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DER ERSTE Schritt,
den Vater instinktiv an den Anfang meines Lernprogramms gestellt
hatte, bestand darin, mich von der Mutter und dem einsamen Leben
mit ihr zu trennen und in eine Gemeinschaft zu versetzen, in der
ich kleine Aufgaben hatte. Das Leben in dieser Gemeinschaft
unterlag bestimmten Regeln und vor allem Rhythmen, die den Tag
gliederten und mich aus der passiven Lethargie meiner Kölner Tage
herausrissen. So wurden die Mahlzeiten immer zu denselben Zeiten
eingenommen und großer Wert darauf gelegt, dass alle auf dem Hof an
diesen Mahlzeiten teilnahmen, und so wurden beinahe täglich die
kleinen Pflichten und Aufgaben abgesprochen und genau vereinbart,
wer nun wem bei diesen Aufgaben half und wann sie zu erledigen
waren.
Die Leitung all
dieser Tätigkeiten hatte dabei der älteste Bruder meines Vaters,
der in den frühsten Morgenstunden als Erster in der Wirtschaft war
und alle Planungen im Auge hatte. Er sagte, was als Nächstes zu tun
war und er machte das so geschickt, dass niemand das Gefühl hatte,
unter einem strengen Regiment zu leben oder harten Befehlen Folge
leisten zu müssen. Die meisten Anweisungen wurden vielmehr zunächst
in die Form einer Frage gekleidet: Könntest Du
nicht … Wäre es nicht gut? Was darauf folgte, waren kurze
Absprachen darüber, wie man an eine Sache herangehen sollte,
allein, zu zweit oder mit mehreren, je nachdem, was gerade zu tun
war. Ich habe während all dieser Tage bei keinem der auf dem Hof
und in der Wirtschaft Arbeitenden auch nur einen Anflug von
Gegenwehr oder Ablehnung, ja nicht einmal eine Spur von Unlust
bemerkt. Man machte sich keine langen Gedanken, nein, man grübelte
überhaupt nicht über dies und das, sondern ging an die Arbeit und
sorgte dafür, dass sie rasch getan wurde.
Diese Einstellung
wirkte auf mich sehr befreiend. Hatte ich früher unendlich viel
Zeit zum Nachdenken gehabt, so kam ich jetzt nicht einmal mehr
dazu, mir zu überlegen, was ich gern oder weniger gern tun würde.
Außerdem waren den ganzen Tag lang ununterbrochen Menschen um mich
herum, auf deren Gesten, Handreichungen und sonstige Zeichen ich
reagieren musste. Ich konnte nicht lange nachdenken, wie mir dies
oder jenes gefiel oder was ich lieber tun würde – so etwas war
jetzt unmöglich, und ich hätte mich damit auch nur lächerlich
gemacht. Ruhig und konzentriert eine bestimmte Arbeit zu tun –
darum ging es jetzt und nur darum, auch mein Klavierüben wurde als
eine solche Arbeit betrachtet, denn sie sorgte in der
Gastwirtschaft und ihrer Umgebung für gute Laune.
All das aber
gehörte, wie schon gesagt, lediglich zum ersten Schritt des
Programms, das Vater im Kopf hatte. Als er beobachtete, dass sein
Programm anschlug und ich durchaus willens war, etwas zu tun und
mich in die Gemeinschaft einzugliedern, war er zwar noch nicht
zufrieden, wohl aber erleichtert. Ich sah ihm an, dass er manchmal
nach mir schaute, dabei blieb er aber auf Distanz und kam nur
selten zu mir, um sich mit mir zu unterhalten, vielmehr betrachtete
er mich aus größerer Entfernung, als wollte er das Bild des
arbeitenden Kindes auf sich wirken lassen und in Ruhe
herausbekommen wie es mir ging.
Der Eindruck, den
ich dabei machte, war, wie man mir später einmal erzählte, der
einer raschen Genesung. Von Tag zu Tag verschwand ein wenig mehr
von dem blassen, dünnen und so überaus furchtsamen Kind, das sich
in Köln keinen einzigen Schritt von den vorgesehenen Wegen entfernt
und letztlich doch immer nur das Zuhause der Wohnung im Kopf gehabt
hatte. Dieses blasse Kind bekam Farbe und legte seine Vermummungen
allmählich ab.
Schon das Arbeiten
im Unterhemd bedeutete eine Befreiung – weg mit all den Stoffen,
Bekleidungen und Überkleidern, die mir Mutter aus lauter Angst vor
einer Grippe oder einer anderen Erkrankung früher angezogen hatte.
Unten am Fluss konnte ich mich an warmen Tagen sogar mit freiem
Oberkörper herumtreiben, so dass dieser lange wie gelähmt wirkende
Körper endlich auch mehr Beweglichkeit und Kontur erhielt. Zusammen
mit den anderen körperlichen Anstrengungen, die mich nachts gut und
tief schlafen ließen, war die dauernde Bewegung im Freien der Grund
dafür, dass ich meinen Körper endlich spürte. Er war nicht mehr nur
ein verquerer Bau aus ungelenken Knochen, der mit Armen und Händen
dann und wann ein wenig Musik hervorbrachte, sondern eine
zusammenhängende Gestalt, von der im Verlauf eines Tages der
Einsatz sämtlicher Glieder verlangt wurde.
Kein Wunder also,
dass ich kräftiger und schneller wurde. Vor allem die beinahe von
Tag zu Tag zunehmende Schnelligkeit ließ mich selbst manchmal
erstaunen, konnte ich doch leicht erkennen, um wie viel rascher ich
bestimmte Wege plötzlich zurücklegte. Das schnelle Laufen am Fluss
entlang oder die Wiesen hinauf auf die hügeligen Anhöhen in der
Ferne erlebte ich mit wachsender Euphorie, nie hatte ich mir früher
vorstellen können, dass pures Laufen eine solche Freude machen
konnte.
Hinzu kam das
Reiten. In Köln hatte ich immer nur zusammen mit einem Jockey
reiten dürfen, wobei es mir am Ende beinahe so vorgekommen war, als
traute man mir wohl niemals zu, einmal allein in einen Sattel zu
steigen. Die schnellen Ritte auf der Galopprennbahn hatten eher wie
Zirkus-Kunststücke oder wie Unterhaltungsprogramme für einen
Beschränkten gewirkt und meist auch höchstens eine halbe Stunde
gedauert. Danach hatte ich wieder einmal zuschauen dürfen,
zuschauen, wie das Training verlief, oder zuhören, wie sich die
Reiter über ihre Pferde unterhielten. So war ich auf der Rennbahn
nichts anderes gewesen als eine pittoreske Figur am Rand oder ein
Sozialfall, dem gegenüber man sich karitativ verhalten konnte.
Wirklich ernst hatte mich niemand von all diesen Reitern und
Pferdefreunden genommen, kein Einziger hatte jemals daran gedacht,
mich einmal allein auf ein Pferd zu setzen oder mit mir bestimmte
Übungen zu machen.
Auf dem Hof jedoch
war das anders, denn es war selbstverständlich, dass man auf
Pferden zu den weiter entfernten Feldern oder Wiesen ritt. Das
Reiten war weder eine Kunst noch ein Sport, es gehörte einfach zum
Alltag. Alle paar Tage bewegte man die Tiere übers Land und ritt
dabei immer in der Gruppe, mit den erfahrensten Reitern an der
Spitze und am Ende. Selbst ein im Reiten unerfahrenes Kind wie ich
brauchte man nicht lange darüber zu belehren, wie es sich verhalten
sollte. Ich hatte dann und wann schon einmal auf dem Rücken eines
Pferdes gesessen, umso besser, dann würde ich schon alles richtig
machen.
Es waren diese
Einfachheit und Geradlinigkeit, die mich damals stark
beeindruckten. Sie nahmen mir das Nachdenken ab und machten mich
mit meiner Umgebung vertraut. Ich arbeitete, ich rannte die
Strecken in immer schnellerem Tempo, ich ritt stundenlang mit aus,
ohne dass jemals etwas passierte – meine ganze Leidenschaft aber
galt noch etwas anderem, das nicht so leicht zu lernen war und von
dem ich mir doch ein besonderes Vergnügen versprach. Ich hatte mir
nämlich in den Kopf gesetzt, so bald wie möglich schwimmen zu
lernen.
Schwimmen konnten
beinahe alle, die auf dem Hof und in der Gastwirtschaft arbeiteten.
Am frühen Abend, wenn die Arbeit getan war, liefen die jüngeren
Männer hinunter zum Fluss, entkleideten sich und badeten nackt,
indem sie sich bis nahe ans Wehr treiben ließen und dort tauchten.
Die Frauen schwammen in einem Flussstück weiter flussaufwärts und
hielten sich später an einer schattigen Uferpartie auf, an der drei
mächtige Eichen dicht nebeneinanderstanden. Am schönsten aber
schien es zu sein, an einer schmalen Kehre des Flusses hinüber ans
andere Ufer zu schwimmen und dort einen steilen Felsen bis zur
Spitze hinaufzuklettern. Von dort oben konnte man in den Fluss
springen, der an dieser Stelle recht tief war, es waren Sprünge aus
fünf bis sechs Meter Höhe, die vor allem die älteren Jugendlichen
sehr reizten und dann mit viel Geschrei verbunden
waren.
Warum sollte ich
nicht auch einmal von dort oben hinabspringen können? An den
Abenden dachte ich vor dem Einschlafen oft daran und stellte mir
vor, wie ich allein auf der Spitze des Felsens stehen und ohne
weiteres Nachdenken herunterspringen würde. Dazu aber musste ich
mir vorher das Schwimmen beigebracht haben, allein, ohne Hilfe, was
sich im Grunde von selbst verstand, denn niemand in meiner Umgebung
wäre wohl auf den Gedanken gekommen, sich eigens darum zu kümmern,
dass ich schwimmen lernte.
Reiten, schwimmen,
laufen, Gras mähen – das alles war auf dem Land ja nicht eigentlich
eine Sache des Lernens, sondern des Anpackens. Man wurde auf ein
Pferd gesetzt, ließ sich ins Wasser fallen oder nahm eine Sense in
die Hand – irgendwann war man dann so weit, dass man so etwas
beherrschte. Deshalb war es am besten, einfach an jedem Abend mit
in den Fluss zu springen und dann im Wasser ein Stück dicht am Ufer
entlangzugehen.
Ich duckte mich ins
Wasser, ich versuchte, die Beine so zu bewegen, wie ich es bei den
guten Schwimmern gesehen hatte, vorerst aber kam ich damit nicht
weiter, sondern sank jedes Mal, wenn ich schwimmen wollte, wie ein
Stein in die Tiefe.
Weiter kam ich mit
meinen unbeholfenen Übungen erst, als ich durch einen Zufall
erkannte, dass dieses Sinken in die Tiefe, das mich sonst nur
ängstigte und mich die Füße sofort wieder auf den Boden setzen
ließ, den eigentlichen Schwimmgenuss darstellte. Diese wichtige
Entdeckung machte ich an einem sonnigen Frühabend, und zwar nicht
beim Baden im Fluss, in dem alle anderen badeten und schwammen,
sondern ganz in der Nähe von Hof und Wirtschaft in einem Weiher,
von dem ich fest annahm, dass ihn außer mir kaum jemand
kannte.
Dieser Weiher lag in
der Talsohle eines kleinen Wäldchens, in das ich einmal mit Vater
während eines Spaziergangs geraten war. Vater hatte davon
gesprochen, dass es in diesem Wäldchen im Herbst oft viele Pilze
gebe und dass der Grund für die besondere Vegetation in diesem
Waldgrundstück das leicht sumpfige Gebiet weit unten in der
Talsohle sei. Ein Weiher oder auch ein kleiner See befinde sich
dort unten in der Tiefe, hatte Vater
gesagt, und genau diese magisch und geheimnisvoll wirkende
Formulierung war es gewesen, die mich sofort dazu gebracht hatte,
ihm etwas zu signalisieren: Ich wollte mit ihm nach dort unten gehen, ja ich wollte mir unbedingt
genauer anschauen, was es dort zu sehen gab. Vater aber hatte nur
abgewinkt, nein, hatte er gesagt, nach dort
unten begleite er mich nicht, es sei dort dunkel und
stickig, und außerdem gebe es dort keine richtigen Wege, sondern
nur totes Unterholz.
Wenig später war ich
dann einmal allein in das Wäldchen gegangen und langsam das recht
steil ins Tal hin abfallende Gelände hinabgestiegen, es war viel
einfacher gewesen als ich gedacht hatte, und unten, in der
Talsohle, hatte es durchaus noch einige Wege gegeben, die alle auf
den kleinen See zuliefen, der ringsum von dichten Schilfmatten
umgeben war. An einer Seite des in dunklem Schatten daliegenden
Gewässers aber stand noch eine alte Holzhütte und neben ihr befand
sich noch immer ein schmaler Holzsteg, der weit in den See
hinausführte.
Auf diesem Steg war
ich mehrmals entlanggegangen, wenn ich mich für eine halbe Stunde
vom Hof hatte entfernen können, ohne dass es weiter auffiel. Ich
hatte mich sogar mit dem Rücken auf den Steg gelegt und mir
vorgestellt, wie paradiesisch es wäre, wenn die Sonnenstrahlen bis
zu mir hinabreichen würden, unvorstellbar schön könnte das sein,
und dann hatte ich an einem frühen Abend bemerkt, dass die
Sonnenstrahlen für den Bruchteil einer Abendstunde wirklich genau
bis hinab zum See reichten.
Dieser Beobachtung
war ich nachgegangen und deshalb zu den verschiedensten Tageszeiten
zumindest für ein paar Minuten hinunter zum See geklettert, um zu
sehen, ob sich die Sonne dort unten auch einmal länger zeigte. Das
war aber nicht der Fall gewesen, die Sonnenstrahlen erreichten den
See immer nur für höchstens eine halbe Stunde am frühen Abend, und
zwar genau dann, wenn die Sonne sehr tief stand und gerade noch wie
eine auslodernde Flamme über der Bergkuppe hing.
Es war ein letztes,
prachtvolles Glimmen, das sich dann in die Tiefe des Tales ergoss
und dort auf den beinahe kreisrunden See traf, dessen laichgrünes
Wasser golden aufglühte, wie ein schwerer, kostbarer Trank in einem
dunklen Gefäß.
Nach dieser
Entdeckung war ich immer wieder einmal am Frühabend an den See
gegangen und hatte mich allein auf seinem Steg aufgehalten, bis die
Schönheit des abendlichen Sonnenmoments mich irgendwann derart
überwältigte, dass ich mich auszog und langsam vom Steg aus ins
Wasser gleiten ließ.
Am Fluss und in der
unmittelbaren Nähe der Gastwirtschaft hätte ich es nie gewagt, mich
nackt zu zeigen, so etwas war ganz ausgeschlossen, niemals hätte
ich meine Scham überwunden, die vielleicht noch stärker und
empfindlicher war als die Scham vieler Frauen, die sich während des
Nacktbadens gut versteckten und genau darauf achteten, dass sie von
keiner Stelle des Flusses aus beobachtet werden
konnten.
Ein so schamhaftes
Verhalten wurde von allen anderen Schwimmern ohne lästernde oder
spöttische Worte respektiert, denn am ganzen Flussstück gab es
genügend Partien, an denen sich die verschiedensten Nacktbader
aufhalten konnten: Solche, denen es nichts ausmachte, gesehen zu
werden, solche, die auf keinen Fall gesehen werden wollten, aber
auch solche, die so taten, als wollten sie nicht gesehen werden,
und doch von vielen Stellen aus leicht gesehen werden
konnten.
Am liebsten hätte
ich mich den anderen Jungen angeschlossen, die ohne die geringsten
Hemmungen nackt badeten, aber, wie gesagt, es ging nicht, ich war
noch nicht so weit, ich war noch viel zu sehr an das Verhüllen,
Verbergen und Mich-Verstecken gewöhnt. Hinzu kam, dass auch Vater
anscheinend nicht daran dachte, nackt zu baden. Bevor er ins Wasser
ging, zog er sich vielmehr umständlich in unserem Zimmer um, und
dann erschien er wie ein geübter Rettungsschwimmer mit allerhand
Zeichen und Emblemen auf der Badehose und einem großen Badetuch um
den Hals, um sich nicht einfach in der Strömung treiben zu lassen,
sondern mit großem körperlichen Einsatz so schnell zu kraulen, dass
man annehmen musste, er wolle jedes Mal einen neuen Rekord
aufstellen.
Jener Abend jedoch,
als ich mich zum ersten Mal auszog, war einfach zu schön, als dass
ich lange Überlegungen hätte anstellen wollen. Und warum denn auch?
Bisher hatte ich niemanden unten in der Talsohle an dem kleinen See
gesehen, niemand kannte anscheinend dieses Gelände, selbst Vater
hatte ja während unseres gemeinsamen Spaziergangs so getan, als
lohnte es sich nicht, dieses Gelände aufzusuchen und als käme es
nicht einmal für irgendwelche Nachforschungen in
Betracht.
Ich war also allein
und unbeobachtet, die Sonnenstrahlen berührten die ruhige
Oberfläche des Wassers, langsam ließ ich mich sinken und fallen und
schloss unter Wasser die Augen. Es war ein unglaublich schöner,
dichter und schwereloser Moment, keine aufdringlichen Geräusche
waren zu hören, vielmehr befand ich mich in einer schalldichten
Welt, einer Welt des herrlichen Schweigens, wie ich es mir
intensiver nicht hätte vorstellen können.
Das war es! Nach
genau diesem Schweigen hatte ich mich gesehnt, es war ein
Schweigen, das mir vorkam wie ein Schweigen im weiten All, fern von
der Erde und allen ihren Klängen und Sprachen! Ein solches
Schweigen war wie für mich gemacht, es gehörte zu meiner Welt, in
ihm fühlte ich mich aufgehoben, denn in ihm gab es nichts anderes
mehr, keine Gegenstimmen, keine Verbote, keine Kommentare, einfach
nichts außer dem Schweigen selbst, das etwas Großes und Feierliches
hatte, wie das Schweigen der Menschen während der Gottesdienste im
Dom!
Ich hielt die Luft
an und versuchte, die Augen zu öffnen. Durch meine
zusammengepressten Lider erkannte ich das ruhige, flimmernde Grün
des Wassers, kompakt und porös wie eine Blase Zuckerwatte auf dem
Jahrmarkt. Es war ja so leicht, unter Wasser zu bleiben! Ich musste
nur die Luft anhalten und möglichst langsam ausatmen, dann ließen
die Sekunden sich strecken! Wie ein dem Leben auf der Erde
entglittener Körper schwebte ich regungslos im Wasser, drehte mich
auf den Rücken, kam langsam nach oben und spürte die Sonne auf
meinem Gesicht! Langsam ausatmen, die Arme ausbreiten, sich nicht
mehr bewegen!
Jetzt kannst Du
schwimmen, dachte ich auf einmal, Du kannst schwimmen, wahrhaftig,
Du kannst es wirklich, und niemand hat es Dir beigebracht, kein
Mensch hat es Dir beigebracht, das Wasser und die Sonne, die haben
es Dir beigebracht!
Ich weiß noch genau,
wie ich später die Füße wieder auf den Boden des Sees setzte und
langsam den See verließ. Ich fühlte mich plötzlich unendlich müde,
als wäre ich lang unterwegs gewesen und hätte eine anstrengende
Reise hinter mir. Dann legte ich mich auf den Steg und blickte zum
Himmel. Und während ich hinauf starrte in das Blau und noch gar
nicht richtig begriff, was gerade passiert war, durchzuckte es
mich: Dort unten in der Tiefe des Sees …- da gab es nicht nur die
vollkommene Schönheit des Schweigens, sondern da lauerte auch die
Schönheit des Todes. Nur einige Momente länger dort unten in der
Tiefe des Wassers geblieben – und schon wäre alles vorüber gewesen!
So leicht konnte man sich also das Leben nehmen, mühe- und
schwerelos, ganz ohne großen Aufwand!
Mich fröstelte, die
Sonne war längst untergegangen. Ich stand auf und zog mich rasch
an, und als ich wieder in der Gastwirtschaft war, glaubte ich fest,
dass man mir ansah, was ich erlebt hatte. Wo
bist Du denn so lange gewesen?, fragte mein Vater und fuhr
mir mit der Hand über den nassen Kopf. Ich presste mich an ihn,
eine leichte Angst war von dem Erlebnis geblieben. Hat jemand gesehen, wo der Junge gewesen ist?, rief
mein Vater in die Runde.
Die anderen schauten
mich an, und ich spürte, wie peinlich es war, wieder so angeschaut
zu werden wie früher. Ich fuhr mir über das Gesicht, als wollte ich
alle Schatten vertreiben. Da aber stand der älteste Bruder meines
Vaters auf und führte mich in die Küche. Junge, trink was!, sagte er und drehte den
Wasserhahn auf.
Sofort begriff ich,
was er meinte. Ich hielt meine beiden Hände hin und ließ das Wasser
hineinlaufen. Und dann trank ich zum ersten Mal so, wie ich Vater
seit Jahren in unserer Kölner Wohnung hatte trinken sehen, wenn er
am Abend von der Arbeit nach Hause gekommen war und mächtigen Durst
gehabt hatte, großen, mächtigen, nicht enden wollenden
Durst!