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IN DEN letzten Tagen
bin ich einige Male im Hausflur stehen geblieben und habe auf
Mariettas Klavierspiel geachtet. Es ist wirklich erstaunlich, sie
übt jetzt ganz anders als früher und oft mehrmals am Tag, jedes Mal
etwa zwanzig bis dreißig Minuten.
Ich höre, dass sie
begonnen hat, mit dem Klavier zu spielen, sie spielt sich zunächst
etwas ein, indem sie eine Melodie oder ein kleines Lied intoniert,
dann folgen meist ein paar Akkorde die ganze Tastatur hinauf und
hinab. Schließlich widmet sie sich zwei, drei kleinen Stücken,
jedes aus einem anderen Genre.
Auch klassische
Musik behandelt sie jetzt so, dass sie zum Beispiel eine Sonate
nicht in voller Länge und nicht Satz für Satz einstudiert, sondern
meist nur einen einzigen Satz übt und ihn dann mit anderen
Klavierstücken verbindet. Dabei stellen sich ganz ungeahnte,
überraschende Effekte ein: Ein Stück Ragtime und danach der
langsame Satz einer Mozart-Sonate, ein Tanzstück aus einer Suite
von Händel und danach ein Tango!
Marietta hat gerade
an diesen Kontrasten großen Gefallen gefunden, und die Freude, die
ihr die Musik seit Neustem macht, ist schon daran zu erkennen, dass
sie sich immer neue CDs ausleiht und sie auf Stücke hin durchhört,
die sie dann unbedingt spielen möchte.
Außerdem aber gibt
es noch eine weitere kleine Veränderung, die bisher niemandem außer
mir aufgefallen ist: Marietta hat den Sitz ihres Klavierhockers
etwas tiefer gedreht und berührt jetzt während des Übens mit ihren
Füßen die Erde! Als ich Antonia darauf aufmerksam machte, reagierte
sie, als wäre diese Veränderung nichts Besonderes, ich aber weiß,
dass diese Umstellung ein gutes Zeichen ist.
Marietta schwebt
nämlich jetzt nicht mehr wie ein kleines Kind mit lästig hin und
her pendelnden, unruhigen Beinen auf ihrem Sitz, sondern sucht den
Bodenkontakt und die Haftung. Das aber zeigt mir, dass sie nicht
mehr die übende Puppe sein will, die man einfach vor ein Klavier
gesetzt hat, weil die Eltern das nun einmal so wollten, sondern
dass sie ein junges Mädchen sein möchte, das Klavier übt, wann
immer es sich dafür entscheidet.
Sie springt an das
Instrument, sie zieht den Klavierhocker ein Stück beiseite,
schwingt sich darauf, rückt ihn zurecht, und schon geht es los!
Früher näherte sie sich dem Instrument sehr vorsichtig und als
ginge von ihm etwas Einschüchterndes aus, jetzt aber geht sie mit
ihm wirklich so um, als gehörte es ganz selbstverständlich zu ihrem
Leben.
Ich habe ihren neuen
Schwung noch dadurch weiter angefacht, dass ich ihr vorgeschlagen
habe, auf dem großen Platz vor unserem Haus einmal ein kleines
Konzert im Freien zu geben. Wie soll das denn
gehen?, hat sie sehr ernsthaft gefragt, und ich habe ihr
vorgeschlagen, dass wir einen Flügel ausleihen und auf einem
kleinen Podium in der Mitte des Platzes postieren. Weiter habe ich
ihr angeboten, mich um Scheinwerfer, die passende Beleuchtung und
Sitzreihen mit Stühlen zu kümmern, wir sollten
uns das durch den Kopf gehen lassen, habe ich abschließend
gesagt und das Thema damit vorläufig beendet. Ich weiß aber genau,
dass Marietta weiter darüber nachdenkt, und ich hoffe insgeheim,
dass sie irgendwann von allein wieder auf das Thema
zurückkommt.
In den Gesprächen
mit ihr mache ich so etwas oft, ich tippe ein Thema bloß an und
komme irgendwann dann wieder darauf zurück. Kinder in Mariettas
Alter, denke ich, lieben das monotone Erwachsenen-Grübeln nicht,
sie wollen leicht und möglichst abwechslungsreich unterhalten
werden und mit den Themen jonglieren, anstatt sie Punkt für Punkt
durchzugehen. Am einfachsten ist es, genau hinzuhören und zu
beobachten, wie sie selbst etwas erzählen, und dann in ganz
ähnlicher Form darauf zu reagieren. In Mariettas Fall habe ich
damit jedenfalls großen Erfolg, denn inzwischen erzählt sie mir
sogar Dinge, die vor ein paar Monaten noch völlig tabu waren. So
weiß ich zum Beispiel nun, dass sie die Trennung ihrer Eltern viel
weniger schlimm findet als ihre Mutter das früher vermutete.
Sergio, ihr Vater, wohnt zwar jetzt etwa zehn Minuten entfernt, auf
der anderen Seite des Tibers, sie kann aber, wann immer sie will,
mit ihm telefonieren, ihn besuchen, mit ihm ein Eis essen gehen
oder am Wochenende mit ihm in die Albaner-Berge fahren, wo die
Großeltern wohnen. Das alles ist kein Problem, ja es ist sogar
alles viel besser als früher, als die Familie zu dritt unterwegs
war und die Eltern sich angeblich laufend stritten. Was haben sich Mamma und Papa gestritten, was haben sie
sich gestritten!, sagt Marietta und schaut mich dabei nicht
an. Über die Ehe ihrer Eltern redet sie, als wäre sie eine ältere
Verwandte mit einer jahrzehntelangen Lebenserfahrung.
Dass ihr Vater
Sergio Journalist bei einer römischen Tageszeitung ist, wusste ich
schon, erst Marietta versorgte mich dann aber mit Nachrichten über
das, was er schreibt und wofür er sich von Berufs wegen
interessiert. Manchmal zeigt sie mir sogar einen Artikel, den ihr
Vater extra für sie ausgeschnitten und ihr dann geschenkt hat. Sie
klebt diese Artikel auf ein Blatt Papier und reiht sie in große
Ordner ein, Sergio schreibt wirklich
gut, sagt sie, wenn sie in einem der Ordner blättert, danach
aber seufzt sie kurz, als werde sie nie seine stilistische Brillanz
erreichen, und stellt den Ordner schließlich wieder an seinen
Platz.
Obwohl sie mir
wirklich viel erzählt und wir beinahe jeden Tag miteinander
sprechen, weiß ich doch nicht genau, was sie von mir hält. Ich
selbst habe das Gefühl, als wären wir gute Freunde, wozu denn auch
passt, dass wir die wöchentliche Unterrichtsstunde aufgegeben haben
und uns zusammen ans Klavier setzen, wann immer es uns gerade
gefällt. Kommst Du später mal auf eine halbe
Stunde vorbei?, ruft Marietta, und dann komme ich später
einmal vorbei, um mir anzuhören, wie sie ein bestimmtes
Klavierstück angeht und übt.
Bisher haben wir uns
noch kein einziges Mal gestritten, ja es gab nicht einmal eine
richtige Meinungsverschiedenheit. Nur als ich ihr vorschlug, auch
einmal zusammen in die Oper zu gehen, lehnte sie ab, und als ich
sie fragte, warum sie denn ausgerechnet dieses Angebot so
entschieden ausschlage, antwortete sie, dass die Menschen sich in
Opern immer so heftig streiten würden und dass sie solche
Streitereien einfach nicht sehen und hören wolle. Gibt es Opern, in
denen sich Menschen nicht streiten? Gibt es das? Gegenwärtig bin
ich dabei, mir das genauer zu überlegen.
Antonia, mit der ich
mich oft über Mariettas Ansichten und Meinungen unterhalte,
behauptet jedenfalls, ihre Tochter erfahre die Trennung ihrer
Eltern inzwischen nicht mehr als eine Einschränkung, sondern im
Gegenteil als eine günstige Erweiterung ihrer
Lebensumstände.
Früher habe es nur
eine Wohnung mit uneinigen Eltern gegeben, jetzt aber gebe es zwei
und mit meiner Wohnung sogar drei Wohnungen, in denen Marietta sich
zu Hause fühle. Und da alle drei Wohnungen nicht weit voneinander
entfernt seien, könne sie in jeder ein Stück des Tages mit jeweils
anderen Menschen und Themen verbringen.
Mit ihr, Antonia,
bespreche sie die sogenannten weiblichen Themen, mit ihrem Vater
rede sie über seine Artikel, über Sport und Politik, und in den
Gesprächen mit mir schließlich gehe es um Musik. So ein
Gesprächsangebot habe sie, Antonia, in ihrer Kindheit nicht gehabt,
sie sei vielmehr mit zwei älteren Brüdern groß geworden, die ab
einem bestimmten Alter überhaupt nicht mehr mit ihr geredet und
ganz nebenbei noch das Interesse der Eltern übermäßig beansprucht
hätten.
Wie im Falle
Mariettas sind für Antonia beinahe alle Lebensverhältnisse Teil
eines psychologischen Dramas, das in allen Facetten besprochen und
gedeutet werden muss. Selbst die große Geschichte, die sie ihren
Schülern am Gymnasium beibringt, ist in ihrer Perspektive vor allem
eine Fundgrube für solche Dramen. Schon kurz nach Beginn einer
Unterhaltung geraten wir beide daher immer wieder auf die Ebene der
Deutung, Antonia ist die Expertin, ich bin der Laie, man kann sich
vorstellen, wie unausgeglichen solche Gespräche verlaufen und wie
einseitig sie ausgehen.
Selbst dann nämlich,
wenn ich glaube, einen sicheren Treffer gelandet zu haben, zieht
Antonia noch eine letzte Variante aus der Tasche und übertrumpft
meine Deutung einer Geschichte mit einem letzten, schlagenden
Argument. Meist gebe ich in solchen Fällen dann auf und denke im
Stillen weiter darüber nach, um das Drama vielleicht irgendwann
noch einmal aufrollen und mir die nächste Abfuhr vonseiten Antonias
holen zu können.
Gut, dass sie nicht
weiß, worüber ich gerade schreibe! Mit vollem Elan hätte sie sich
auf meine Internatsjahre gestürzt und mir erläutert, dass die
Trennung von meinen Eltern mich aus dem Gleis geworfen,
gleichzeitig aber auch erst jene Freiheitsimpulse freigesetzt habe,
deren ein Junge in der Adoleszenz so dringend bedürfe.
Insofern, hätte
Antonia weiter behauptet, wären meine Internatsjahre keine
vergeblichen Jahre gewesen, schließlich hätte ich dort gelernt,
meinen eigenen Gefühlen zu vertrauen und sie auch gegenüber weit
überlegenen Mächten, wie zum Beispiel denen der Kirche,
auszusprechen.
Einer solchen
Deutung hätte ich wieder einmal nur zustimmen können, denn, ja,
genau so empfand ich meine Jahre auf dem Internat aus dem Rückblick
wohl auch: Als Jahre, die meine Widerstandsimpulse verstärkt und
meine Selbständigkeit gefördert hatten. Im Nachhinein war ich sogar
stolz darauf, sie erlebt und überstanden zu haben. Ich hatte in
diesen Jahren durchaus etwas gelernt, und doch hatte ich gerade
noch zum richtigen Zeitpunkt den Absprung geschafft …
Noch an dem
fraglichen Abend meiner Rückkehr ins Internat nämlich hatten mein
Vater und der Abt in einem Zweier-Gespräch das Ende meiner
Internatszeit beschlossen. Zuvor hatten wir zu dritt länger über
meine Eindrücke und meine Einschätzungen des Internats-Daseins
gesprochen, und ich hatte, ohne zu zögern oder irgendwelche Umwege
zu machen, gesagt, wie ich die Sache sah und was ich dachte. Da die
großen Sommerferien unmittelbar bevorstanden, ließ man mich ziehen
und bestätigte mir später sogar noch in meinem Zeugnis, dass ich
die vierte Gymnasialklasse geschafft hatte.
Bereits am Morgen
des nächsten Tages packte ich meine Sachen und reiste mit meinem
Vater zurück aufs Land. Erst während der Zugreise erfuhr ich, dass
er meiner Mutter nichts von meiner Flucht aus dem Internat erzählt
hatte. Einer solchen Nachricht, behauptete er, sei sie noch immer
nicht gewachsen, eine solche Nachricht würde sie weit zurückwerfen.
Mir selbst aber machte er keinen einzigen Vorwurf, sondern tat
stillschweigend so, als hätte ich das einzig Richtige
getan.
Als ich ihn fragte,
wie es denn nun mit mir weitergehen sollte, sagte er noch während
der Fahrt, dass er daran denke, mich in Köln aufs Gymnasium zu
schicken. Wenn ich das ebenfalls wolle, müsste ich allerdings an
jedem Morgen eine Hinfahrt von fast einer Stunde im Zug und am
Mittag oder Nachmittag noch einmal eine Stunde Rückfahrt in Kauf
nehmen. Das alles sei eine Strapaze, keine Frage, aber er selbst
sei als Schulbub an jedem Morgen beinahe vierzig Minuten auf dem
Fahrrad vom Hof seiner Eltern aus zum Bahnhof und von dort noch
einmal dreißig Minuten mit dem Zug zum Gymnasium in der nächsten
Kreisstadt gefahren.
Mit der Zeit habe er
sich daran gewöhnt, und auch ich werde mich daran gewöhnen,
außerdem könne ich unterwegs Hausaufgaben machen oder etwas lesen
oder mich mit sonst etwas Interessantem beschäftigen. In Köln gebe
es jedenfalls inzwischen ein Gymnasium mit sogenanntem musischem
Zweig, und außerdem gebe es in Köln schließlich noch Walter
Fornemann, der mich von nun an wieder wöchentlich unterrichten
könne.
Ich antwortete, dass
ich mir das alles durch den Kopf gehen lassen werde, dabei konnte
ich kaum verheimlichen, wie sehr ich mich freute. Ich würde in Köln
aufs Gymnasium gehen! Ich würde beinahe jeden Tag zumindest eine
gewisse Zeit wieder in dieser mir so vertrauten und nahen Stadt
verbringen! In Walter Fornemanns Unterricht würde ich Stücke von
Schumann und Brahms spielen, und während der freien Zeit zwischen
Schule und Klavierunterricht würde ich mich am Rhein herumtreiben,
stundenlang …
Genauso ist es dann
wenig später auch gekommen. Ich bezog im noch immer einsam
gelegenen Haus meiner Eltern auf dem Land ein kleines Zimmer unter
dem Dach und ging während der sich direkt anschließenden
Sommerferien wieder zusammen mit meinem Vater auf Reisen. Damals
ahnte ich noch nicht, dass es das letzte Mal war, denn damals
konnte ich noch nicht wissen, dass meine Sehnsucht nach langen
Wanderungen und dem sorglosen Unterwegs-Sein keine einmalige Sache,
sondern ein tief sitzender Drang, ja beinahe eine Sucht war, die
sich nicht mehr bändigen ließ.
Ich war nun vierzehn
Jahre alt und bekam immer wieder zu hören, in so einem Alter
beginne die Pubertät. Meine Eltern
jedoch hatten keine richtige Ahnung davon, was das im Einzelnen
bedeutete, und auch ich wusste nicht, was ich mir darunter
vorstellen sollte.
Antonia übrigens
verwendet das Wort Pubertät nicht, weil
sie es für abstoßend und kalt hält. Stattdessen sagt sie
Adoleszenz, was sich im Italienischen
wie nostalgisches Latein anhört. Marietta steht also, wie Antonia
behauptet, kurz vor dem Eintritt in die Adoleszenz, ich dagegen
kann nicht feststellen, dass sie irgendwelche Anzeichen pubertären
Verhaltens zeigt.
Von ihrem
Schulunterricht her kennt Antonia jedoch angeblich diese Anzeichen
genau. Alles beginnt, wie sie behauptet, mit einer häufigeren
Abwesenheit des jungen Menschen von zu Hause. Zunächst fällt diese
Abwesenheit niemandem so richtig auf, selbst der junge Mensch nimmt
sie nicht bewusst wahr. Sie entsteht vielmehr ganz nebenbei, zum
Beispiel dadurch, dass er für den Schulweg länger braucht als
zuvor. Er macht Umwege, verweilt hier und da, unterhält sich,
streift umher. Am Nachmittag bleibt er nicht mehr so lange in der
elterlichen Wohnung wie bisher, sondern hat in der Umgebung oder in
der Stadt bestimmte Termine. Er
schließt sich einer Freundin oder einem Freund an, zu zweit sind
sie dann unterwegs, erkunden fremde Gegenden, nehmen Witterung auf,
sondieren das Erwachsenen-Leben. Auf schleichende Weise beginnt
damit die Entfernung von der Kindheit. Erst sind es nur einige
Minuten am Tag, dann werden es Stunden, am Ende sind die jungen
Menschen alle paar Nächte unterwegs, um kurz vor Mitternacht völlig
überanstrengt wieder zu Hause zu erscheinen.
Für Antonia steht
fest, dass auch Marietta schon bald mit solchen Streifzügen und
kleinen Expeditionen in unbekannte Gegenden der Stadt beginnt. Die
Vorzeichen sind angeblich bereits daran zu erkennen, dass sie jetzt
mittags mit einer Schulfreundin von der Schule zurückkommt, mit der
sie den Schulweg früher niemals geteilt hat. Allein gehen sie nicht auf Tour!, behauptet Antonia
und macht bei solchen Sätzen den Eindruck einer Detektivin, die
einem schwierig zu lösenden Fall auf der Spur ist.
Erst richtig
angeheizt wurde ihr Spürsinn aber an einem Nachmittag, als Marietta
sich zum Tennisspielen verabredet hatte, jedoch nicht, wie
vereinbart, zu einer bestimmten frühen Abendstunde wieder erschien.
Als die Frist um eine halbe Stunde überzogen war, klingelte Antonia
bei mir und bat mich, ihr auf einen Drink Gesellschaft zu leisten.
Sie sei nicht nervös, nein, ganz gewiss nicht, aber sie sei doch
etwas unruhig, und im Fall einer solchen Unruhe habe sie sich
einfach nicht mehr im Griff. Die Folge davon sei manchmal, dass sie
auf irgendeine Weise peinlich reagiere, das aber wolle sie diesmal
vermeiden, und zwar dadurch, dass sie mit mir zusammen ein Glas
Campari trinke.
Ich war
einverstanden, schloss die Tür hinter mir zu und ging hinüber in
die gegenüberliegende Wohnung, auf deren Namensschild es noch immer
eine Familie Caterino mit Sergio, Antonia und
Marietta gab. Ich setzte mich zu Antonia in die Küche, wir
tranken Campari und versuchten, etwas zu plaudern, währenddessen
bereitete Antonia eine Pizza vor, angeblich, um Marietta eine
besondere Freude zu machen, in meinen Augen aber, um sich etwas
abzulenken.
Ich tat, als machte
es mir nichts aus, ihr etwas zu helfen, und schnappte mir einen
kleinen Korb mit Zwiebeln und Knoblauch, um eine Portion davon in
winzigste Stücke zu schneiden. Auf dem Herd blubberten frische,
gute Tomaten vom Markt, das Küchenfenster stand offen, die letzte
Abendsonne fiel noch herein. Hätten wir nicht beide laufend an
Marietta und ihr Fernbleiben gedacht, wäre es eine friedliche,
schöne Szene gewesen, ein Betrachter hätte Antonia und mich sogar
für ein Paar halten können, das mit all seinen eingeübten
Handgriffen und seiner stillschweigenden Vertrautheit jederzeit ein
Paar für eine Pasta-Werbung im Fernsehen hätte abgeben
können.
Statt diesen
Eindruck zu erhalten, steuerte Antonia jedoch zu den harmonischen
Bildern einen Text bei, der von den schwankenden Interessen junger
Mädchen, ihrer Orientierungslosigkeit und ihrem angeblichen Hang zu
Extremen handelte. Je länger Marietta fortblieb, umso dramatischer
und leider auch theoretischer redete Antonia, schließlich erging
sie sich in der Schilderung von dubiosen Fällen an ihrer Schule,
die alle in einer Katastrophe geendet hatten.
Man kann sich daher
vorstellen, wie erleichtert ich war, als kurz vor neunzehn Uhr
Vater Sergio anrief und mitteilte, dass Marietta auf dem Rückweg
von ihrem Tennis-Spiel bei ihm vorbeigekommen sei und nun auch bei
ihm übernachten wolle. Antonia war von ihren fehlgeleiteten
furchtbaren Phantasien und Ängsten derart erschöpft, dass sie ohne
Gegenrede zustimmte, natürlich könne das Kind bei seinem Vater
übernachten, warum nicht?, sie habe sich ein klein wenig Sorgen
gemacht, aber, nun gut, sie wolle Mariettas Wünschen nicht im Wege
stehen. Das Gespräch dauerte nicht lange und endete mit ein paar
Vereinbarungen für den kommenden Morgen, danach legte Antonia das
Telefongerät beiseite und fuhr sich mit dem Rücken der rechten Hand
über die Augen, ich schaute kurz hin, konnte aber nicht entdecken,
dass sie den Tränen nahe war.
Vor uns auf dem
Tisch lag auf einem großen Holzbrett ein gewaltiger, gerade erst
aufgegangener Hefeteig für die Pizza, auf dem Herd kochten die
Tomaten, und auf meinem Platz türmte sich ein Berg mit klein
geschnittenen Zwiebeln und Knoblauch. Bereits in dem Moment, als
Antonia das Gespräch beendet hatte, wirkte all das jedoch wie
Makulatur. Im Grunde wollten Antonia und ich doch gar keine Pizza
essen, und im Grunde wollten wir auch nicht kochen.
Ich musste lachen
und sagte ihr, dass unsere Bemühungen in meinen Augen etwas
Rührendes hätten, eigentlich hätte ich nämlich gar keinen Appetit
auf Pizza. Antonia begann auch sofort zu lachen und ging dann zum
Herd, um die Flamme abzustellen. Danach räumte sie den Teig sowie
die Zwiebeln und den Knoblauch beiseite, ich half ihr, die Sachen
zu verpacken und in den Kühlschrank zu stellen, doch während wir
noch dabei waren, hielt Antonia plötzlich einen Moment inne und
sagte: Wie schön, Johannes, jetzt sind wir
endlich einmal allein.
Ich hatte alles
verstanden, jedes Wort hatte ich gehört, und doch hörte sich das
alles in meinen Ohren noch nach etwas anderem an, ja, genau, es
hörte sich an wie eine direkte Fortsetzung ihrer nächtlichen
Bemerkung: Seit anderthalb Jahren hatte ich
keinen Sex!
Durch einen
einzigen, auf den ersten Blick unschuldigen Satz herrschte in der
Küche plötzlich eine andere Atmosphäre. Wir waren nicht mehr das
besorgte und treu sorgende Paar, das für seine Kinder eine gute
Pizza zubereitet, nein, wir waren Mann und Frau, die man gerade aus
ihren Einzel-Käfigen gelassen hatte, ohne zu bedenken, dass beide
eine Weile keinen Sex mehr gehabt hatten.
Ich antwortete nicht
sofort, denn mit mir ist es in solchen Momenten immer dasselbe: Ich
sage nichts, ich warte ab, was geschieht, ich erlebe eine gewisse,
sehr angenehme Unruhe und eine gewisse, sich allmählich steigernde
Anspannung, und das alles ist mir lieber als eine rasche und
eindeutige Klärung der Situation.
Es hat schon Fälle
gegeben, in denen ich einen Abend und eine halbe Nacht damit
zugebracht habe, die Steigerungsphasen einer erotischen Annäherung
zu genießen, während ich doch beinahe die ganze Zeit über nichts
anderes gesprochen habe als über ein zu langes Tennis-Match, das
ich am Nachmittag desselben Tages im Fernsehen gesehen
hatte.
Über Tennis zu
sprechen, fällt mir leicht, ja ich glaube sogar, dass ich über
Tennis besser sprechen kann als über jede andere Sportart. Antonia
hat auch dafür eine Erklärung, und zwar die, dass Tennis eine
Sportart für verrückte Einzelgänger und ewige Kämpfer mit immenser
Ausdauer sei und eben deshalb genau die richtige Sportart für mich,
der ich für meine Romanarbeit doch ebenfalls die Erfahrungen eines
verrückten Einzelgängers und die eines ausdauernden Kämpfers
bräuchte. Kein Wunder also, dass Tennis mich mehr interessiere als
Fußball, Fußball sei eben mehr etwas für Männer mit einem gut
ausgeprägten Gemeinschafts- oder Geselligkeits-Sinn wie ihn etwa
Sergio, ihr Mann, schon allein dadurch besitze, dass er mit vier
Geschwistern groß geworden sei …
Ich sagte also
zunächst nichts, ärgerte mich dann aber, dass ich schon wieder
dabei war, in die Rolle des zurückhaltenden Beobachters zu
schlüpfen. Wegen dieses leichten Ärgers begann ich daher nun doch
zu reden, ich sprach davon, dass ich einmal eine Zeit lang Tennis
gespielt hätte, es sollte sich so anhören, als wollte ich wieder
einmal über das Thema Tennis plaudern, klang nun aber so, als
wollte ich auf dem Weg über das Thema Tennis wieder den Faden zum
Thema Marietta aufgreifen.
An Antonias Reaktion
bemerkte ich, dass sie diesen Faden aber keineswegs aufgreifen
wollte, ach, sagte sie, reden wir nicht über Tennis und Marietta, reden wir lieber
einmal von Dir!
Von mir?! Wirklich
von mir?! Hatte sie das wirklich gesagt und meinte sie das etwa
auch so?!
Ich habe bereits
erzählt, wie selten es geschieht, dass mich jemand bittet, von mir
zu erzählen. Da es aber so selten geschieht, bin ich auch nicht
daran gewöhnt, so etwas zu tun. Ich kann mich jedenfalls nicht
erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Restaurant oder in einer
Kneipe zusammen mit einem Freund oder einer Freundin gesessen habe
und ihnen etwas Privates von mir erzählt hätte.
Wenn ich aber doch
einmal von mir erzähle, tue ich das in schriftlicher Form wie zum
Beispiel in einem Roman, der von mir handelt. Auch in Briefen und
Mails kann ich, wenn auch nicht so gut wie in der Romanform, von
mir erzählen. In all diesen Fällen habe ich nämlich das Gefühl, die
Steuerung und die Herrschaft über mein Erzählen zu behalten. Beim
mündlichen Erzählen aber und beim Anblick eines vielleicht sogar
noch nahen Gegenübers ist das nicht möglich. Vielleicht beginne ich
in solchen Fällen manchmal noch, etwas von mir zu erzählen, schon
nach wenigen Minuten ist das aber meist wieder vorbei, und ich habe
eine geschickte Überleitung zu anderen Themen gewählt.
Nein, von mir
erzählen kann ich einfach nicht, und natürlich ist auch diese
Unfähigkeit eine Folge meiner frühsten Kindheit, als jede Frage an
das stumme Kind mir wie eine Bedrohung erschien und ich wegen
meiner Stummheit nicht antworten konnte. So gesehen, verfolgt mich
meine Kindheit noch immer, ja, sie verfolgt mich, wohin auch immer
ich gehe und obwohl ich gegen nichts so sehr anzukämpfen versuche
wie gegen diese Verfolgung und gegen die Nachwirkungen, die mir von
meiner Kindheit geblieben sind.
Der ausdauerndste
und längste Kampf, den ich gegen diese Nachwirkungen führe, besteht
in meinem Schreiben. All mein ewiges Schreiben, könnte ich nämlich
behaupten, besteht letztlich nur darin, aus mir einen anderen
Menschen als den zu machen, der ich in meiner Kindheit gewesen bin.
Irgendwann soll nichts mehr an dieses Kind erinnern, irgendwann
möchte ich Geschichten erzählen, die nicht mehr den geringsten
Anschein erwecken, noch etwas mit meiner Kindheit zu tun zu haben.
Bisher ist mir das selbst in mehreren Jahrzehnten noch nicht
gelungen, auch wenn es bei manchen meiner Romane und Geschichten
auf den ersten Blick so aussieht, als wäre ich meinem alten Thema
endlich entkommen.
Der erste Blick aber
trügt, es ist ein flüchtiger, oberflächlicher Blick, es ist der
Blick von Lesern, die sich leicht täuschen lassen. All die Leser
jedoch, die mich auch privat etwas genauer kennen, bemerken während
der Lektüre meiner Bücher sehr schnell, an welchen Stellen ich mich
wieder in meine privaten Obsessionen verstrickt habe. Ich selbst
fürchte diese Stellen, denn natürlich fürchte ich, dass ich gerade
in solchen Passagen etwas allzu Privates oder Intimes
preisgebe.
Das Private oder
Intime besteht übrigens nicht unbedingt darin, dass ich auf Details
meines Lebens zu sprechen komme, nein, keineswegs, von solchen
Details lässt sich vielmehr durchaus leicht und distanziert
erzählen, und zwar gerade deshalb, weil sie Teile einer Erzählung
und damit einer offenen Mitteilung sind. Das wirklich Intime
dagegen ist unter der Oberfläche versteckt, es sitzt im Untergrund
der Details, es arbeitet mit versteckten Andeutungen, mit winzigen
Spuren und Fährten …
Genug davon,
verdammt! Was denke ich über die Untiefen meiner Romane nach, ich
wollte doch von dem Abend mit Antonia erzählen! Reden wir von Dir, hatte Antonia gesagt, und ich
hatte die Aufforderung sofort als eine Bedrohung oder
Überschreitung einer Grenze verstanden. Kein Wunder also, dass es
mir in Antonias Küche zu eng wurde und ich sofort reagierte, indem
ich sie betont locker, und als käme mir gerade ein glänzender
Einfall, zum Essen einlud. Antonia erwiderte, dass sie keine Lust
habe, ins Zentrum zu fahren und auch keine Lust, lange spazieren zu
gehen, sie wolle sich mit mir unterhalten, dazu habe sie Lust. Ich
tat, als ginge es mir genauso, obwohl ich mir gerade von einer
Metro-Fahrt ins Zentrum bereits einige Übergänge zu anderen
Gesprächs-Themen versprochen hatte. Ich kam aber gar nicht mehr
dazu, noch weitere Vorschläge zu machen, denn Antonia machte
unserem Hin und Her einfach ein Ende, indem sie sagte: Komm, Johannes, dann gehen wir ins
Cantinone!
Ich kannte das
Restaurant Il Cantinone genau, bereits
mehrere Male hatte ich mittags oder abends allein in ihm gegessen,
denn es liegt direkt am Markt, so dass man auch als allein essender
Gast ein sehr lebendiges Umfeld für seine Beobachtungen hat. Das
Essen dort besteht in einer einfachen, römischen Küche, ja die
Küche ist sogar typisch für dieses Viertel rund um den alten
Schlachthof, weil man in ihm noch immer jene Mahlzeiten (wie etwa
Innereien verschiedenster Art) bekommt, die es früher in den alten
Trattorien nach frischen Schlachtungen gegeben hat.
Ich kehrte noch
einmal kurz in meine Wohnung zurück und holte mir eine Jacke, dann
gingen Antonia und ich zusammen die Treppe herunter, wir sagten
beide nichts, aber ich hatte das Gefühl, als empfänden wir in
diesem Moment eine besondere Verbundenheit, wie ein Paar, das
gemeinsam eine schwierige Situation erlebt und gut überstanden
hatte. Unten auf der Straße glaubte ich dann sogar, dass Antonia
sich bei mir einhängen wollte, sie machte jedenfalls eine kurze
Geste in dieser Richtung, ließ es dann aber doch sein, als traute
sie sich einfach noch nicht. Und so überquerten wir nebeneinander,
und ohne uns zu berühren, den inzwischen bereits leicht
erleuchteten Platz und gingen in das Restaurant, wo im Außenbereich
noch ein Ecktisch frei war.
Eine Mahlzeit wie
die, die nun folgte, habe ich noch nie erlebt. Denn in ihrem
langen, bis weit nach Mitternacht dauernden Verlauf kam es immer
wieder zu durchaus ernst gemeinten Versuchen von meiner Seite,
etwas von mir zu erzählen. Die meisten Anläufe dazu brach ich
unauffällig ab und kam nicht wieder auf das jeweilige Thema zurück.
Als ich aber in einem stillen Moment darüber nachdachte, warum das
so war, erkannte ich zum ersten Mal in voller Klarheit, dass es
jedes Mal um Geschichten und Themen ging, die in irgendeiner Weise
zurück in meine frühste Kindheit geführt hätten.
So war das also! Ich
umging diese Kindheit um jeden Preis und konnte anscheinend nur von
Zeiten und Zusammenhängen erzählen, bei denen ich keine Verbindung
zu meiner Kindheit herstellen musste.
Als noch
überraschender empfand ich dann aber eine weitere Entdeckung, die
ich kurze Zeit später machte: Ich konnte nämlich durchaus von mir
und meinem Leben berichten, wenn ich dazu überging, Ausschnitte aus
meinem Roman so zu erzählen, als fielen mir diese Geschichten
gerade erst ein. Natürlich erwähnte ich in so einem Fall mit keinem
Wort, dass es sich um Roman-Ausschnitte handelte, und natürlich
hatte ich sie auch nicht Wort für Wort im Kopf. Die großen
Zusammenhänge aber, die Erzähllinien, die kannte ich ja durchaus,
schließlich war ich gerade dabei, mein halbes Leben auf Hunderten
von Seiten in einem Roman zu erzählen!
Der Trick, den ich
anwenden musste, bestand also darin, mich an die Schriftfassung
einzelner Lebensgeschichten zu erinnern. Wenn mir das gelang,
erzählte ich flüssig und ohne Hemmungen.
Ich kann kaum
beschreiben, wie glücklich ich in dem Moment war, als ich diese für
mich sehr bedeutsame Entdeckung machte. Das Schreiben half mir also
nicht nur indirekt weiter, indem es Klarheit und Struktur in meine
Phantasien und Gedanken brachte, nein, es half mir auch mitten im
Leben, ganz direkt, indem es mir Erzähl-Versionen von Bruchstücken
meiner Lebensgeschichte lieferte, die ich dann selbst einer mir
noch relativ fremden Person erzählen konnte!
Stell Dir vor, Antonia, sagte ich also,
ich habe als junger Mensch einmal ein Internat
besucht. Und als ich sah, wie Antonia sich mir gegenüber
etwas vorbeugte und mich so anschaute, als interessierte sie diese
Geschichte wirklich, fuhr ich fort: Das
Internat war in einem großen Klosterbezirk untergebracht, es gab
eine Klosterkirche, einen Klostergarten und einen barocken
Klosterbau. Geleitet wurde es damals, in den frühen sechziger
Jahren, noch von Zisterzienser-Mönchen …
Gegen ein Uhr in der
Nacht, als das Il Cantinone dann
schloss, waren wir die letzten Gäste. Wir überquerten wieder den
Platz vor unserem Wohnhaus, diesmal hatte sich Antonia bei mir
eingehängt. Ich schloss die Haustür auf, dann gingen wir die Treppe
hinauf. Als wir beide vor unseren Wohnungstüren standen, war die
Versuchung groß, nur eine dieser beiden Türen zu
öffnen.
Ich gab mir einen
Ruck und sagte genau diesen Satz, ja, wahrhaftig, ich sagte:
Jetzt ist die Versuchung groß, nur eine dieser
beiden Türen zu öffnen.
Antonia stand dicht
vor mir, ich sah, wie sie über meinen Satz lächelte. Dann gab sie
mir einen flüchtigen Kuss und antwortete: Ich
finde, wir sollten dieser Versuchung heute noch
widerstehen.
Ich nickte und
wandte mich zu meiner Tür, um sie aufzuschließen. Am liebsten hätte
ich mich jedoch noch einmal mit Antonia in ihre Küche gesetzt. Wir
hätten eine Flasche Wein geöffnet, und ich hätte zum ersten Mal in
meinem Leben einem anderen Menschen von jenen Tagen in meiner
Adoleszenz erzählt, als ich mutterseelenallein nach Rom
aufbrach...