davon, verdammt! Was denke ich über die Untiefen meiner Romane nach, ich wollte doch von dem Abend mit Antonia erzählen! Reden wir von Dir, hatte Antonia gesagt, und ich hatte die Aufforderung sofort als eine Bedrohung oder Überschreitung einer Grenze verstanden. Kein Wunder also, dass es mir in Antonias Küche zu eng wurde und ich sofort reagierte, indem ich sie betont locker, und als käme mir gerade ein glänzender Einfall, zum Essen einlud. Antonia erwiderte, dass sie keine Lust habe, ins Zentrum zu fahren und auch keine Lust, lange spazieren zu gehen, sie wolle sich mit mir unterhalten, dazu habe sie Lust. Ich tat, als ginge es mir genauso, obwohl ich mir gerade von einer Metro-Fahrt ins Zentrum bereits einige Übergänge zu anderen Gesprächs-Themen versprochen hatte. Ich kam aber gar nicht mehr dazu, noch weitere Vorschläge zu machen, denn Antonia machte unserem Hin und Her einfach ein Ende, indem sie sagte: Komm, Johannes, dann gehen wir ins Cantinone!
 
Ich kannte das Restaurant Il Cantinone genau, bereits mehrere Male hatte ich mittags oder abends allein in ihm gegessen, denn es liegt direkt am Markt, so dass man auch als allein essender Gast ein sehr lebendiges Umfeld für seine Beobachtungen hat. Das Essen dort besteht in einer einfachen, römischen Küche, ja die Küche ist sogar typisch für dieses Viertel rund um den alten Schlachthof, weil man in ihm noch immer jene Mahlzeiten (wie etwa Innereien verschiedenster Art) bekommt, die es früher in den alten Trattorien nach frischen Schlachtungen gegeben hat.
 
Ich kehrte noch einmal kurz in meine Wohnung zurück und holte mir eine Jacke, dann gingen Antonia und ich zusammen die Treppe herunter, wir sagten beide nichts, aber ich hatte das Gefühl, als empfänden wir in diesem Moment eine besondere Verbundenheit, wie ein Paar, das gemeinsam eine schwierige Situation erlebt und gut überstanden hatte. Unten auf der Straße glaubte ich dann sogar, dass Antonia sich bei mir einhängen wollte, sie machte jedenfalls eine kurze Geste in dieser Richtung, ließ es dann aber doch sein, als traute sie sich einfach noch nicht. Und so überquerten wir nebeneinander, und ohne uns zu berühren, den inzwischen bereits leicht erleuchteten Platz und gingen in das Restaurant, wo im Außenbereich noch ein Ecktisch frei war.
 
Eine Mahlzeit wie die, die nun folgte, habe ich noch nie erlebt. Denn in ihrem langen, bis weit nach Mitternacht dauernden Verlauf kam es immer wieder zu durchaus ernst gemeinten Versuchen von meiner Seite, etwas von mir zu erzählen. Die meisten Anläufe dazu brach ich unauffällig ab und kam nicht wieder auf das jeweilige Thema zurück. Als ich aber in einem stillen Moment darüber nachdachte, warum das so war, erkannte ich zum ersten Mal in voller Klarheit, dass es jedes Mal um Geschichten und Themen ging, die in irgendeiner Weise zurück in meine frühste Kindheit geführt hätten.
So war das also! Ich umging diese Kindheit um jeden Preis und konnte anscheinend nur von Zeiten und Zusammenhängen erzählen, bei denen ich keine Verbindung zu meiner Kindheit herstellen musste.
 
Als noch überraschender empfand ich dann aber eine weitere Entdeckung, die ich kurze Zeit später machte: Ich konnte nämlich durchaus von mir und meinem Leben berichten, wenn ich dazu überging, Ausschnitte aus meinem Roman so zu erzählen, als fielen mir diese Geschichten gerade erst ein. Natürlich erwähnte ich in so einem Fall mit keinem Wort, dass es sich um Roman-Ausschnitte handelte, und natürlich hatte ich sie auch nicht Wort für Wort im Kopf. Die großen Zusammenhänge aber, die Erzähllinien, die kannte ich ja durchaus, schließlich war ich gerade dabei, mein halbes Leben auf Hunderten von Seiten in einem Roman zu erzählen!
Der Trick, den ich anwenden musste, bestand also darin, mich an die Schriftfassung einzelner Lebensgeschichten zu erinnern. Wenn mir das gelang, erzählte ich flüssig und ohne Hemmungen.
 
Ich kann kaum beschreiben, wie glücklich ich in dem Moment war, als ich diese für mich sehr bedeutsame Entdeckung machte. Das Schreiben half mir also nicht nur indirekt weiter, indem es Klarheit und Struktur in meine Phantasien und Gedanken brachte, nein, es half mir auch mitten im Leben, ganz direkt, indem es mir Erzähl-Versionen von Bruchstücken meiner Lebensgeschichte lieferte, die ich dann selbst einer mir noch relativ fremden Person erzählen konnte!
 
Stell Dir vor, Antonia, sagte ich also, ich habe als junger Mensch einmal ein Internat besucht. Und als ich sah, wie Antonia sich mir gegenüber etwas vorbeugte und mich so anschaute, als interessierte sie diese Geschichte wirklich, fuhr ich fort: Das Internat war in einem großen Klosterbezirk untergebracht, es gab eine Klosterkirche, einen Klostergarten und einen barocken Klosterbau. Geleitet wurde es damals, in den frühen sechziger Jahren, noch von Zisterzienser-Mönchen …
 
Gegen ein Uhr in der Nacht, als das Il Cantinone dann schloss, waren wir die letzten Gäste. Wir überquerten wieder den Platz vor unserem Wohnhaus, diesmal hatte sich Antonia bei mir eingehängt. Ich schloss die Haustür auf, dann gingen wir die Treppe hinauf. Als wir beide vor unseren Wohnungstüren standen, war die Versuchung groß, nur eine dieser beiden Türen zu öffnen.
 
Ich gab mir einen Ruck und sagte genau diesen Satz, ja, wahrhaftig, ich sagte: Jetzt ist die Versuchung groß, nur eine dieser beiden Türen zu öffnen.
Antonia stand dicht vor mir, ich sah, wie sie über meinen Satz lächelte. Dann gab sie mir einen flüchtigen Kuss und antwortete: Ich finde, wir sollten dieser Versuchung heute noch widerstehen.
Ich nickte und wandte mich zu meiner Tür, um sie aufzuschließen. Am liebsten hätte ich mich jedoch noch einmal mit Antonia in ihre Küche gesetzt. Wir hätten eine Flasche Wein geöffnet, und ich hätte zum ersten Mal in meinem Leben einem anderen Menschen von jenen Tagen in meiner Adoleszenz erzählt, als ich mutterseelenallein nach Rom aufbrach...