16
 
DER ERSTE Schritt, den Vater instinktiv an den Anfang meines Lernprogramms gestellt hatte, bestand darin, mich von der Mutter und dem einsamen Leben mit ihr zu trennen und in eine Gemeinschaft zu versetzen, in der ich kleine Aufgaben hatte. Das Leben in dieser Gemeinschaft unterlag bestimmten Regeln und vor allem Rhythmen, die den Tag gliederten und mich aus der passiven Lethargie meiner Kölner Tage herausrissen. So wurden die Mahlzeiten immer zu denselben Zeiten eingenommen und großer Wert darauf gelegt, dass alle auf dem Hof an diesen Mahlzeiten teilnahmen, und so wurden beinahe täglich die kleinen Pflichten und Aufgaben abgesprochen und genau vereinbart, wer nun wem bei diesen Aufgaben half und wann sie zu erledigen waren.
 
Die Leitung all dieser Tätigkeiten hatte dabei der älteste Bruder meines Vaters, der in den frühsten Morgenstunden als Erster in der Wirtschaft war und alle Planungen im Auge hatte. Er sagte, was als Nächstes zu tun war und er machte das so geschickt, dass niemand das Gefühl hatte, unter einem strengen Regiment zu leben oder harten Befehlen Folge leisten zu müssen. Die meisten Anweisungen wurden vielmehr zunächst in die Form einer Frage gekleidet: Könntest Du nicht … Wäre es nicht gut? Was darauf folgte, waren kurze Absprachen darüber, wie man an eine Sache herangehen sollte, allein, zu zweit oder mit mehreren, je nachdem, was gerade zu tun war. Ich habe während all dieser Tage bei keinem der auf dem Hof und in der Wirtschaft Arbeitenden auch nur einen Anflug von Gegenwehr oder Ablehnung, ja nicht einmal eine Spur von Unlust bemerkt. Man machte sich keine langen Gedanken, nein, man grübelte überhaupt nicht über dies und das, sondern ging an die Arbeit und sorgte dafür, dass sie rasch getan wurde.
Diese Einstellung wirkte auf mich sehr befreiend. Hatte ich früher unendlich viel Zeit zum Nachdenken gehabt, so kam ich jetzt nicht einmal mehr dazu, mir zu überlegen, was ich gern oder weniger gern tun würde. Außerdem waren den ganzen Tag lang ununterbrochen Menschen um mich herum, auf deren Gesten, Handreichungen und sonstige Zeichen ich reagieren musste. Ich konnte nicht lange nachdenken, wie mir dies oder jenes gefiel oder was ich lieber tun würde – so etwas war jetzt unmöglich, und ich hätte mich damit auch nur lächerlich gemacht. Ruhig und konzentriert eine bestimmte Arbeit zu tun – darum ging es jetzt und nur darum, auch mein Klavierüben wurde als eine solche Arbeit betrachtet, denn sie sorgte in der Gastwirtschaft und ihrer Umgebung für gute Laune.
 
All das aber gehörte, wie schon gesagt, lediglich zum ersten Schritt des Programms, das Vater im Kopf hatte. Als er beobachtete, dass sein Programm anschlug und ich durchaus willens war, etwas zu tun und mich in die Gemeinschaft einzugliedern, war er zwar noch nicht zufrieden, wohl aber erleichtert. Ich sah ihm an, dass er manchmal nach mir schaute, dabei blieb er aber auf Distanz und kam nur selten zu mir, um sich mit mir zu unterhalten, vielmehr betrachtete er mich aus größerer Entfernung, als wollte er das Bild des arbeitenden Kindes auf sich wirken lassen und in Ruhe herausbekommen wie es mir ging.
Der Eindruck, den ich dabei machte, war, wie man mir später einmal erzählte, der einer raschen Genesung. Von Tag zu Tag verschwand ein wenig mehr von dem blassen, dünnen und so überaus furchtsamen Kind, das sich in Köln keinen einzigen Schritt von den vorgesehenen Wegen entfernt und letztlich doch immer nur das Zuhause der Wohnung im Kopf gehabt hatte. Dieses blasse Kind bekam Farbe und legte seine Vermummungen allmählich ab.
Schon das Arbeiten im Unterhemd bedeutete eine Befreiung – weg mit all den Stoffen, Bekleidungen und Überkleidern, die mir Mutter aus lauter Angst vor einer Grippe oder einer anderen Erkrankung früher angezogen hatte. Unten am Fluss konnte ich mich an warmen Tagen sogar mit freiem Oberkörper herumtreiben, so dass dieser lange wie gelähmt wirkende Körper endlich auch mehr Beweglichkeit und Kontur erhielt. Zusammen mit den anderen körperlichen Anstrengungen, die mich nachts gut und tief schlafen ließen, war die dauernde Bewegung im Freien der Grund dafür, dass ich meinen Körper endlich spürte. Er war nicht mehr nur ein verquerer Bau aus ungelenken Knochen, der mit Armen und Händen dann und wann ein wenig Musik hervorbrachte, sondern eine zusammenhängende Gestalt, von der im Verlauf eines Tages der Einsatz sämtlicher Glieder verlangt wurde.
Kein Wunder also, dass ich kräftiger und schneller wurde. Vor allem die beinahe von Tag zu Tag zunehmende Schnelligkeit ließ mich selbst manchmal erstaunen, konnte ich doch leicht erkennen, um wie viel rascher ich bestimmte Wege plötzlich zurücklegte. Das schnelle Laufen am Fluss entlang oder die Wiesen hinauf auf die hügeligen Anhöhen in der Ferne erlebte ich mit wachsender Euphorie, nie hatte ich mir früher vorstellen können, dass pures Laufen eine solche Freude machen konnte.
Hinzu kam das Reiten. In Köln hatte ich immer nur zusammen mit einem Jockey reiten dürfen, wobei es mir am Ende beinahe so vorgekommen war, als traute man mir wohl niemals zu, einmal allein in einen Sattel zu steigen. Die schnellen Ritte auf der Galopprennbahn hatten eher wie Zirkus-Kunststücke oder wie Unterhaltungsprogramme für einen Beschränkten gewirkt und meist auch höchstens eine halbe Stunde gedauert. Danach hatte ich wieder einmal zuschauen dürfen, zuschauen, wie das Training verlief, oder zuhören, wie sich die Reiter über ihre Pferde unterhielten. So war ich auf der Rennbahn nichts anderes gewesen als eine pittoreske Figur am Rand oder ein Sozialfall, dem gegenüber man sich karitativ verhalten konnte. Wirklich ernst hatte mich niemand von all diesen Reitern und Pferdefreunden genommen, kein Einziger hatte jemals daran gedacht, mich einmal allein auf ein Pferd zu setzen oder mit mir bestimmte Übungen zu machen.
Auf dem Hof jedoch war das anders, denn es war selbstverständlich, dass man auf Pferden zu den weiter entfernten Feldern oder Wiesen ritt. Das Reiten war weder eine Kunst noch ein Sport, es gehörte einfach zum Alltag. Alle paar Tage bewegte man die Tiere übers Land und ritt dabei immer in der Gruppe, mit den erfahrensten Reitern an der Spitze und am Ende. Selbst ein im Reiten unerfahrenes Kind wie ich brauchte man nicht lange darüber zu belehren, wie es sich verhalten sollte. Ich hatte dann und wann schon einmal auf dem Rücken eines Pferdes gesessen, umso besser, dann würde ich schon alles richtig machen.
 
Es waren diese Einfachheit und Geradlinigkeit, die mich damals stark beeindruckten. Sie nahmen mir das Nachdenken ab und machten mich mit meiner Umgebung vertraut. Ich arbeitete, ich rannte die Strecken in immer schnellerem Tempo, ich ritt stundenlang mit aus, ohne dass jemals etwas passierte – meine ganze Leidenschaft aber galt noch etwas anderem, das nicht so leicht zu lernen war und von dem ich mir doch ein besonderes Vergnügen versprach. Ich hatte mir nämlich in den Kopf gesetzt, so bald wie möglich schwimmen zu lernen.
 
Schwimmen konnten beinahe alle, die auf dem Hof und in der Gastwirtschaft arbeiteten. Am frühen Abend, wenn die Arbeit getan war, liefen die jüngeren Männer hinunter zum Fluss, entkleideten sich und badeten nackt, indem sie sich bis nahe ans Wehr treiben ließen und dort tauchten. Die Frauen schwammen in einem Flussstück weiter flussaufwärts und hielten sich später an einer schattigen Uferpartie auf, an der drei mächtige Eichen dicht nebeneinanderstanden. Am schönsten aber schien es zu sein, an einer schmalen Kehre des Flusses hinüber ans andere Ufer zu schwimmen und dort einen steilen Felsen bis zur Spitze hinaufzuklettern. Von dort oben konnte man in den Fluss springen, der an dieser Stelle recht tief war, es waren Sprünge aus fünf bis sechs Meter Höhe, die vor allem die älteren Jugendlichen sehr reizten und dann mit viel Geschrei verbunden waren.
Warum sollte ich nicht auch einmal von dort oben hinabspringen können? An den Abenden dachte ich vor dem Einschlafen oft daran und stellte mir vor, wie ich allein auf der Spitze des Felsens stehen und ohne weiteres Nachdenken herunterspringen würde. Dazu aber musste ich mir vorher das Schwimmen beigebracht haben, allein, ohne Hilfe, was sich im Grunde von selbst verstand, denn niemand in meiner Umgebung wäre wohl auf den Gedanken gekommen, sich eigens darum zu kümmern, dass ich schwimmen lernte.
Reiten, schwimmen, laufen, Gras mähen – das alles war auf dem Land ja nicht eigentlich eine Sache des Lernens, sondern des Anpackens. Man wurde auf ein Pferd gesetzt, ließ sich ins Wasser fallen oder nahm eine Sense in die Hand – irgendwann war man dann so weit, dass man so etwas beherrschte. Deshalb war es am besten, einfach an jedem Abend mit in den Fluss zu springen und dann im Wasser ein Stück dicht am Ufer entlangzugehen.
Ich duckte mich ins Wasser, ich versuchte, die Beine so zu bewegen, wie ich es bei den guten Schwimmern gesehen hatte, vorerst aber kam ich damit nicht weiter, sondern sank jedes Mal, wenn ich schwimmen wollte, wie ein Stein in die Tiefe.
 
Weiter kam ich mit meinen unbeholfenen Übungen erst, als ich durch einen Zufall erkannte, dass dieses Sinken in die Tiefe, das mich sonst nur ängstigte und mich die Füße sofort wieder auf den Boden setzen ließ, den eigentlichen Schwimmgenuss darstellte. Diese wichtige Entdeckung machte ich an einem sonnigen Frühabend, und zwar nicht beim Baden im Fluss, in dem alle anderen badeten und schwammen, sondern ganz in der Nähe von Hof und Wirtschaft in einem Weiher, von dem ich fest annahm, dass ihn außer mir kaum jemand kannte.
 
Dieser Weiher lag in der Talsohle eines kleinen Wäldchens, in das ich einmal mit Vater während eines Spaziergangs geraten war. Vater hatte davon gesprochen, dass es in diesem Wäldchen im Herbst oft viele Pilze gebe und dass der Grund für die besondere Vegetation in diesem Waldgrundstück das leicht sumpfige Gebiet weit unten in der Talsohle sei. Ein Weiher oder auch ein kleiner See befinde sich dort unten in der Tiefe, hatte Vater gesagt, und genau diese magisch und geheimnisvoll wirkende Formulierung war es gewesen, die mich sofort dazu gebracht hatte, ihm etwas zu signalisieren: Ich wollte mit ihm nach dort unten gehen, ja ich wollte mir unbedingt genauer anschauen, was es dort zu sehen gab. Vater aber hatte nur abgewinkt, nein, hatte er gesagt, nach dort unten begleite er mich nicht, es sei dort dunkel und stickig, und außerdem gebe es dort keine richtigen Wege, sondern nur totes Unterholz.
 
Wenig später war ich dann einmal allein in das Wäldchen gegangen und langsam das recht steil ins Tal hin abfallende Gelände hinabgestiegen, es war viel einfacher gewesen als ich gedacht hatte, und unten, in der Talsohle, hatte es durchaus noch einige Wege gegeben, die alle auf den kleinen See zuliefen, der ringsum von dichten Schilfmatten umgeben war. An einer Seite des in dunklem Schatten daliegenden Gewässers aber stand noch eine alte Holzhütte und neben ihr befand sich noch immer ein schmaler Holzsteg, der weit in den See hinausführte.
Auf diesem Steg war ich mehrmals entlanggegangen, wenn ich mich für eine halbe Stunde vom Hof hatte entfernen können, ohne dass es weiter auffiel. Ich hatte mich sogar mit dem Rücken auf den Steg gelegt und mir vorgestellt, wie paradiesisch es wäre, wenn die Sonnenstrahlen bis zu mir hinabreichen würden, unvorstellbar schön könnte das sein, und dann hatte ich an einem frühen Abend bemerkt, dass die Sonnenstrahlen für den Bruchteil einer Abendstunde wirklich genau bis hinab zum See reichten.
Dieser Beobachtung war ich nachgegangen und deshalb zu den verschiedensten Tageszeiten zumindest für ein paar Minuten hinunter zum See geklettert, um zu sehen, ob sich die Sonne dort unten auch einmal länger zeigte. Das war aber nicht der Fall gewesen, die Sonnenstrahlen erreichten den See immer nur für höchstens eine halbe Stunde am frühen Abend, und zwar genau dann, wenn die Sonne sehr tief stand und gerade noch wie eine auslodernde Flamme über der Bergkuppe hing.
Es war ein letztes, prachtvolles Glimmen, das sich dann in die Tiefe des Tales ergoss und dort auf den beinahe kreisrunden See traf, dessen laichgrünes Wasser golden aufglühte, wie ein schwerer, kostbarer Trank in einem dunklen Gefäß.
Nach dieser Entdeckung war ich immer wieder einmal am Frühabend an den See gegangen und hatte mich allein auf seinem Steg aufgehalten, bis die Schönheit des abendlichen Sonnenmoments mich irgendwann derart überwältigte, dass ich mich auszog und langsam vom Steg aus ins Wasser gleiten ließ.
Am Fluss und in der unmittelbaren Nähe der Gastwirtschaft hätte ich es nie gewagt, mich nackt zu zeigen, so etwas war ganz ausgeschlossen, niemals hätte ich meine Scham überwunden, die vielleicht noch stärker und empfindlicher war als die Scham vieler Frauen, die sich während des Nacktbadens gut versteckten und genau darauf achteten, dass sie von keiner Stelle des Flusses aus beobachtet werden konnten.
Ein so schamhaftes Verhalten wurde von allen anderen Schwimmern ohne lästernde oder spöttische Worte respektiert, denn am ganzen Flussstück gab es genügend Partien, an denen sich die verschiedensten Nacktbader aufhalten konnten: Solche, denen es nichts ausmachte, gesehen zu werden, solche, die auf keinen Fall gesehen werden wollten, aber auch solche, die so taten, als wollten sie nicht gesehen werden, und doch von vielen Stellen aus leicht gesehen werden konnten.
 
Am liebsten hätte ich mich den anderen Jungen angeschlossen, die ohne die geringsten Hemmungen nackt badeten, aber, wie gesagt, es ging nicht, ich war noch nicht so weit, ich war noch viel zu sehr an das Verhüllen, Verbergen und Mich-Verstecken gewöhnt. Hinzu kam, dass auch Vater anscheinend nicht daran dachte, nackt zu baden. Bevor er ins Wasser ging, zog er sich vielmehr umständlich in unserem Zimmer um, und dann erschien er wie ein geübter Rettungsschwimmer mit allerhand Zeichen und Emblemen auf der Badehose und einem großen Badetuch um den Hals, um sich nicht einfach in der Strömung treiben zu lassen, sondern mit großem körperlichen Einsatz so schnell zu kraulen, dass man annehmen musste, er wolle jedes Mal einen neuen Rekord aufstellen.
 
Jener Abend jedoch, als ich mich zum ersten Mal auszog, war einfach zu schön, als dass ich lange Überlegungen hätte anstellen wollen. Und warum denn auch? Bisher hatte ich niemanden unten in der Talsohle an dem kleinen See gesehen, niemand kannte anscheinend dieses Gelände, selbst Vater hatte ja während unseres gemeinsamen Spaziergangs so getan, als lohnte es sich nicht, dieses Gelände aufzusuchen und als käme es nicht einmal für irgendwelche Nachforschungen in Betracht.
Ich war also allein und unbeobachtet, die Sonnenstrahlen berührten die ruhige Oberfläche des Wassers, langsam ließ ich mich sinken und fallen und schloss unter Wasser die Augen. Es war ein unglaublich schöner, dichter und schwereloser Moment, keine aufdringlichen Geräusche waren zu hören, vielmehr befand ich mich in einer schalldichten Welt, einer Welt des herrlichen Schweigens, wie ich es mir intensiver nicht hätte vorstellen können.
 
Das war es! Nach genau diesem Schweigen hatte ich mich gesehnt, es war ein Schweigen, das mir vorkam wie ein Schweigen im weiten All, fern von der Erde und allen ihren Klängen und Sprachen! Ein solches Schweigen war wie für mich gemacht, es gehörte zu meiner Welt, in ihm fühlte ich mich aufgehoben, denn in ihm gab es nichts anderes mehr, keine Gegenstimmen, keine Verbote, keine Kommentare, einfach nichts außer dem Schweigen selbst, das etwas Großes und Feierliches hatte, wie das Schweigen der Menschen während der Gottesdienste im Dom!
 
Ich hielt die Luft an und versuchte, die Augen zu öffnen. Durch meine zusammengepressten Lider erkannte ich das ruhige, flimmernde Grün des Wassers, kompakt und porös wie eine Blase Zuckerwatte auf dem Jahrmarkt. Es war ja so leicht, unter Wasser zu bleiben! Ich musste nur die Luft anhalten und möglichst langsam ausatmen, dann ließen die Sekunden sich strecken! Wie ein dem Leben auf der Erde entglittener Körper schwebte ich regungslos im Wasser, drehte mich auf den Rücken, kam langsam nach oben und spürte die Sonne auf meinem Gesicht! Langsam ausatmen, die Arme ausbreiten, sich nicht mehr bewegen!
Jetzt kannst Du schwimmen, dachte ich auf einmal, Du kannst schwimmen, wahrhaftig, Du kannst es wirklich, und niemand hat es Dir beigebracht, kein Mensch hat es Dir beigebracht, das Wasser und die Sonne, die haben es Dir beigebracht!
 
Ich weiß noch genau, wie ich später die Füße wieder auf den Boden des Sees setzte und langsam den See verließ. Ich fühlte mich plötzlich unendlich müde, als wäre ich lang unterwegs gewesen und hätte eine anstrengende Reise hinter mir. Dann legte ich mich auf den Steg und blickte zum Himmel. Und während ich hinauf starrte in das Blau und noch gar nicht richtig begriff, was gerade passiert war, durchzuckte es mich: Dort unten in der Tiefe des Sees …- da gab es nicht nur die vollkommene Schönheit des Schweigens, sondern da lauerte auch die Schönheit des Todes. Nur einige Momente länger dort unten in der Tiefe des Wassers geblieben – und schon wäre alles vorüber gewesen! So leicht konnte man sich also das Leben nehmen, mühe- und schwerelos, ganz ohne großen Aufwand!
 
Mich fröstelte, die Sonne war längst untergegangen. Ich stand auf und zog mich rasch an, und als ich wieder in der Gastwirtschaft war, glaubte ich fest, dass man mir ansah, was ich erlebt hatte. Wo bist Du denn so lange gewesen?, fragte mein Vater und fuhr mir mit der Hand über den nassen Kopf. Ich presste mich an ihn, eine leichte Angst war von dem Erlebnis geblieben. Hat jemand gesehen, wo der Junge gewesen ist?, rief mein Vater in die Runde.
Die anderen schauten mich an, und ich spürte, wie peinlich es war, wieder so angeschaut zu werden wie früher. Ich fuhr mir über das Gesicht, als wollte ich alle Schatten vertreiben. Da aber stand der älteste Bruder meines Vaters auf und führte mich in die Küche. Junge, trink was!, sagte er und drehte den Wasserhahn auf.
Sofort begriff ich, was er meinte. Ich hielt meine beiden Hände hin und ließ das Wasser hineinlaufen. Und dann trank ich zum ersten Mal so, wie ich Vater seit Jahren in unserer Kölner Wohnung hatte trinken sehen, wenn er am Abend von der Arbeit nach Hause gekommen war und mächtigen Durst gehabt hatte, großen, mächtigen, nicht enden wollenden Durst!