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WENN ICH an diese frühen Jahre meines Lebens zurückdenke, kommen sie mir vor wie ein Film aus den dreißiger Jahren. Es ist ein Film in Schwarz-Weiß mit einem dumpfen, wackligen Ton, man sieht die Darsteller sprechen, hört sie aber zeitversetzt, einige Bruchteile von Sekunden später. Die Personen bewegen sich langsam, wie in Trance, der Hintergrund ist leicht verschwommen, alles wirkt gedämpft und durchdrungen von einer nicht abzuschüttelnden Melancholie. Die Jahre des Krieges scheinen noch allgegenwärtig, als wären die Menschen erst gerade den Luftschutzkellern und Bunkern entkommen und als hätten sie den Staub noch nicht ganz von den Mänteln geschüttelt. Angst und Erschöpfung sind im alltäglichen Leben zu spüren, das viel langsamer verläuft als das Leben heutzutage, ja beinahe zeitlupenhaft an einem vorbeizieht. Ich aber, der stumme Beobachter, schaue auf das alles aus einer starren Distanz. Es ist, als hätte sich zwischen mir und der Welt ein unüberwindbarer Graben aufgetan. Ich blicke über diesen Graben hinweg, ich blicke hinüber in das Land der Handelnden und Sprechenden, dieses Land aber ist für mich nicht zu erreichen.
Ich weiß nicht, wie zeittypisch solche Wahrnehmungen sind, vielleicht sind sie auch weniger zeittypisch als typisch für meine eigene, besondere Wahrnehmung, die Sehen, Hören und Denken oft nicht zusammenbrachte. Häufig kam es nämlich vor, dass ich beinahe zwanghaft nur mit einem meiner Sinne beschäftigt war, ich starrte auf irgendein Detail meiner Umgebung und hörte nichts mehr, oder ich hörte Musik und nahm den Raum um mich herum nicht mehr wahr. Wollte ich aber einmal über etwas nachdenken, störten sowohl Sehen wie Hören, und ich brauchte für mein verqueres Phantasieren eigene Räume wie zum Beispiel den Raum der kleinen Marien-Kapelle, in dem mich nichts ablenkte.
 
Noch viel schwieriger aber wurde alles, wenn die Außenwelt direkt auf mich zukam und von mir eine rasche Antwort verlangte. In solchen Fällen brauchte ich einige Zeit, um die jeweilige Frage zu verstehen und mir zusätzlich auch noch zu überlegen, was ich tun sollte. Da ich nicht sprechen konnte, musste ich auf irgendeine andere Weise reagieren, die aber fiel mir oft nicht gleich ein, so dass ich nicht selten eine hilflose, unverständliche Geste gemacht habe. Manchmal wirkte eine solche Geste, als wollte ich in Ruhe gelassen werden, genau das aber wollte ich eigentlich nicht sagen, die Geste sah nur danach aus und wirkte so schroff, weil ich nicht anders reagieren konnte.
 
Später erst ist mir aufgefallen, wie sehr gerade Lesen und Schreiben das Zusammenspiel der Sinne trainieren. Ununterbrochen waren die Mitschüler in der ersten Volksschul-Klasse ja genau damit beschäftigt: Einen an die Tafel gemalten Buchstaben oder ein Bild zu kopieren, ihn nachzuschreiben oder abzumalen und das alles mit bestimmten Lauten, Worten und Sätzen in Verbindung zu bringen. Für mich ging das alles zu schnell, jedes Mal blieb ich im Training dieser Abläufe irgendwo stecken und widmete mich einem Detail, das ich dann in meinem Kopf durchzuspielen begann.
Dabei aber entstanden die seltsamsten Systeme: Seiten, die aus lauter As bestanden, manche auf dem Kopf, andere ineinandergeschoben oder miteinander verflochten, wieder andere wie zu einem Berg aufeinandergetürmt; innere Laute und Klänge, die gar nicht mehr aufhören wollten zu tönen und in mir das Bild von ins Unendliche verlaufenden Linien hervorriefen; Abbildungen solcher Linien, die ich mit leichten, kaum merklichen Lücken und Unterbrechungen (sie sollten das Atemholen darstellen) wie Ketten von Morsesignalen zeichnete, immer enger und dichter untereinander, bis sie schließlich ineinander übergingen und in ein schwarzes Feld mündeten.
 
Das alles muss auf den Lehrer verstörend gewirkt haben. Je weiter er mit uns in seinem Pflichtprogramm fortschritt, umso merkwürdigere Phantasie-Systeme entstanden auf meinem Papier. Auf das Schultempo und die damit verbundene Überforderung reagierte ich panisch: Ich zeichnete unaufhörlich vor mich hin, ich malte lauter Ornamente und Arabesken, ich behandelte alles, was mir aufgetischt wurde, wie Spielmaterial, das ich in meine eigenen Systeme einbaute, um damit unbegrenzt spielen und mich seiner lästigen Aufdringlichkeit entledigen zu können.
Von Woche zu Woche muss mein Umgang mit allem, was uns beigebracht wurde, dabei immer kurioser geworden sein, schließlich bewegte ich mich nur noch in einem System von Geheimzeichen, die nur ich verstehen und mit denen nur ich etwas anfangen konnte. Ich saß da wie ein Schüler Paul Klees: Unablässig verwandelte ich die gesamte Schulwelt in ein kindliches Gekritzel, das alle Blätter lückenlos bedeckte. Die Ergebnisse waren in meinen Augen Die Schularbeiten, denn Schularbeiten machen hieß damals in meinem Verständnis: Mit hochrotem, immer heißer werdendem Kopf die Weiße des Papiers allmählich auslöschen, sie zudecken, sie ein für allemal zum Verschwinden bringen …
 
Mein Vater hat den Brief aufbewahrt, den der Junglehrer ihm damals geschrieben hat. Viele Jahre später habe auch ich ihn gelesen. Ein stummes Kind wie Johannes ist eine Zumutung für unsere Schule …, so beginnt er, und er endet nach vielen, immer drastischer werdenden Vorhaltungen vernichtend: Ich möchte Sie aus all diesen Gründen bitten, für Ihren Sohn, der an unserer Schule nichts als Anstoß erregt, eine andere, seinen verminderten und wirren Fähigkeiten eher entsprechende Aufbewahrungsanstalt zu finden.
In den Augen des Lehrers war ich also nicht nur lästig, sondern verrückt. Obwohl er sich niemals auch nur eine Minute Zeit für mich genommen hatte, glaubte er doch fest zu wissen, dass ich für den Besuch einer Volksschule nicht geeignet war. Ich gehörte abgeschoben, wohin, das interessierte ihn nicht, Hauptsache, ich kam ihm nicht mehr unter die Augen und fiel in seinem Unterricht nicht mehr dadurch auf, dass ich nichts sagte.
Bereits dieses Stummsein war zu viel, denn es machte mich zu einem, der anders, schwierig und damit ein Störfall war. Dass so einer von den anderen Mitschülern dazu noch täglich und von Tag zu Tag mehr gequält wurde, war angeblich auch nicht zu vermeiden, denn wer stumm blieb, der hatte mit so etwas zu rechnen und war selber schuld. Um einen Stummen brauchte man sich schließlich auch nicht länger zu kümmern oder nachzuschauen, was er alles so leistete, es war sowieso nichts wert, es war Schrott, nichts als Schrott, und aus diesem Schrott würde niemals etwas werden. So war die Abrechnung, die der Junglehrer vornahm, in jeder Hinsicht komplett und lückenlos. Es gab, wollte er sagen, keinen Ausweg mehr, die Sache war hoffnungslos, ich gehörte von der Schule entfernt.
 
So schlimm und herabsetzend ein solches Urteil auch war, im Nachhinein muss ich diesem Lehrer – trotz all des Zorns, den ich noch heute empfinde, wenn ich an diesen Brief denke – für seinen Ausraster beinahe danken. Denn obwohl der Brief nichts anderes war als eine einzige, demaskierende Entgleisung, sorgte er doch dafür, dass von einem Tag auf den andern etwas geschah.
Noch heute verstehe ich jedoch nicht, wieso meine Eltern es überhaupt so weit kommen ließen. Ich nehme an, meine Mutter wollte generell nicht, dass sich etwas änderte, und Schule bedeutete natürlich eine starke Veränderung, während mein Vater sich durch meine anderen Leistungen und nicht zuletzt durch meine Leistungen am Klavier täuschen ließ. Wer so rasch Klavier spielen lernte und derart verblüffende Fortschritte machte, der würde – nach einigen Anlaufschwierigkeiten – auch in der Schule zurechtkommen.
 
Anlaufschwierigkeiten – das war die Vokabel, die mein Vater benutzte, um sich meine Lernprozesse zu erklären. Er hatte beobachtet, dass ich mich hier und da schwertat, nach einiger Zeit jedoch mit den Problemen zurechtkam. Dasselbe erwartete er auch von meinen Leistungen in der Schule: Nach einigen Monaten würde ich schreiben und lesen wie die anderen Schüler auch, davon war er fest überzeugt. Nicht in Rechnung gestellt hatte er, dass meine Wahrnehmung durch die vielen Jahre einer beinahe totalen Isolation längst stark geprägt und nur noch schwer veränderbar war. Und erst recht hatte er nicht daran gedacht, wie schwer man mir das Leben in der Schule machen würde.
An so etwas nämlich dachte Vater nicht, so etwas war für ihn unvorstellbar, erst der Brief des Lehrers zeigte ihm die ganze Brisanz der Lage und deren volle Wahrheit: Man beschimpfte mich, man wollte mich loswerden, ja man gab sogar zu, für meine Sicherheit nicht bürgen zu können, da der Hass der meisten Schüler auf mich nur zu verständlich und durchaus begründet sei. Keinem dieser Schüler hatte ich je etwas getan, keinem war ich zu nahe gekommen, jeden Affront und jede Provokation hatte ich zu vermeiden versucht. All das aber spielte keine Rolle, denn bereits meine bloße Anwesenheit war das Ärgernis, das man beseitigen wollte.
 
Es war also höchste Zeit, es musste wirklich etwas geschehen. Im Grunde befand ich mich – wie in der Zeit vor dem Beginn meines Klavierspiels, als ich mich beinahe vollständig auf meine autistischen Spielereien zurückgezogen hatte – wieder an einem Anfang: Einige Wochen Schule waren bereits vergangen, doch es stand um mich schlimmer als in den ersten Schultagen, als ich wenigstens noch die Hoffnung gehabt hatte, etwas lernen zu können.
Diese Hoffnung gab es nun nicht mehr, denn anstatt zu lernen, hatte ich mich in ein Niemandsland begeben, in dem einzig und allein meine Phantasien das Sagen hatten. Daher hieß es, ich sei zu nichts fähig und für nichts zu gebrauchen. Die bösen Formeln enthielten indes durchaus einen Teil Wahrheit, denn wenn es mit mir so weitergegangen wäre, wäre ich in der Tat zu nichts fähig und für nichts mehr zu gebrauchen gewesen.
Selbst meinem Klavierspiel merkte man inzwischen meine schulischen Misserfolge an: Ich übte immer verkrampfter, ich traute mir nichts mehr zu, ja ich glaubte nicht mehr so fest wie früher, dass ich wirklich einmal ein guter Pianist werden würde.
 
Mein Leben war also an einem Nullpunkt angekommen. Vielleicht hätte ich noch ein paar Wochen auf meinem Klavier improvisiert und geübt, dann aber auch damit Schluss gemacht. Ich wäre in eine Sonderschule gesteckt worden und hätte mich dort zu Tode gelangweilt, ja ich hätte mich allen Anforderungen vielleicht vollständig entzogen und für immer aufgegeben.
Diese Tendenz, die Tendenz zu Passivität und Selbstaufgabe – sie habe ich in den kritischen Momenten meines Lebens, aber auch in anderen, unvorhersehbaren Augenblicken, immer wieder sehr heftig gespürt. Meist kündigt sich eine solche Empfindung durch einen Stimmungsumschwung an, durch ein Abstürzen in Lustlosigkeit und Erstarrung, von denen ich mich dann meist nur mühsam und mit Hilfe von mehreren gewaltsamen Anläufen befreien kann. Es ist aus, denke ich dann, es ist aus, ich werde es nie mehr schaffen, ich brauche mich nicht mehr zu bemühen, es ist alles aus, vergebens, umsonst.
 
Damals, nach meinen ersten Schulwochen, erlebte ich die Dramatik einer solchen schweren Krise zum ersten Mal, hatte jedoch gleichzeitig das große Glück, dass mein Vater diese besondere Dramatik in ihrem ganzen Ausmaß begriff. Auf den Nullpunkt, an dem ich angekommen war, reagierte er mit einem Programm, wie man es sich nicht genialer hätte ausdenken können, dabei hatte er nicht die geringste Idee und nicht einmal die Spur eines Plans. Die Genialität seines Vorhabens entstammte denn auch nicht langen Überlegungen oder irgendeinem Kalkül, sondern ausschließlich seiner Intuition, die instinktiv, geradlinig und direkt vorging.
Mein Vater handelte also beinahe blind, und doch tat er in allen, aber auch allen Einzelheiten genau das Richtige. Insgesamt ist aus diesem instinktiv richtigen Handeln ein Rettungsprogramm für mein ganzes Leben entstanden. Ich weiß, das hört sich etwas übertrieben und großartig an, aber es stimmt, denn aufgrund dieses Programms war ich dann wahrhaftig, wie sich freilich erst sehr viel später herausstellte, fürs Erste gerettet. Doch nicht so voreilig, lieber der Reihe nach …