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DIE ERSTE
Unregelmäßigkeit in meinem Internats-Leben ereignete sich, als mein
bisher monatliches Vorspielen bei Walter Fornemann in ein
halbjährliches umgewandelt worden war. Mit der Zeit hatte sich
nämlich herausgestellt, dass eine Fahrt einmal im Monat nach Köln
zuviel war und mir kaum etwas brachte; ich spielte Fornemann meine
kirchlichen Passionsstücke, wie er sie
nannte, vor, und er erteilte mir eher eine Lektion in
Musikgeschichte als in pianistischer Technik.
Dass mein Repertoire
nicht mehr weit über Beethoven hinausging, beschäftigte Fornemann
nicht, vielmehr war er der Meinung, dass mir ein gründlicher
Unterricht in früher Musik nicht schaden könne. Unser
Lehrer-Schüler-Verhältnis war zwar gut, aber auch in diesem Fall
hatte ich wie im Fall meiner Eltern manchmal den Eindruck, als
entfernte sich Fornemann allmählich von mir oder als wäre ich für
ihn nicht mehr wie früher der helle, leuchtende Stern am Himmel
seines pianistischen Schüler-Universums.
Über all diese
verstörenden und für einen Jungen meines Alters schwer
einzuschätzenden Erfahrungen konnte ich im Internat mit niemandem
sprechen. Mich den Patres oder gar dem Abt anzuvertrauen, kam nicht
in Frage, die einzige Möglichkeit hätte vielmehr darin bestanden,
einen Mitschüler ins Vertrauen zu ziehen. Einen solchen Mitschüler
aber, dem auch ich selbst vertraut und mit dem ich meine
Erfahrungen und Erlebnisse geteilt hätte, gab es im Internat nicht.
Ich kam mit meinen Klassenkameraden durchaus gut aus, aber unter
ihnen war keiner, zu dem ich mich besonders hingezogen gefühlt
hätte. Auch meine Mitschüler pflegten nur selten typische
Zweier-Freundschaften, eher kam es vor, dass man sich zu kleinen
Gruppen oder Zirkeln zusammentat. Diese Gruppen lösten sich aber
ebenso rasch wieder auf, wie sie sich gebildet hatten, meist hatten
sie mit bestimmten Vorhaben oder Projekten zu tun, intensivere
Beziehungen zu anderen Schülern stellten sich also auch in ihnen
nicht her.
So konnte ich die
geheimen Ursachen meines fortschreitenden Rückzugs auf mich selbst
mit niemandem besprechen. Die einzige Unterhaltung, die es noch für
mich gab, bestand im Kontakt mit den Büchern, die ich meist von zu
Hause mitbrachte, da ich in der Internatsbibliothek nicht die
richtige Lektüre fand. Unter ihnen gab es ein Buch mit
Kurzgeschichten, das seltsamerweise mein Vater, der sich sonst um
meine Lektüren nicht kümmerte, mir geschenkt hatte.
Es waren Geschichten
von Ernest Hemingway mit dem Titel In unserer
Zeit, bei deren Lektüre ich sofort verstand, warum sie Vater
so gefallen hatten. All diese Geschichten handelten nämlich auf
verblüffende Weise von Erfahrungen, die Hemingway selbst in seiner
Kindheit und Jugend auf dem Land gemacht hatte. Um diese
Erfahrungen zu beschreiben, hatte er sich eine Stellvertreter-Figur
mit Namen Nick Adams entworfen. Nick Adams war ein Junge meines
Alters, der in einigen Kurzgeschichten sogar wie ich selbst mit
seinem Vater in der freien Natur unterwegs war. Vater und Sohn
unterwegs – zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich es mit einer
Lektüre zu tun, die ich so las, als handelte sie beinahe
ausschließlich von meinem eigenen Leben.
Vor allem zwei
Geschichten waren es, in die ich mich immer wieder vertiefte, sie
hatten die Titel Großer doppelherziger Strom
I und Großer doppelherziger
Strom II und erzählten sehr detailliert von Erlebnissen des
jungen Nick beim Fischen in einem ländlichen Fluss. Die
Schilderungen des Lebens an diesem Fluss, besonders aber die
Schilderungen der Natur-Beobachtungen des jungen Nick erinnerten
mich derart stark an alles, was ich selbst an dem kleinen Flüsschen
neben der großelterlichen Gastwirtschaft erlebt hatte, dass ich
viele Sätze bald auswendig kannte.
Das Schöne an diesen
Sätzen aber war, dass es sehr einfache, schlichte Sätze waren,
ungefähr von der Art, wie ich früher selbst welche in meine
Notizhefte eingetragen hatte. Nie hätte ich geglaubt, dass
anerkannte und große Schriftsteller solche Sätze benutzten, umso
häufiger und gieriger wiederholte ich einige von ihnen nun im
Stillen. Oft stellte sich dabei die täuschende Empfindung ein, es
wären meine eigenen Sätze: Der Fluss strömte
klar und schnell dahin … Ungefähr zweihundert Meter weiter unten
lagen drei Baumstämme quer über den ganzen Fluss … Oberhalb war das
zurückgedämmte Wasser glatt und tief.
Die beiden schönsten
Sätze aber handelten davon, dass der junge Nick von einer kleinen
Brücke über dem Fluss aus eine Forelle im Wasser erkannte:
Nicks Herz zog sich zusammen, als die Forelle
sich bewegte. Er fühlte all die guten Gefühle. In diesen
beiden Sätzen war sehr einfach, aber doch genau ausgesprochen, was
ich so häufig selbst am Fluss erlebt hatte: das Sich-Zusammenziehen
des Herzens, ein kurzes Luftanhalten, eine Erstarrung, einen Moment
des tiefen Glücks.
Wenn ich am frühen
Abend im Schlafsaal des Internats solche Sätze und Geschichten las,
überfiel mich eine so starke Sehnsucht nach dem Draußen, der
Vergangenheit und dem Leben auf dem Land, dass ich hinterher oft
wie betäubt durch die Klosterräume streifte, um hier und da
wenigstens einen Luftzug oder einen Blick durch ein Fenster auf
eine brachliegende Wiese zu erhaschen. Und wenn ich dann später in
der Nacht einschlafen sollte, gelang das oft nicht, weil Hemingways
Geschichten mich so sehr beschäftigten und meine Phantasie derart
in Bewegung hielten, dass mich eine starke Unruhe
befiel.
Aus dieser Unruhe
heraus entstanden denn auch zum ersten Mal jene Bilder, die mich in
der Folgezeit beinahe täglich heimsuchten und mich dann jahrelang
nicht losließen. Auf diesen Bildern war ich allein in einer weiten,
menschenleeren Landschaft unterwegs, ich trug einen kleinen Seesack
mit ein paar Utensilien und mit zwei, drei Büchern sowie einem
Notizheft, und ich kehrte nachts in irgendeinem kleinen Dorf ein,
wo man mir in einem Gasthof ein Abendessen spendierte und ein
Nachtlager einräumte.
Immer wieder waren
es diese Bilder des Alleinseins und des dauernden Unterwegs-Seins,
die mich verfolgten, es waren Bilder, die Hemingways
Nick-Adams-Geschichten noch einmal erzählten und dabei in den
Details beinahe mit denselben Bestandteilen auskamen. Nur war Nick
Adams jetzt ein Junge, der sich danach sehnte, überall und wann
immer er wollte, Klavier spielen zu dürfen. Hier und da auf seinen
langen Wegen würde er eine Rast einlegen und haltmachen, um zu
üben, dann aber würde er weiterziehen, still und glücklich darüber,
nicht ununterbrochen etwas tun zu müssen, das ihn vom Klavierüben
abhielt.
In den kleinen
Dörfern, in die er während seiner Wanderungen geriet, würde er hier
und da während einer Hochzeit oder einer anderen festlichen
Gelegenheit die Orgel spielen, so würde er sich etwas Reisegeld
verdienen. Sonst aber würde er ein leichtes, sorgloses Leben
führen, und dieses Leben wäre genau das richtige, ja im Grunde das
einzig richtige Leben für einen Jungen in seinem
Alter.
Während derartige
Phantasien immer aufdringlicher wurden, lebte ich immer
unauffälliger. Nichts von dem, was mich wirklich beschäftigte,
sollte nach außen dringen. Dieser Konflikt führte mit der Zeit zu
beinahe trancehaften Bewegungen, ich schlich durch die langen Flure
und Korridore des Internats wie ein Heimlichtuer, ich duckte mich
weg, am liebsten wäre mir gewesen, ich hätte mich ganz in Luft
auflösen können. Auf Fragen reagierte ich kaum noch, ich tat meine
Pflicht, fiel nirgends auf und erschrak höchstens ein wenig, wenn
ein Mitschüler mir in die Quere kam: Na,
Johannes, mal wieder ganz woanders?!
Ja, natürlich, ich
war ganz woanders, vom frühen Morgen an war das bereits so. Die
Schulstunden und das sich daran am Nachmittag anschließende
Unterrichtsprogramm brachte ich regungslos hinter mich, und die
einzige Freude am Tag war jener Moment, wenn ich auf der
hochgelegenen Orgelempore die Orgelbank bestieg und die ersten Töne
erklangen. Manchmal hielt ich sofort inne und lauschte ihnen nach,
um sie dann noch einmal langsamer zwei- bis dreimal zu wiederholen.
Auch die Musik sollte mir keine Tempi mehr vorschreiben, auch sie
sollte mich nicht beherrschen.
Dann aber wurde es
mir zu viel. Ich hatte mir nicht lange überlegt, was ich konkret
tun konnte, nein, ich hatte solche Überlegungen meist gleich wieder
aufgegeben, weil ich mit ihnen einfach nicht weiterkam. Was damals
an einem Nachmittag geschah, geschah also ohne jede Planung, es
geschah plötzlich, ich hatte es selbst nicht erwartet, nein, es
passierte einfach.
An diesem Nachmittag
hatte ich in der Internatsküche gearbeitet und danach den kleinen
Transport begleitet, der hinauf in die nahe gelegene Ortschaft
fuhr, um die Küchenvorräte zu erneuern. Ich hatte das schon
mehrmals getan, diesmal aber ergab es sich zufällig, dass ich
allein in der Nähe des Transportwagens auf die anderen Schüler und
zwei Patres wartete, die in den Lebensmittelmarkt gegangen waren,
um die Waren zu holen und dann im Wagen zu verstauen.
Ich stand also auf
dem Parkplatz und blickte auf das weite, umgebende Land, auf der
nahen Landstraße fuhren zwei langsame Traktoren dicht
hintereinander her, es war ein warmer Tag im Frühsommer, in der
Ferne schien die Luft sogar bereits zu vibrieren.
Da spürte ich
plötzlich das ganze Elend meiner Lage: Gleich würde ich wieder mit
hinunter ins Kloster fahren, um mich dort abfüttern zu lassen und
ins Bett zu legen. Ein Tag nach dem andern würde jetzt auf diese
Weise vergehen, noch viele Jahre bis zum Abitur. Bis dahin aber
hätte ich meine pianistischen Fähigkeiten wahrscheinlich verloren,
oder ich hätte sie eingetauscht gegen die Fähigkeit, eine Gemeinde
während eines Gottesdienstes auf der Orgel bei ihrem Gesang zu
begleiten. Nach einem solchen Gottesdienst wäre mir höchstens noch
ein kurzes Solo gestattet worden: Etwas Händel, etwas Pachelbel
oder Buxtehude, schon Max Reger aber hätte ich nicht spielen
dürfen, denn die Orgel-Stücke von Reger gehörten bereits einer
Musik-Epoche an, in der beinahe nur noch Verwirrte oder
absonderliche Genies für die Orgel komponiert hatten …
Es war eine
Entscheidung von Sekunden, und in diesen Sekunden dachte ich nur
darüber nach, wieviel Geld ich gerade dabeihatte. Es war jämmerlich
wenig, aber immerhin, ich hatte etwas dabei. Ich wollte weg, und
zwar sofort! Ich schaute mich noch einmal nach den anderen um, dann
entfernte ich mich von dem Internats-Wagen. Zunächst ging ich noch
langsam, wie zur Probe oder als wäre mir langweilig. Ich
schlenderte ein wenig daher, bewegte mich jedoch schon auf die
abgelegene Seite des Parkplatzes zu. Dahinter fiel das Gelände
steil ab, und kaum hundert Meter entfernt in der Tiefe erschien an
dem steilen Hang ein größeres Waldstück.
Ich dachte nicht
weiter nach, sondern verließ den Parkplatz und lief den Abhang
hinab auf das Waldstück zu. Als ich es erreichte, wusste ich
sofort, dass sie mich hier nicht suchen würden. Sie ahnten ja
nicht, dass ich mich absetzen wollte, sie ahnten überhaupt nichts.
Einen flüchtigen Schüler würde man suchen und verfolgen, ich aber
war in ihren Augen kein Flüchtling. Sie würden sich meine
Abwesenheit nicht erklären können und vielleicht vermuten, ich
hätte eine Toilette aufgesucht. Sie würden nachschauen, auf der
Toilette natürlich und rund um das große Marktgebäude. Irgendwann
aber würden sie aufgeben und ohne mich zurückfahren. In der Abtei
würden sie sagen, sie könnten sich meine Abwesenheit nicht
erklären, ich sei wie vom Erdboden
verschluckt gewesen.
Als ich das alles im
Kopf durchgespielt hatte, war ich erleichtert. Was konnte denn
schon passieren? Ich hatte einfach getan, was ich tun musste. Wenn
es ewig so weitergegangen wäre, würde ich vielleicht schon bald
keinen einzigen Satz mehr sprechen. Ich würde wieder in dem
hilflosen Leben ankommen, das ich bereits als Kind geführt hatte,
ich würde ein stummer, Orgel spielender Idiot werden, den man die
weiteren Jahre verstärkt mit Küchen- und Garten-Diensten
beschäftigt, bei dem man wegen seiner Hilfsbereitschaft aber nicht
so streng auf die sonstigen schulischen Leistungen geschaut
hätte.
Johannes, hörst Du mich? Ein paar Mal hatte ich
eine solche Frage eines Lehrers bereits schon wieder zu hören
bekommen. Johannes ist wieder in seiner
eigenen Welt …- auch das hatte ich schon ein paar Mal wieder
gehört. Solche Fragen und Bemerkungen erinnerten mich an früher,
und wenn ich mich auch nur entfernt an diese früheren Tage
erinnerte, stieg sofort die kalte Angst in mir hoch. Noch einmal
würde ich das alles nicht mitmachen, noch einmal nicht! Lieber
würde ich irgendwo abtauchen, in die Tiefe eines Flusses, um in
dieser Tiefe für immer zu verschwinden …
Eine Nacht und
insgesamt etwa anderthalb Tage hielt ich durch. Ich bewegte mich so
voran, wie es mir gerade gefiel, und vermied es dabei, auf den
Landstraßen zu laufen. Stattdessen blieb ich meist in den Wäldern
und folgte den schmalen Waldwegen und Forstpfaden. Am ersten Abend
entdeckte ich eine Jagdhütte, machte mir dort ein kleines Feuer und
saß dann die ganze weitere Nacht still in seiner Nähe, bis ich müde
wurde und unter dem Vorbau der verschlossenen Hütte
einschlief.
In der Nacht wurde
mir kühl, ich stand auf, bewegte mich ein wenig und legte weiteres
Holz in das Feuer. Ich schlief wieder ein und wachte erst beim
Morgengrauen auf, dann ging ich los, nicht ohne vorher das Feuer
gelöscht zu haben.
Am Mittag plagte
mich dann der Hunger. Ich überlegte, ob ich mir in einer Ortschaft
etwas zu essen beschaffen sollte, entschied mich jedoch dagegen.
Stattdessen begann ich, nach Waldfrüchten zu suchen, entdeckte aber
nur eine kleine Lichtung, an deren Rand sich ein paar verkümmerte
Brombeer- und Himbeersträucher befanden. Ich aß die teilweise noch
unreifen Früchte und nahm mir vor, lieber mehr zu trinken als
weiter nach Essbarem zu suchen. Etwas zu trinken zu finden, war
nicht schwer, in der Gegend war es selbst im Sommer in den Wäldern
sehr feucht, und man hörte häufig das Rauschen irgendeines Baches,
wenn man nur hier und da stehen blieb.
So bewegte ich mich
weiter, ohne einem Menschen zu begegnen. Ich fühlte mich
erleichtert, als hätte ich zumindest für kurze Zeit das rettende
Ufer erreicht. Im Verlauf des Morgens hatte sich diese
Erleichterung immer mehr verstärkt, ich spürte genau, wie sich
etwas in mir löste und ich langsam ruhiger und ruhiger wurde. Es
war, als hätte ich riesige Gewichte, die ich vorher noch gebuckelt
hatte, am Wegrand zurückgelassen.
Als ich eine
besonders weite Lichtung erreichte und über die nächsten Höhenkämme
hinwegschaute, hatte ich auf einmal sogar ein solches
Freudengefühl, dass ich vor lauter Glück zu schreien begann. Erst
war es nur ein kurzer, heller Schrei, wie der Schrei eines Tieres,
dann aber schrie ich immer lauter, als müsste ich die ganze
unsinnige Verkrampfung der letzten Monate und Jahre aus mir
herausbrüllen.
Es ist gar nicht zu
glauben, wie gesund und erleichternd ein solches Schreien sein
kann. Der ganze Körper öffnet sich, ja es ist, als würde man sich
langsam die Haut abziehen, aber auf angenehme Weise und daher ohne
dass es irgendwo schmerzt. Ein Sich-Schütteln ist es, ein Ausspeien
des Fremden, ein Hinübergleiten in eine andere Existenz! Wer Opern
nicht erträgt oder nicht begreift, was das Schöne an Opern sein
kann, sollte eine Zeit lang allein durch einen großen Wald gehen
und, wann immer ihm danach ist, zu schreien beginnen. Es sollte
aber ein lautes, unermüdliches Schreien sein, bis hin zur
Erschöpfung, am Ende sollte man vergessen haben, was einen
umtreibt, man sollte nur noch den Körper spüren, sein Zittern,
seine Ermattung …
Aber zurück zu
meiner Flucht. Natürlich wusste ich, dass ich nicht tagelang
unterwegs sein konnte und man mich zur Rechenschaft ziehen würde,
aber vorläufig war mir das gleichgültig. Ich hatte die anderen
nicht verlassen, um ihnen irgendetwas zu beweisen oder um sie zu
beunruhigen, nein, ich hatte nur mir selbst beweisen wollen, dass
die alten Träume und Phantasien noch in mir lebten. Ich war noch
nicht ganz der Lethargie verfallen, nein, ich war noch nicht
gestorben, etwas Text und eine Unmenge von guter Musik steckten
noch in mir.
Wenn ich mich
irgendwo in den Schatten legte und auf dem Rücken wegträumte,
begann der Text sogar von alleine zu wachsen. Ich schloss die Augen
und hörte alles genau, Satz für Satz: Am
Morgen stand die Sonne hoch, und im Zelt begann es heiß zu werden.
Nick kroch unter dem Moskitonetz, das vor den Zelteingang gespannt
war, heraus, um sich den Morgen zu betrachten. Das nasse Gras
netzte seine Hände, als er herauskam. Er hielt seine Hosen und
Schuhe in den Händen. Die Sonne war gerade über dem Hügel
aufgegangen. Dort waren die Wiese, der Fluss und der Sumpf. Dort
waren Birken im Sumpfgrün auf der anderen Seite des Flusses
…
Am zweiten Abend
meiner Flucht ließ ich mich auf eine kleine Ortschaft zutreiben und
telefonierte von der ersten Telefonzelle, auf die ich traf, mit dem
Kloster. Ich nannte meinen Namen und bat darum, mit dem Abt
verbunden zu werden, nach einer kurzen Pause hörte ich seine
Stimme.
Er wirkte nicht
einmal besonders erstaunt oder aufgeregt, sondern wollte nur
wissen, wo ich mich befand und ob ich gesund sei. Ich nannte den
Namen des Ortes, von dem aus ich anrief, und sagte, dass ich großen
Hunger hätte. Der Abt erwiderte, dass ich in die Mitte des Ortes
gehen und auf dem Platz neben der Kirche warten solle. Ich sei etwa
zwanzig Kilometer vom Kloster entfernt, er werde einen Wagen
schicken.
Ich bedankte und
wunderte mich, dass er nicht weiter nachfragte. Als ich noch etwas
zögerte und nicht sofort auflegte, hörte ich ihn dann aber doch
fragen: Hast Du mir etwas zu sagen,
Johannes? Ich dachte keinen Moment nach und antwortete
schnell: Ich kann mir das alles auch nicht
erklären, ich habe mich wohl verlaufen. Ich hörte das
plötzliche Schweigen am anderen Ende des Hörers, einen Moment
glaubte ich den Abt beinahe zu sehen, wie er nachdachte und sich um
eine kluge Antwort bemühte. Dann aber hörte ich ihn sagen:
Ja, das glaube ich auch, ich glaube auch, Du
hast Dich verlaufen.
Neben der Kirche des
Ortes wartete ich etwa eine halbe Stunde auf den Wagen. Einer der
jüngeren Mönche, der im Internat Geographie und Geschichte
unterrichtete, holte mich ab. Ich gab ihm die Hand und setzte mich
dann neben ihn in den Wagen. Bevor wir losfuhren, schaute er mich
von der Seite her an: Wo hast Du Dich denn
herumgetrieben? Ich sagte ihm, dass ich vom Parkplatz des
Lebensmittelmarktes aus in das tiefer gelegene Waldstück gelaufen
sei, um dort zu urinieren, in diesem Waldstück hätte ich mich dann
wohl verlaufen, es sei wie verhext gewesen, ich hätte den Ausgang
aus dem Waldstück einfach nicht mehr gefunden. Und das sollen wir Dir glauben?, fragte der junge
Mönch und fuhr endlich los.
Während der Fahrt
unterhielten wir uns nicht mehr, ich hatte die ganze Zeit das
Gefühl, als wäre meinem Fahrer aufgetragen worden, so wenig wie
möglich mit mir zu sprechen. Stattdessen räusperte er sich mehrmals
und stöhnte zwei-, dreimal vor sich hin, als wollte er mir zeigen,
dass ich der Gemeinschaft und besonders ihm unnötige Arbeit machte.
Um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstanden hatte, sagte ich
schließlich mitten in die Stille Es tut mir
leid, schwor mir danach aber sofort, keinen weiteren Satz
mehr zu sagen.
Als wir das
Klostergebäude erreichten, sah ich, dass der gesamte
Internatsflügel heller erleuchtet war als sonst. In einigen
Fenstern bewegten sich Schüler und schauten hinab auf den Hof, wo
ich aussteigen musste. Ich wollte die kleine Strecke bis zum
Eingang ins Foyer des Klosters, wo mich der Abt angeblich
erwartete, rasch zurücklegen, als ich meinen Vater im Eingang des
Klosters erkannte. Niemand hätte mir zu bestätigen brauchen, dass
er es war, ich sah es sofort: seine große, stolze Gestalt, das
weiße, weit offen stehende Hemd, der ruhige Blick. Er bewegte sich
nicht, sondern wartete darauf, dass ich zu ihm kam. Mich selbst
aber erschreckte seine Erscheinung so sehr, dass ich stehen blieb.
Ich presste die Lippen fest zusammen, nein, ich durfte jetzt auf
keinen Fall weinen, jetzt nicht, wo ich von so vielen Mitschülern
beobachtet wurde. Hier und da öffneten sich bereits einige Fenster,
ein Rufen und Schreien war zu hören, doch wurden die Fenster,
anscheinend auf Geheiß der Lehrer, die sich ebenfalls in den Fluren
aufhielten, sofort wieder geschlossen.
Verdammt! Ich konnte
doch nicht weiter im Hof stehen bleiben und mich von allen angaffen
lassen! Ich drehte den Kopf etwas zur Seite und spuckte den weichen
Klumpen aus, der mir im Hals steckte, dann ging ich auf meinen
Vater zu. Ich sah, dass er mich ununterbrochen anschaute, er ließ
den Blick wahrhaftig die ganze Zeit auf mir ruhen. Als ich ihn aber
erreichte, streckte er plötzlich die rechte Hand aus und führte sie
mit einer unerwarteten Geste nach hinten, an meinen Hinterkopf, als
wollte er den Kopf dort einen Moment halten und stützen. Dann aber
spürte ich, wie er ihn näher an sich heranzog und mich kurz auf die
Stirn küsste.
Ich hatte auch diese
Geste so wenig erwartet, dass mir beim Eintritt in das Kloster
plötzlich die Tränen kamen. Im Foyer standen der Abt und zwei der
Patres, die mich unterrichteten. In meiner dreckigen und von der
Feuchtigkeit in den Wäldern ausgebeulten Kleidung stand ich vor
ihnen wie ein Hund, der sich zu lange in fremden Terrains
herumgetrieben hatte. Ich gab allen die Hand, dann wurde ich
gebeten, mich zu waschen und umzuziehen. In einer Viertelstunde
erwartete man mich zum Abendessen.
Auch auf diese
Reaktion war ich so wenig gefasst, dass ich sehr unruhig in den
Trakt des Internats ging, in dem sich mein Schlafsaal und meine
Kleider befanden. Zum Glück war Essenszeit, so dass die Mitschüler
nicht zu sehen waren. Was würde denn jetzt bloß geschehen? Dass
Schüler aus dem Internat verschwanden, kam dann und wann durchaus
vor. Fast immer aber waren es ältere Schüler, deren Leistungen sich
verschlechtert hatten oder die sich irgendetwas zuschulden hatten
kommen lassen. All das traf auf mich nicht zu, in meinem Fall war
die Sache viel komplizierter.
Im Grunde wollte ich
das Internat, so schnell es irgend ging, verlassen. Nicht, weil ich
mich mit bestimmten Lehrern angelegt hätte oder mit dem Schulstoff
nicht zurechtgekommen wäre, auch nicht, weil mich der starke
Akzent, der hier auf dem Glauben lag, bedrückt hätte. Das
System Internat war vielmehr als Ganzes
einfach nichts für mich, denn es machte aus mir einen Menschen, der
ich auf keinen Fall sein wollte. Nein, ich wollte kein Schweiger
werden, nein, ich wollte nicht mein Leben lang nur die Orgel
spielen, und nein, ich wollte meine musikalische Laufbahn nicht mit
Kompositionen von Mozart beenden, und wären sie auch noch so
schön!
Der Abt hatte
angeordnet, dass wir beim Abendessen zu viert waren. So saß ich an
einem runden Tisch zusammen mit dem Abt selbst, meinem Vater und
meinem Klassenlehrer, einem Mönch mittleren Alters, der mich in
Latein und Griechisch unterrichtete. In den Jahren zuvor hatte ich
mit diesem Lehrer kaum einige Worte gewechselt, ich glaubte nicht,
dass er irgendetwas von mir wusste, außer der Tatsache, dass ich
einigermaßen gut Klavier und inzwischen auch die Orgel
spielte.
Die Speisen wurden
aufgetragen, und wir begannen zu essen, ohne dass der Anlass dieser
besonderen Mahlzeit erwähnt wurde. Stattdessen sprach der Abt vor
allem mit meinem Vater über Köln und einige andere Orte am Rhein,
anscheinend kannte er diese Orte genau und wollte einiges über
ihren jetzigen Zustand erfahren.
Ich selbst hörte
aber die ganze Zeit nicht richtig hin, sondern überlegte
ununterbrochen, was wohl auf mich zukommen würde. Würde man mich
bestrafen? Oder würde man mir glauben, wenn ich erneut die Version,
mich verlaufen zu haben, auftischte? Und wie weiter: Wenn man mich
bestrafte, drohten mir einige Tage Arrest, der Ausfall mehrerer
Mahlzeiten und zusätzliche Arbeitszeiten in Küche und Gärtnerei,
danach aber würde wohl alles beim Alten bleiben. Wie aber musste
ich reagieren und was musste ich sagen, damit eben nicht alles beim
Alten blieb?
Nach dem Ende des
Abendessens machte der Abt ernst. Er wartete, bis das
Küchenpersonal den Raum verlassen hatte, dann sagte er:
Wir haben schon von Dir gehört, dass Du Dich
verlaufen hast. Ich nickte, ja, ich bestätigte, dass ich
mich verlaufen hatte. Gleichzeitig haben wir
von Deinem Vater gehört, dass Du Dich unmöglich verlaufen haben
kannst.
Ich erstarrte: Was
meinte er denn? Hatte Vater so etwas gesagt, hatte er das wirklich
gesagt?
Johannes, hörte ich Vater sagen, Du hast Dich doch nicht verlaufen! Wir beide sind doch
nicht jahrelang und immer wieder in ausgedehnten Wäldern und auf
weiten Fluren unterwegs gewesen, damit Du hier erzählen kannst, Du
habest Dich in einem kleinen Wäldchen verlaufen. Wo willst Du Dich
denn verlaufen haben, wo denn?!
Vater beugte sich
etwas zur Seite, als ich die Aktentasche neben seinem Stuhl stehen
sah. Ich schaute auf das alte, braune Lederstück, auf das ich als
kleines Kind immer geblickt hatte, wenn er am Nachmittag den
großen, ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus überquert hatte.
Ich wusste jetzt genau, was sich in dieser braunen Aktentasche
befand, ganz genau wusste ich, was Vater jetzt aus der Tasche
hervorziehen würde.
Dazu aber hörte ich
seine Stimme, ich hörte sie natürlich nicht wirklich, noch sagte
Vater kein Wort, aber ich hatte sie doch bereits im Ohr, Wendung
für Wendung, so dass ich, als das Messtischblatt auf dem Tisch
ausgebreitet und glatt gestrichen wurde, mit der Sprache meines
Vaters zu sprechen begann: Wir befinden uns
jetzt genau hier, der Lebensmittelmarkt befindet sich genau dort.
Unterhalb des Parkplatzes liegt das bewusste Wäldchen, genau hier.
Von dort aus habe ich mich nach Süden bewegt, weg vom Parkplatz, in
Richtung dieser Lichtung hier. Unterhalb fließt ein Bach, den ich
überquert habe, von dort aus ging es weiter, genau hier entlang,
durch den nächsten, sich anschließenden Wald. Hier, wo er aufhört,
befindet sich ein Hochsitz. Ich bin hinaufgeklettert und habe etwas
Luft geschnappt. Nach einer längeren Pause habe ich die daneben
liegende Lichtung überquert und bin in die kleine Schlucht
eingedrungen, die sich nach Westen hin
anschließt.
Ich habe mich auf direktem Weg von dem Parkplatz entfernt.
Ich hatte den zurückgelegten Weg dabei exakt im Kopf und
orientierte mich an der Abendsonne. Ich wusste immer genau, wo ich
mich jeweils befand. Ich wollte fort, ich wollte mich vom Parkplatz
und vom Kloster entfernen. Ich möchte nicht länger im Internat
bleiben. Ich möchte für immer fort.