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JETZT IST es so
weit, jetzt bin ich so weit. Ich bin jetzt in meiner Erzählung so
weit, dass ich erzählen kann, wie ich den ersten Satz sprach und
danach viele weitere Sätze. Dass und wie es dazu kam, ist beinahe
eine eigene Geschichte, die mir noch heute unglaublich erscheint.
Ich habe diese Geschichte bisher noch keinem anderen Menschen
erzählt, niemand kennt sie, selbst meine Mutter und mein Vater, die
längst gestorben sind, haben während ihres Lebens von ihr nichts
erfahren.
Ich gebe diese
Geschichte jetzt preis, und ich tue dies aus Gründen, die ich mir
sehr genau überlegt habe. Diese Gründe jedoch tun im Augenblick
nichts zur Sache, erst später werde ich vielleicht auf sie
zurückkommen. Jetzt aber kommt es nur noch darauf an, die
Geschichte meiner Sprachwerdung möglichst genau und vollständig zu
erzählen. Und diese Geschichte vollzieht sich in genau drei
Schritten.
Es begann damit,
dass ich an einem frühen Abend noch einmal zu meinem See wollte, um
dort in der letzten Abendsonne zu baden. Meist verschwand ich, wenn
ich das tun wollte, für kaum mehr als eine halbe Stunde, ich lief
durch das kleine Wäldchen hinunter zum Wasser, zog mich aus,
schwamm einige Runden, ließ mich auf dem Rücken treiben, rieb mich
mit den eigenen Kleidern trocken, zog sie wieder an und lief
zurück.
Auch an diesem Abend
war ich schnell unterwegs und glitt den Abhang zum Wasser sogar auf
dem Hosenboden herunter. Dabei hörte ich einige Geräusche, die ich
bisher noch nie in diesem Wäldchen gehört hatte. Ich bremste meine
Talfahrt mit beiden Händen ab und schaute hinunter zum See, und was
ich dort zu sehen bekam, ließ mich erstarren.
Unten, in dem von
der Abendsonne erleuchteten See, sah ich meine Mutter, die gerade
und aufrecht in der Mitte des Sees stand und sich kurz vor dem
Abtauchen die Haare zusammenband. Als sie damit fertig war, kühlte
sie ihren Oberkörper mit dem Seewasser ab, sie ließ es langsam über
ihre Brust und den Rücken rieseln und sie wischte sich damit durchs
Gesicht, dann ging sie kurz in die Hocke, so dass ihr gesamter
Oberkörper für einen Moment unter Wasser war. Ich konnte sie ganz
deutlich erkennen, und es war keine Frage, dass es sich um meine
Mutter handelte, anscheinend war sie vor Kurzem auf dem Hof
eingetroffen und gleich zu einem kurzen Bad hierher geeilt, ohne zu
ahnen, dass auch ich diesen See beinahe jeden Abend für ein kurzes
Bad aufsuchte.
Sie breitete die
Arme weit aus und drehte sich in die Richtung der Abendsonne, dann
aber tauchte sie mit dem Kopf voran ab, ich sah ihren nackten, lang
gestreckten Körper genau, wie er seine Bahnen durch das weiche Grün
des Sees zog, immer im Kreis. Nach einigen Schwimmbewegungen
tauchte ihr Kopf wieder auf, und sie schwamm ruhig weiter, ich
hörte sie durchatmen, zwei-, dreimal atmete sie kräftig aus und
ein, dann aber hörte ich sie plötzlich singen, sehr leise, aber
ganz deutlich, ich hörte sie singen.
Es war ein ganz
einfacher, schlichter Gesang, es war ein Vorsichhinsingen und damit
wirklich nichts Besonderes. Jedem anderen, der diese singende Frau
vorher nicht gekannt und jetzt hier gehört hätte, wäre nichts an
diesem Gesang aufgefallen, vielmehr hätte er diesen Gesang für den
Gesang einer Frau gehalten, die sich in diesem See wohlfühlt, die
Abendsonne genießt und mit sich und der Welt vollkommen im Reinen
ist.
Ich jedoch sah und
hörte nun etwas, das ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen
und gehört hatte. Ich meine nicht die Nacktheit meiner Mutter,
natürlich nicht, obwohl es auch stimmt, dass ich meine Mutter zuvor
noch niemals nackt gesehen hatte. Ihre Nacktheit war es jedoch
nicht, die mich in den Bann zog, es war vielmehr die Ruhe, ja die
Freude, die sie plötzlich ausstrahlte und zu der das merkwürdige
Singen so gut passte, das sich zudem noch so anhörte, als könne es
in jedem Moment umkippen in ein leises Sprechen. Waren nicht auch
deutlich Worte zu hören, oder irrte ich mich?
Ich konnte die Worte
jedenfalls nicht verstehen, der Gesang ähnelte sowieso mehr einer
Art Summen, und wenn es wirklich Worte waren, die sie benutzte,
dann waren es wohl keine deutschen, sondern Worte einer anderen
Sprache. Etwas in der Art hatte ich einmal auf einer ihrer
Schallplatten gehört, seltsame Worte und ein seltsames Summen, im
Grunde hörten sich die Worte bereits an wie ein Gesang, jedenfalls
ging ihr Klang in Musik über.
Immer wieder tauchte
Mutter auch ab, und dann war es rings um den See beinahe
erschreckend still, ich sah ihren hellen Körper wie etwas unfassbar
Fremdes durch den goldgrünen See gleiten, als wäre sie nicht meine
Mutter, sondern ein Waldwesen, und dann tauchte sie wieder auf,
atmete kräftig durch und setzte ihren Gesang fort, als habe sie
auch unter Wasser damit weitergemacht.
Keine Sekunde lang
dachte ich daran, mich ihr zu zeigen, nein, auf keinen Fall, mit
diesem Waldwesen wollte ich keinen Kontakt aufnehmen, und so
starrte ich weiter hinab und beobachtete die Szene und hörte das
Singen und versuchte mir alles genau einzuprägen: Die kleinen
Wellen, die Mutters Schwimmbewegungen ans Ufer warfen, die golden
aufblitzenden winzigen Kämme des aufgewühlten Wassers in ihrer
Nähe, ihren schmalen, mal auf dem Rücken, mal auf der Brust dahin
gleitenden und so unendlich leicht wirkenden Körper, ihre dunklen
Haare, die sich, je länger sie schwamm, immer mehr auflösten und,
wenn sie tauchte, wie eine dunkle Insel im Wasser trieben
…
Man sollte wissen,
dass ich bis zu diesem Moment noch nie einen Film gesehen hatte, ja
dass ich nicht einmal genau wusste, was ein Film eigentlich war. In
der Nähe unserer Kölner Wohnung gab es zwar ein kleines Kino, doch
niemand hatte mich je mit hineingenommen. Auch ferngesehen hatte
ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht, in unserem Wohnhaus hatte kein
Mensch Fernsehen, und auf dem Land gab es erst recht niemanden, der
so etwas bereits besaß.
An bewegte, gut
ausgeleuchtete und inszenierte Bilder war ich also nicht gewöhnt,
bisher hatte ich nur Fotografien kennengelernt. Jetzt aber sah ich
meinen ersten Film, wie ihn der erfahrenste Regisseur nicht besser
hätte inszenieren können. Es handelte sich um einen durch und durch
erotischen Film, es handelte sich um das Erotischste überhaupt, was
ich bis dahin gesehen hatte und für lange Zeit sehen würde. Es war
eine Erotik, die sofort unter die Haut ging, und das in einem ganz
wörtlichen Sinn.
Am liebsten hätte
ich mich nämlich sofort ausgezogen und mich zu der schwimmenden
Schönen gesellt, die so aussah wie meine Mutter, am liebsten hätte
ich die kostbare Zeit bis zum Sonnenuntergang mit ihr zusammen im
Wasser verbracht. Ich hätte sie nicht berührt, nein, gewiss nicht,
ich hätte mich ihr nicht genähert, ich wäre nur neben ihr durch den
See geschwommen und hätte genauso getaucht und mich genauso
wohlgefühlt wie sie auch.
So weit von ihr
entfernt auf dem Waldboden zu hocken und sie lediglich zu
betrachten, das war dagegen nur schwer zu ertragen, ja, es war
schlimm, ein bloßer Beobachter bleiben zu müssen und in diese
schönen Bilder nicht eindringen und mitschwimmen zu
dürfen.
Was ich in diesen
Momenten spürte, war ein wirklicher Schmerz, der von der Entbehrung
herrührte, ich sah etwas durch und durch Begehrenswertes und durfte
es nicht besitzen, ich blieb ausgeschlossen von der Wucht dieser
Bilder und musste es hinnehmen, von ihnen überwältigt zu
werden!
Deshalb erhob ich
mich langsam und achtete sorgfältig darauf, dass mich die schöne
Frau nicht bemerkte. Ich wollte sie jedoch weiter im Auge behalten,
und so schlich ich langsam wieder den Hang hinauf, drehte mich
laufend nach ihr um, sah sie kleiner werden und hörte währenddessen
doch ununterbrochen ihr Summen, das, als wollte es mich verhöhnen,
lauter wurde, je mehr ich mich entfernte.
Schließlich war sie
gar nicht mehr zu sehen, doch das Summen blieb, ganz genau war es
noch hoch oben im Wäldchen zu hören, ich schloss die Augen und
versuchte, mich auf diese Melodien zu konzentrieren, und dann
wusste ich plötzlich, dass es sich um ein französisches Stück
handeln musste, ja genau, Mutter sang etwas Französisches, so nannte man es, denn ich glaubte
mich gut zu erinnern, dass Vater einmal von jemandem gefragt worden
war, ob Mutter noch immer diese französischen
Sachen möge, Vater hatte genickt, und ich hatte dieses
Nicken mit den vielen fremdsprachigen Musikstücken in Verbindung
gebracht, die Mutter oft hörte und die Chansons genannt wurden. Keine Opern also, sondern
Chansons, französische
Chansons!
Ich legte mich auf
den Rücken, schloss wieder die Augen und hörte Mutters leises
Summen, das bis zum Waldrand reichte, ich versuchte, mir dieses
Summen zu merken, ja, so ging es, so genau, ich würde so bald wie
möglich einmal versuchen, diese Melodie auf dem Klavier zu spielen,
das müsste wohl gehen, denn die Noten hatte ich ja bereits im Kopf,
so dass ich später am Abend die ganze Melodie in mein Notenheft
eintragen würde!
Dann aber wurde es
endgültig still. Gleich würde die Sonne an dieser Stelle auch
untergehen, während der Hof noch einige Minuten länger im letzten
Licht lag. Ich wartete nicht, sondern lief über die Wiesen rasch in
der Richtung des Hofes zurück, Mutter sollte mich auf keinen Fall
sehen, ich würde mich vielmehr in die Wirtschaft setzen und
abwarten, bis sie dort erschien.
Sonst war es in der
Wirtschaft zu dieser Abendstunde meist richtig voll, diesmal aber
war es das nicht, ich schlüpfte hinein und setzte mich an einen der
leeren Tische, anscheinend waren alle gerade nach draußen in den
Garten gegangen, um dort gemeinsam etwas zu trinken und irgendeinen
Anlass zu feiern, jedenfalls hörte ich draußen einige Rufe und
Deklamationen, als feierte man einen Geburtstag.
Ich war plötzlich
sehr müde und gleichzeitig sehr aufgeregt, ich wusste nicht wohin
mit all meinen durcheinandergeratenen Gefühlen. Am liebsten wäre
ich draußen im Fluss schwimmen gegangen, aber das ging nicht mehr,
denn am Fluss war es bereits dunkel. Die Tür der Gastwirtschaft
stand offen, ich blickte hinaus, draußen vor der Tür wirbelte noch
der letzte Sonnenstaub des Abends, das Licht fiel noch ein wenig
hinein in die sonst bereits eingedunkelte Gaststube, ein letztes
Licht war es, höchstens noch eine schmale Spur, wie ein kleiner
Feuerbrand, der sich jetzt gerade zurückzog und schlafen legte …:
ich stand auf und folgte dem kleinen Strahl und wartete dann in der
offenen Tür, dass die vollkommene Dunkelheit einbrach, als ich auf
der Straße vor der Wirtschaft noch zwei fremde Kinder Ball spielen
sah.
Sie spielten ganz
ruhig, als wäre dieses Spiel das wirklich letzte, das sie heute
noch spielen würden, sie kickten den Ball in regelmäßigem Rhythmus
hin und her, der eine zum andern, hin und her …, ich schaute ihnen
zu, es war so schön, das zu sehen, dieses ruhige Kicken, keinen
Streit, kein Sprechen, nur dieses Kicken, hin und her.
Da machte ich eine
kleine Bewegung nach vorn und rief den beiden zu: Gebt mal her!
Ich war von diesem
kurzen Zuruf selbst so erschrocken, dass ich beinahe gestürzt wäre.
Wie bitte?! Hatte ich gerade etwa gesprochen?! War ich das gewesen?
Waren diese wenigen Laute meine eigenen Laute gewesen?
Ich bewegte mich
nicht, ich starrte die beiden Jungen an und sah, wie sich der
kleinere zu mir drehte und mir den Ball zukickte, klack!, machte es, und der Ball sprang kurz vor mir
auf, und ich bückte mich und packte ihn mit den Händen und hielt
ihn fest und drückte ihn an meine Brust.
Was tust Du denn?, rief da der andere der beiden
Jungen, nicht mit den Händen, mit den
Füßen! Ich verstand aber nicht genau, was er meinte, ich
hörte ihm nicht richtig zu, ich versuchte vielmehr zu verstehen,
dass die beiden Jungs mich nicht kannten und daher nicht ahnten,
dass der in der Tür stehende Bub, der soeben den Ball mit den
Händen statt mit den Füßen berührt hatte, gerade den ersten Satz
seines Lebens gesprochen hatte: Gebt mal
her!
Gib wieder her!, rief der jüngere der beiden, sein
Ruf ließ mich erwachen, so dass ich den Ball fallen ließ und ihn zu
den beiden Jungen zurückkickte, die den Spaß daran, mit mir zu
spielen, sofort wieder verloren hatten und allein weiterspielten.
Das jedoch machte mir gar nichts aus, nein, sollten sie doch
weiterspielen, das war jetzt nicht wichtig, wichtiger war, dass ich
es geschafft hatte, laut und deutlich zu sprechen, und dass es
Menschen gab, die dieses Sprechen verstanden und darauf auch
reagierten.
Ich drehte mich um
und ging wieder in die jetzt dunkle Gaststube zurück, ich tastete
mich an der Theke entlang und bog dahinter in den schmalen Flur
ein, über den ich zu der Treppe gelangte, die hinauf zu den
Fremdenzimmern führte. Das Zimmer, das Vater und ich bewohnten, war
nicht verschlossen, auf dem Bett lag jedoch ein schwerer geöffneter
Koffer mit Mutters Sachen, es sah so aus, als wäre sie erst vor
Kurzem angekommen und gleich zum Schwimmen gelaufen, um sich vor
dem Abendessen noch zu erfrischen.
Ich setzte mich auf
den Boden, neben das Bett, ich hielt mir die Augen zu und sagte ein
zweites Mal: Gebt mal her! Ja, ich
konnte mich hören, ja, ich konnte mich deutlich und gut verstehen!
Noch einmal: Gebt mal her! Und immer
wieder: Gebt mal her! Gebt mal her!
…
Heute bin ich ganz
sicher, dass ich damals ohne die Erlebnisse, die meinem ersten
Sprechen unmittelbar vorausgingen, noch nicht gesprochen hätte. Die
Bilder von meiner im Abendlicht schwimmenden Mutter und die Bilder
vom letzten Abendlicht in der eindunkelnden Gaststube gehören auf
geheimnisvolle Weise zusammen und bilden so etwas wie eine magische
Spur, der ich danach mein Leben lang gefolgt bin, ohne dass ich sie
bis heute begriffen hätte.
Viele einzelne
Bausteine zur Lösung dieses Geheimnisses habe ich bisher gesammelt,
und manchmal habe ich das Gefühl, ich wäre der Lösung dieses mich
seither so stark beschäftigenden Rätsels sehr nahe. Was ist damals
genau mit mir passiert? Warum entlockten mir die Bilder gerade
dieses Abends die ersten Worte und warum verfolgten mich diese
Bilder später ein Leben lang, so dass ich bis heute nicht von ihnen
losgekommen bin?
Jetzt kann ich es ja
zugeben, ich schreibe all das hier auf, um genau diese Rätsel und
ihre Folgen, die mein ganzes weiteres Leben geprägt haben, zu
lösen. Schritt für Schritt will ich mein Leben noch einmal
ergründen und jedem kleinen Wink nachgehen. Letztlich folge ich
dabei nur einigen Lichtsequenzen in einem großen Dunkel. Aber ich
befinde mich in Rom, der Stadt des Lichts und des römischen Blaus, und damit befinde ich mich in der
besten Stadt, die ich mir für mein Vorhaben hätte aussuchen
können.
Es ist nun sehr
still, ich habe bis weit nach Mitternacht geschrieben. Ich werde
noch einmal hinausgehen, um mich zu beruhigen, aber ich ahne schon,
dass mir das nicht gelingen wird. Mein Leben und meine Gefühle
kreisen viel zu stark um die Bilder, von denen ich eben erzählt
habe, als wäre in ihnen ein Zauber verborgen, den ich erst noch
bannen muss, um die eigentliche Befreiung von den Schrecken meiner
Kindheit zu erleben. Jedes Mal, wenn ich mich längere Zeit an diese
Bilder erinnere und ihnen damit wieder näher komme, tue ich die
seltsamsten und mir später oft nicht mehr verständlichen Dinge. Oft
hat es mich große Mühe gekostet, diese Dinge wieder ins Lot zu
bringen.
Johannes, pass auf Dich auf!