35
 
ROM – ich kann gar nicht sagen, wie ich mich auf den Augenblick gefreut habe, von meinen Jugendjahren in dieser Stadt erzählen zu können! Innerlich spürte ich beim Nachdenken über mein Leben immer, dass alles auf diese Jahre in Rom zulief und dass sie die wichtigste Zeit meines Lebens waren. Vor allem um dieser Zeit wieder nahe zu sein, bin ich ja, ehrlich gesagt, auch hierher aufgebrochen und schreibe jetzt ausgerechnet hier Tag für Tag an meiner Erzählung.
Während dieser Arbeit habe ich mich jedoch an den Vorsatz gehalten, all jene Orte, an denen ich mich früher einmal herumgetrieben oder sogar gelebt habe, nicht aufzusuchen. Ich habe vielmehr möglichst einen weiten Bogen um sie gemacht, als wären es brandgefährliche oder riskante Orte, die meine gesamten Phantasien sofort besetzen oder durcheinanderbringen könnten.
So habe ich bis jetzt nur manchmal an sie gedacht, bis jetzt, wo ich mit der Schilderung meiner Kindheit und Jugend in Deutschland an ein vorläufiges Ende gekommen bin. Ich wollte all die in Deutschland verbrachten Jahre noch einmal genau vor mir sehen und sie ohne jede Ablenkung oder Störung besser begreifen, ja ich wollte sie unbedingt noch einmal in allen mir wichtigen Einzelheiten erleben, um mich danach wieder frei in Rom bewegen zu können.
 
Woher damals der erste Impuls kam, hierher zu reisen, habe ich bereits angedeutet. Zunächst handelte es sich nur um eine unbestimmte Idee, die sich an die Erzählungen meines Onkels und den ebenfalls seit Langem bestehenden Wunsch anlehnte, auch einmal ins Ausland und vor allem nach Italien zu reisen.
In meinen gesamten Ferienzeiten während der letzten Gymnasialjahre war ich nämlich nie ins Ausland gefahren, sondern hatte viele deutsche Landschaften meist zu Fuß oder mit dem Fahrrad durchstreift. Ich war durch Schleswig-Holstein und von Hamburg aus südlich an der Elbe entlanggefahren, ich war den Rhein von Mainz bis zur holländischen Grenze stromabwärts gewandert, ich war am Main und an der Donau gewesen und hatte ihren Lauf für einige Wochen begleitet – immer wieder war ich dabei allein unterwegs gewesen, und immer wieder hatten diese Reisen denselben Zielen gegolten.
 
Zum einen bestanden diese Ziele aus Konzertsälen aller Art, in denen ich möglichst auch gleich einen Klavierabend erleben wollte, zum anderen aber bestanden sie aus Kirchen, von denen ich die meisten nur wegen ihrer Orgeln, andere wegen ihrer Kunstdenkmäler, viele aber auch wegen ihrer Akustik besuchte. Das notwendige Reisegeld verdiente ich mir mit Auftritten in Wirtschaften, Clubs und anderen Versammlungsstätten, wo ich keineswegs nur klassische Musik, sondern die seltsamsten Programme spielte.
Es waren Programme von zweimal dreißig oder wahlweise auch fünfundvierzig Minuten, die aus kurzen, höchstens fünfminütigen Stücken bestanden, auf Domenico Scarlatti folgte Duke Ellington, auf Joseph Haydn folgte Ravel, und zwischendurch improvisierte ich frei über Motive, die ich aus der Pop-Musik, Schlagern oder einfach nur aus zufällig mitgehörten Radio-Sendungen entlehnt hatte.
Auch in Köln trat ich mit solchen Programmen auf, verwendete jedoch bei all diesen Gelegenheiten ein Pseudonym, da ich meinen guten Ruf als klassischer Pianist nicht vorzeitig ruinieren wollte. Hätte Walter Fornemann erfahren, mit welchen Musik-Programmen ich mein Geld verdiente, wäre ich nicht länger sein Schüler geblieben.
 
All diese Reisen und Unternehmungen aber hatten auf die Dauer immer mehr die Sehnsucht verstärkt, den deutschsprachigen Raum endlich einmal zu verlassen. Die Hauptursache dafür, dass ich das nicht tat, bestand in meiner geradezu abnormen und mir nicht auszuredenden Angst davor, im Ausland Tag und Nacht eine fremde Sprache sprechen zu müssen.
Ich hatte mich mit Leuten unterhalten, die mein Sprachproblem und meine daher rührenden Ängste kannten. Sie hatten zwar kategorisch ausgeschlossen, dass ich die eigene Sprache wieder verlieren würde, wenn ich mich intensiv auf eine fremde einließ, ich selbst war mir da aber nicht sicher, sondern argwöhnte lange Zeit, dass so etwas sehr leicht passieren könnte.
Schon im Schulunterricht hatte mich das Erlernen fremder Sprachen häufig verwirrt, weshalb ich keine Fremdsprache auch nur in Ansätzen richtig gelernt, sondern es nur zu einem passiven Leser von Texten und zu einem Wiederkäuer von vorgefertigten sprachlichen Wendungen gebracht hatte. Flüssig und unangestrengt eine fremde Sprache zu sprechen, das war mir nie gelungen, ja ich hielt es sogar für unmöglich, dass mir so etwas je gelingen würde.
War es vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen aber nicht denkbar, dass ich im Ausland, wenn ich nicht nur ein paar Stunden, sondern unaufhörlich eine fremde Sprache sprechen musste, in seltsame und unerwartete Konfusionen geriet? Schließlich verlief alles, was mit dem Sprechen, der Sprache und meiner Vorstellungskraft zu tun hatte, in meinem Fall nicht normal, sondern häufig auf unerwartete, verquere Art. Wie aber, wenn mich in einem solchen unerwarteten Fall niemand verstand und ich ganz auf mich selbst angewiesen war? Am Ende hätte ich vielleicht irgendwo krank und verstört im fernen Ausland gesessen und es nicht einmal fertiggebracht, einen einzigen verständlichen Satz zu formulieren.
 
Schon allein der Gedanke an Reisen ins fremdsprachige Ausland hatte in mir also bereits eine gewisse Panik ausgelöst, so dass ich mich höchstens bis in Regionen vorgetraut hatte, wo zumindest zum Großteil Deutsch und nur von Minderheiten andere Sprachen gesprochen wurden. Eine dieser bevorzugten Regionen war Zürich gewesen, dorthin war ich sogar immer wieder und fast regelmäßig mehrmals im Jahr gefahren.
In Zürich besuchte ich Klavierabende in der Tonhalle, dort trat ich in einem kleinen Club direkt an der Limmat auf, ja, ich hatte in Zürich sogar einige Bekannte, die sich über meine Besuche freuten und mit mir Streifzüge durch die Stadt unternahmen. Auf diesen Streifzügen durch die Cafés und Lokale war ich nicht nur einigen Schweizer Schriftstellern begegnet, nein, ich war auch immer wieder in kleine Gesprächsrunden geraten, in denen entweder Schweizer-Deutsch oder Französisch, Englisch oder Italienisch gesprochen wurde.
Meine Zürcher Freunde hatten mit diesen plötzlichen Sprüngen von der eigenen Sprache in eine andere keine Probleme, meist beherrschten sie das Französische und Italienische sogar so selbstverständlich, dass sie mitten im Satz die Sprache wechseln konnten. Ich selbst aber geriet in solchen Situationen schon nach Sekunden derart durcheinander, dass ich mich wenige Minuten später unter einem Vorwand verabschieden und das Weite suchen musste.
Nichts wie weg! Hinaus aus diesem Café! Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich wieder beruhigt hatte, denn während der mehrsprachigen Gesprächsrunden hatte ich das Gefühl gehabt, die deutschen Worte in meinem Kopf würden eins nach dem anderen durch fremdsprachige ersetzt. Ich spürte genau, wie sie zugunsten eines Kauderwelschs verschwanden, sie lösten sich auf oder veränderten sich, sie wurden flüssig oder zerbrachen in unverständliche, kleine Bestandteile.
Kann man sich vorstellen, dass ich mich in solchen Panik-Momenten an einen ruhigen Ort wie zum Beispiel den Zürcher-See setzen musste, um wieder zu mir zu kommen? Und kann man sich vorstellen, dass der dann regungslos dasitzende, konfus gewordene Mensch im Stillen begann, Gedichte zu rezitieren, um sich des besonderen Klangs und Ausdrucks der deutschen Sprache wieder zu vergewissern?
Ich möchte von diesen sonderbaren Momenten, die hoffentlich für immer hinter mir liegen, nicht weitererzählen, ich erwähne sie an dieser Stelle auch nur, um an einem Beispiel zu zeigen, dass meine Angst vor einem Aufenthalt im fremdsprachigen Ausland nicht unbegründet war. Solchen Aufenthalten deswegen aber ein Leben lang aus dem Weg zu gehen, war auch nicht möglich, irgendwann musste ich einen Versuch wagen.
 
Daher hatte ich mich schließlich auf die Phantasie eingelassen, sofort nach dem Abitur für zwei, drei Wochen nach Rom zu reisen. Vom ersten Moment ihrer Entstehung in den Essener Tagen an verwandte ich auf die Ausschmückung dieser Phantasie einige Arbeit. Ich las viel über Rom und schaute mir lauter Filme an, die in Rom spielten. Nach einer Weile war ich so voller Bilder, dass ich an einem Nachmittag in einem Kölner Brauhaus mit eigenartigen Notizen begann, die einem nicht informierten Leser wie Römische Notizen hätten erscheinen können.
 
Ich habe diese alten Notizen jetzt vor mir, und ich öffne jetzt die kleine, schwarze Kladde, die ich als junger Mann noch in Köln angelegt habe, um mich in die Ferne zu hexen und nach Rom zu phantasieren: Ein einfaches, karges Zimmer mit einer schmalen, flachen Liege … Eine Front von verschlossenen, grünen Läden... Ein alter, kahlköpfiger Mann im weißen Unterhemd … Die Palmen im Innenhof, in ihrer Mitte ein kleiner Brunnen … In einer Kirche knien ausschließlich Frauen, jede von ihnen in einer anderen Bank … Die gewundene Gasse, die so aussieht, als wäre sie ein immer schmaler werdender Geheimnisweg, den man nicht mehr zurück-, sondern auf dem man immer nur vorangehen kann …
 
All diese kleinen Beobachtungen und Bilder hatte ich entweder Büchern oder Filmen entnommen, ja, ich hatte während meiner Lektüre und während meines Schauens von Filmen begonnen, mir solche Bilder zu merken, um sie schließlich auch schriftlich zu speichern.
Es war ein ganz und gar verrücktes Projekt, das ich dem alten Sprachlernprogramm meines Vaters abgeschaut hatte. Bild für Bild und Raum für Raum setzte ich Rom in meinem Kopf zusammen, bis ich bei der Nennung von bestimmten Straßennamen sogar einige entsprechende Bilder vor Augen hatte.
Ich wollte in Rom ankommen als einer, der bereits mit Bildern von dieser Stadt gesättigt war, ich wollte Rom nicht als eine fremde, sondern als eine Stadt betreten, die ich in meiner Phantasie längst durchstreift hatte und die mir daher vielleicht noch vertrauter war als eine mir unbekannte deutsche Stadt. So glaubte ich, gegen meine Ängste gewappnet zu sein …