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ROM – ich kann gar
nicht sagen, wie ich mich auf den Augenblick gefreut habe, von
meinen Jugendjahren in dieser Stadt erzählen zu können! Innerlich
spürte ich beim Nachdenken über mein Leben immer, dass alles auf
diese Jahre in Rom zulief und dass sie die wichtigste Zeit meines
Lebens waren. Vor allem um dieser Zeit wieder nahe zu sein, bin ich
ja, ehrlich gesagt, auch hierher aufgebrochen und schreibe jetzt
ausgerechnet hier Tag für Tag an meiner Erzählung.
Während dieser
Arbeit habe ich mich jedoch an den Vorsatz gehalten, all jene Orte,
an denen ich mich früher einmal herumgetrieben oder sogar gelebt
habe, nicht aufzusuchen. Ich habe vielmehr möglichst einen weiten
Bogen um sie gemacht, als wären es brandgefährliche oder riskante
Orte, die meine gesamten Phantasien sofort besetzen oder
durcheinanderbringen könnten.
So habe ich bis
jetzt nur manchmal an sie gedacht, bis jetzt, wo ich mit der
Schilderung meiner Kindheit und Jugend in Deutschland an ein
vorläufiges Ende gekommen bin. Ich wollte all die in Deutschland
verbrachten Jahre noch einmal genau vor mir sehen und sie ohne jede
Ablenkung oder Störung besser begreifen, ja ich wollte sie
unbedingt noch einmal in allen mir wichtigen Einzelheiten erleben,
um mich danach wieder frei in Rom bewegen zu können.
Woher damals der
erste Impuls kam, hierher zu reisen, habe ich bereits angedeutet.
Zunächst handelte es sich nur um eine unbestimmte Idee, die sich an
die Erzählungen meines Onkels und den ebenfalls seit Langem
bestehenden Wunsch anlehnte, auch einmal ins Ausland und vor allem
nach Italien zu reisen.
In meinen gesamten
Ferienzeiten während der letzten Gymnasialjahre war ich nämlich nie
ins Ausland gefahren, sondern hatte viele deutsche Landschaften
meist zu Fuß oder mit dem Fahrrad durchstreift. Ich war durch
Schleswig-Holstein und von Hamburg aus südlich an der Elbe
entlanggefahren, ich war den Rhein von Mainz bis zur holländischen
Grenze stromabwärts gewandert, ich war am Main und an der Donau
gewesen und hatte ihren Lauf für einige Wochen begleitet – immer
wieder war ich dabei allein unterwegs gewesen, und immer wieder
hatten diese Reisen denselben Zielen gegolten.
Zum einen bestanden
diese Ziele aus Konzertsälen aller Art, in denen ich möglichst auch
gleich einen Klavierabend erleben wollte, zum anderen aber
bestanden sie aus Kirchen, von denen ich die meisten nur wegen
ihrer Orgeln, andere wegen ihrer Kunstdenkmäler, viele aber auch
wegen ihrer Akustik besuchte. Das notwendige Reisegeld verdiente
ich mir mit Auftritten in Wirtschaften, Clubs und anderen
Versammlungsstätten, wo ich keineswegs nur klassische Musik,
sondern die seltsamsten Programme spielte.
Es waren Programme
von zweimal dreißig oder wahlweise auch fünfundvierzig Minuten, die
aus kurzen, höchstens fünfminütigen Stücken bestanden, auf Domenico
Scarlatti folgte Duke Ellington, auf Joseph Haydn folgte Ravel, und
zwischendurch improvisierte ich frei über Motive, die ich aus der
Pop-Musik, Schlagern oder einfach nur aus zufällig mitgehörten
Radio-Sendungen entlehnt hatte.
Auch in Köln trat
ich mit solchen Programmen auf, verwendete jedoch bei all diesen
Gelegenheiten ein Pseudonym, da ich meinen guten Ruf als
klassischer Pianist nicht vorzeitig ruinieren wollte. Hätte Walter
Fornemann erfahren, mit welchen Musik-Programmen ich mein Geld
verdiente, wäre ich nicht länger sein Schüler
geblieben.
All diese Reisen und
Unternehmungen aber hatten auf die Dauer immer mehr die Sehnsucht
verstärkt, den deutschsprachigen Raum endlich einmal zu verlassen.
Die Hauptursache dafür, dass ich das nicht tat, bestand in meiner
geradezu abnormen und mir nicht auszuredenden Angst davor, im
Ausland Tag und Nacht eine fremde Sprache sprechen zu
müssen.
Ich hatte mich mit
Leuten unterhalten, die mein Sprachproblem und meine daher
rührenden Ängste kannten. Sie hatten zwar kategorisch
ausgeschlossen, dass ich die eigene Sprache wieder verlieren würde,
wenn ich mich intensiv auf eine fremde einließ, ich selbst war mir
da aber nicht sicher, sondern argwöhnte lange Zeit, dass so etwas
sehr leicht passieren könnte.
Schon im
Schulunterricht hatte mich das Erlernen fremder Sprachen häufig
verwirrt, weshalb ich keine Fremdsprache auch nur in Ansätzen
richtig gelernt, sondern es nur zu einem passiven Leser von Texten
und zu einem Wiederkäuer von vorgefertigten sprachlichen Wendungen
gebracht hatte. Flüssig und unangestrengt eine fremde Sprache zu
sprechen, das war mir nie gelungen, ja ich hielt es sogar für
unmöglich, dass mir so etwas je gelingen würde.
War es vor dem
Hintergrund dieser Erfahrungen aber nicht denkbar, dass ich im
Ausland, wenn ich nicht nur ein paar Stunden, sondern unaufhörlich
eine fremde Sprache sprechen musste, in seltsame und unerwartete
Konfusionen geriet? Schließlich verlief alles, was mit dem
Sprechen, der Sprache und meiner Vorstellungskraft zu tun hatte, in
meinem Fall nicht normal, sondern häufig auf unerwartete, verquere
Art. Wie aber, wenn mich in einem solchen unerwarteten Fall niemand
verstand und ich ganz auf mich selbst angewiesen war? Am Ende hätte
ich vielleicht irgendwo krank und verstört im fernen Ausland
gesessen und es nicht einmal fertiggebracht, einen einzigen
verständlichen Satz zu formulieren.
Schon allein der
Gedanke an Reisen ins fremdsprachige Ausland hatte in mir also
bereits eine gewisse Panik ausgelöst, so dass ich mich höchstens
bis in Regionen vorgetraut hatte, wo zumindest zum Großteil Deutsch
und nur von Minderheiten andere Sprachen gesprochen wurden. Eine
dieser bevorzugten Regionen war Zürich gewesen, dorthin war ich
sogar immer wieder und fast regelmäßig mehrmals im Jahr
gefahren.
In Zürich besuchte
ich Klavierabende in der Tonhalle, dort trat ich in einem kleinen
Club direkt an der Limmat auf, ja, ich hatte in Zürich sogar einige
Bekannte, die sich über meine Besuche freuten und mit mir
Streifzüge durch die Stadt unternahmen. Auf diesen Streifzügen
durch die Cafés und Lokale war ich nicht nur einigen Schweizer
Schriftstellern begegnet, nein, ich war auch immer wieder in kleine
Gesprächsrunden geraten, in denen entweder Schweizer-Deutsch oder
Französisch, Englisch oder Italienisch gesprochen
wurde.
Meine Zürcher
Freunde hatten mit diesen plötzlichen Sprüngen von der eigenen
Sprache in eine andere keine Probleme, meist beherrschten sie das
Französische und Italienische sogar so selbstverständlich, dass sie
mitten im Satz die Sprache wechseln konnten. Ich selbst aber geriet
in solchen Situationen schon nach Sekunden derart durcheinander,
dass ich mich wenige Minuten später unter einem Vorwand
verabschieden und das Weite suchen musste.
Nichts wie weg!
Hinaus aus diesem Café! Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich
wieder beruhigt hatte, denn während der mehrsprachigen
Gesprächsrunden hatte ich das Gefühl gehabt, die deutschen Worte in
meinem Kopf würden eins nach dem anderen durch fremdsprachige
ersetzt. Ich spürte genau, wie sie zugunsten eines Kauderwelschs
verschwanden, sie lösten sich auf oder veränderten sich, sie wurden
flüssig oder zerbrachen in unverständliche, kleine
Bestandteile.
Kann man sich
vorstellen, dass ich mich in solchen Panik-Momenten an einen
ruhigen Ort wie zum Beispiel den Zürcher-See setzen musste, um
wieder zu mir zu kommen? Und kann man sich vorstellen, dass der
dann regungslos dasitzende, konfus gewordene Mensch im Stillen
begann, Gedichte zu rezitieren, um sich des besonderen Klangs und
Ausdrucks der deutschen Sprache wieder zu
vergewissern?
Ich möchte von
diesen sonderbaren Momenten, die hoffentlich für immer hinter mir
liegen, nicht weitererzählen, ich erwähne sie an dieser Stelle auch
nur, um an einem Beispiel zu zeigen, dass meine Angst vor einem
Aufenthalt im fremdsprachigen Ausland nicht unbegründet war.
Solchen Aufenthalten deswegen aber ein Leben lang aus dem Weg zu
gehen, war auch nicht möglich, irgendwann musste ich einen Versuch
wagen.
Daher hatte ich mich
schließlich auf die Phantasie eingelassen, sofort nach dem Abitur
für zwei, drei Wochen nach Rom zu reisen. Vom ersten Moment ihrer
Entstehung in den Essener Tagen an
verwandte ich auf die Ausschmückung dieser Phantasie einige Arbeit.
Ich las viel über Rom und schaute mir lauter Filme an, die in Rom
spielten. Nach einer Weile war ich so voller Bilder, dass ich an
einem Nachmittag in einem Kölner Brauhaus mit eigenartigen Notizen
begann, die einem nicht informierten Leser wie Römische Notizen hätten erscheinen
können.
Ich habe diese alten
Notizen jetzt vor mir, und ich öffne jetzt die kleine, schwarze
Kladde, die ich als junger Mann noch in Köln angelegt habe, um mich
in die Ferne zu hexen und nach Rom zu phantasieren: Ein einfaches, karges Zimmer mit einer schmalen, flachen
Liege … Eine Front von verschlossenen, grünen Läden... Ein alter,
kahlköpfiger Mann im weißen Unterhemd … Die Palmen im Innenhof, in
ihrer Mitte ein kleiner Brunnen … In einer Kirche knien
ausschließlich Frauen, jede von ihnen in einer anderen Bank … Die
gewundene Gasse, die so aussieht, als wäre sie ein immer schmaler
werdender Geheimnisweg, den man nicht mehr zurück-, sondern auf dem
man immer nur vorangehen kann …
All diese kleinen
Beobachtungen und Bilder hatte ich entweder Büchern oder Filmen
entnommen, ja, ich hatte während meiner Lektüre und während meines
Schauens von Filmen begonnen, mir solche Bilder zu merken, um sie
schließlich auch schriftlich zu speichern.
Es war ein ganz und
gar verrücktes Projekt, das ich dem alten Sprachlernprogramm meines
Vaters abgeschaut hatte. Bild für Bild und Raum für Raum setzte ich
Rom in meinem Kopf zusammen, bis ich bei der Nennung von bestimmten
Straßennamen sogar einige entsprechende Bilder vor Augen
hatte.
Ich wollte in Rom
ankommen als einer, der bereits mit Bildern von dieser Stadt
gesättigt war, ich wollte Rom nicht als eine fremde, sondern als
eine Stadt betreten, die ich in meiner Phantasie längst
durchstreift hatte und die mir daher vielleicht noch vertrauter war
als eine mir unbekannte deutsche Stadt. So glaubte ich, gegen meine
Ängste gewappnet zu sein …