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NUN IST eingetreten, wovor ich mich vor einigen Wochen noch streng gehütet und wovon ich die ganze Zeit Abstand genommen habe: Ich habe nicht nur Kontakt zu meiner römischen Umgebung aufgenommen, sondern ich bin sogar ein Teil von ihr geworden. Seit jenem frühen Abend, an dem ich für Marietta und Antonia den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Bach gespielt habe, kreist das Gerücht, ich sei ein in vielen Ländern der Erde gefeierter Pianist.
Rund um den kleinen Markt hat sich mein Ruf inzwischen so verbreitet, dass ich von wildfremden Menschen begrüßt und auf meine besonderen Fähigkeiten hin angesprochen werde. Die Details meines nicht beabsichtigten Auftritts tun bereits nichts mehr zur Sache und sind daher längst durcheinandergeraten. So haben mich einige Marktbesucher angeblich um Mitternacht spielen gehört, und andere waren bei einem Wohltätigkeits-Konzert im Freien zugegen, das ich direkt auf der vor meinem Wohnhaus liegenden Piazza gegeben habe.
Längst herrscht auch Unklarheit darüber, was ich eigentlich in dieser wundersamen Nacht gespielt haben soll. Die meisten Optionen gelten Stücken Beethovens, aber auch Mozart und Schumann sind im Gespräch, nur von Bach ist seltsamerweise niemals die Rede. Wenn ich versuche, die Angaben zu korrigieren und erkläre, dass ich lediglich den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Bach gespielt habe, kommen auch diese Korrekturen nicht richtig an. Meist fragen meine Gesprächspartner nämlich noch einmal nach und wiederholen korrekt, dass es sich also um das Italienische Konzert gehandelt habe, der Name Bach ist dabei aber nur in seltenen Fällen hängengeblieben, weil man Bach anscheinend nicht mit einem Italienischen Konzert in Verbindung bringt.
So hat sich mit der Zeit das unsinnige Gerücht durchgesetzt, dass ich ein Italienisches Konzert gegeben habe, wahrscheinlich verstehen manche darunter sogar, dass ich gesungen oder die Gitarre gespielt habe. Hier und da wird auch behauptet, ich habe mich selbst auf dem Klavier begleitet und einige Opernpartien zum Besten gegeben, all das ist so grotesk, dass ich es irgendwann aufgegeben habe, die Sache richtig zu stellen, und nur noch freundlich nicke, wenn von meinem splendiden Italienischen Konzert die Rede ist.
 
Wichtiger als das Rumoren dieser Gerüchteküche erscheint mir aber die Frage, wie ich mit dieser Veränderung meines Status umgehen soll. Gefällt mir meine Aufnahme in die römischen Zirkel meiner näheren Umgebung? Bin ich erleichtert, dass ich jetzt überall angesprochen werde, nachdem ich doch wochenlang den schweigsamen und etwas abwesenden Fremden herausgekehrt habe, der nur zu einem kurzen Caffè in einer Bar erscheint?
Ehrlich gesagt, macht es mir ein gewisses Vergnügen, dass meine Anwesenheit in einer Bar oder auf dem Gelände der weiten Piazza jetzt jedes Mal von kurzen Presto-Dialogen eingeleitet wird. Jeder, der mich zu erkennen glaubt, spricht mich zunächst auf meinen Auftritt an, man wechselt einige rasche Bemerkungen zur Musik und ihrer angeblich enorm erlösenden und befreienden Kraft, dann aber wird das Neuste vom Tag verhandelt und besprochen, bis am Ende wieder eine knappe Bemerkung über die Musik und die pianistischen Zauberkünste fällig ist.
So hat jedes Gespräch jetzt einen Rahmen und eine Struktur, ich erfahre viel mehr als zuvor, manchmal werde ich sogar zu einem Getränk eingeladen, ja, ich gebe zu, dass mir mein neuer Ruf in dieser Hinsicht durchaus gefällt.
 
Ganz anders und viel komplizierter verläuft jedoch meine neue Bekanntschaft mit Antonia und ihrer Tochter. Der fragliche Nachmittag und der spätere Abend in der Wohnung der beiden – sie haben mich zu einem Freund der Familie gemacht. Ein solcher Freund ist kein Fremder mehr, den man kurz grüßt und mit dem man ein paar knappe Worte wechselt, er ist vielmehr ein Mensch, den man mehr als andere schätzt und dessen Nähe man täglich sucht.
Daher haben sich zwischen uns gewisse Vertraulichkeiten ergeben, und ich habe noch keine Methode gefunden, damit umzugehen. Kommt Marietta am Mittag aus der Schule noch Hause, klingelt sie inzwischen bei mir, betritt meine Wohnung, trinkt mit mir in der Küche ein Glas Wasser und erzählt mir, was sich an diesem Vormittag in ihrer Schule ereignet hat.
Trifft wenig später Antonia ein, um für ihre Tochter und sich selbst das Mittagessen zu kochen, so erscheint sie ebenfalls zunächst bei mir, weil sie Marietta abholen möchte. Meist werde auch ich dann zum Mittagessen geladen, oder ich erhalte irgendeine kleine Aufmerksamkeit zum Geschenk, die Antonia mir und nur mir mitgebracht hat: Ein Glas Orangenmarmelade aus Sizilien! Ein irisches Dunkelbier! Einige frische Datteln vom Markt!
All diese Leckereien sind so etwas wie der Köder, den Antonia auslegt, weil sie genau weiß, wie empfänglich ich für solche Genüsse bin. Die Gegengabe, die sie dafür erwartet, besteht nun aber keineswegs aus ähnlichen kleinen Aufmerksamkeiten, die nun wiederum von meiner Seite her aufzubieten wären, sondern ausschließlich darin, dass ich ihr, wann immer sie es für nötig erachtet, für ein längeres Gespräch zur Verfügung stehe.
 
Auch damit könnte ich noch leben, wenn es in all diesen Gesprächen, wie ich übrigens erst nach einer Zeit der Verblendung bemerkt habe, nicht vor allem um die Trennung von ihrem Mann und eine eventuell bevorstehende Scheidung gehen würde. Jedes unserer Gespräche beginnt dabei noch relativ harmlos, biegt dann aber nach wenigen Minuten unweigerlich auf das eine Thema ab.
Nun kann ich ja durchaus verstehen, dass Antonia nach, wie ich inzwischen weiß, dreizehn Jahren Ehe damit zu kämpfen hat, eine Trennung von ihrem Mann hinzunehmen und zu ertragen, unverständlich dagegen war mir eine Zeit lang, warum ausgerechnet ich dazu berufen sein sollte, die Einzelheiten eines solchen Lebensumbruchs mit ihr in allen nur denkbaren Aspekten durchzugehen.
Erst langsam begriff ich dann, dass ich für Antonia der geradezu ideale Gesprächspartner bin: Anders als ihre Freundinnen und Bekannten bin ich in die Geschichte nicht involviert, und anders als diese Freundinnen und Bekannten bringe ich wohl eine geradezu grenzenlose Geduld auf, wenn es darum geht, sich in die Einzelheiten der Geschichte zu vertiefen.
Warum aber tue ich das? Warum sage ich ihr nicht einfach, dass mir die Trennung von ihrem Mann relativ gleichgültig und die Tatsache, dass er nach dreizehn Jahren Ehe noch einmal mit einem Fitnessprogramm begonnen hat, sogar noch gleichgültiger ist?
 
Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich gar nicht selten in solche Gespräche wie die mit Antonia hineingezogen werde. Anscheinend sende ich bestimmte Signale aus, als würde ich mich für derartige Gespräche wahrhaftig eignen. Ich werde mit den Details einer Freundschaft oder einer Liebe vertraut gemacht, ich erhalte Informationen zu den sexuellen Vorlieben von langjährigen Lebenspartnern, ich werde gebeten, darüber nachzudenken, ab wann und warum körperliche Attraktivität in bestimmten Liebesbeziehungen wohl nachlässt – und ich gehe wahrhaftig auf alle diese Themen ein, manchmal sogar gegen meinen Willen.
 
Eine gute Freundin hat mir einmal erklärt, dass ich in solchen Gesprächen eine bestimmte Aura aufbauen würde, und dann hat sie mir auf meine erstaunte Nachfrage sogar noch genau beschrieben, worin diese Aura besteht.
Das Wort Aura gefiel mir natürlich, wieder mal war ich auf eines meiner dunklen, magischen Lieblingswörter gestoßen, was jedoch mit dem Wort gemeint war, gefiel mir ganz und gar nicht. Angeblich vermittle ich nämlich den Eindruck einer besonderen Hingabe und Einfühlung, und angeblich würde meine Gesprächspartnerin das bemerken, weil sich der Raum um uns während des Gesprächs allmählich schließen und dadurch immer intimer würde. Emotionale Raumaufladung! – so nannte sie das Kunststück, das ich angeblich, ohne es zu wissen, beherrschte.
 
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, sondern achtete seither darauf, dass so etwas nicht mehr vorkam, leider war es während meiner ersten längeren Begegnung mit Antonia an dem fraglichen Nachmittag und dem späteren Abend dann doch vorgekommen, ich hatte mich im Hochgefühl meines pianistischen Auftritts einfach nicht in der Gewalt gehabt.
Nun hätte ich Antonia ja irgendwann durchaus sagen können, dass ich in die Geschichte der Trennung von ihrem Mann nicht hineingezogen werden wollte, das aber unterließ ich sträflicherweise auch, und zwar deshalb, weil es in der ganzen Geschichte eben doch gewisse Details gab, die immerhin für ein schwaches Interesse und schließlich sogar für eine gewisse Neugierde von meiner Seite sorgten.
 
All diese Details hatten mit dem Umstand zu tun, dass Antonias Mann sich von einem Tag auf den andern aus der gemeinsamen Wohnung abgesetzt und dafür keine andere Erklärung außer der, dass er das Eheleben nicht mehr ertrage und dass es ihn abgrundtief langweile, gegeben hatte. Antonia glaubte diesen schnörkellosen und simplen Formulierungen nicht, sie vermutete vielmehr, dass hinter der ganzen Sache ein ganz anderes Motiv steckte. Eine andere Frau? Oder eine angebliche Erbschaft, die ihr Mann allein genießen wollte?
Zu all diesen Vermutungen hatte ihr Mann nur gesagt, dass sie allesamt dummes Zeug seien, das aber genügte Antonia nicht, nein, es genügte ihr einfach nicht, dass ihr Mann die gemeinsame Wohnung so leicht wie ein Vogel verlassen hatte, um auf dem gegenüberliegenden Tiber-Ufer eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Ausblick auf den Fluss zu beziehen. Nichts hatte er mitgenommen, nichts, nicht einmal seine Anzüge und Schuhe! Stattdessen hatte er erklärt, er wolle das alles nicht mehr sehen, Antonia könne seine Siebensachen verschenken oder verkaufen und das Geld könne sie auch behalten, er wolle einfach nicht mehr an die Vergangenheit erinnert werden, sondern ein neues Leben beginnen.
 
In unseren Gesprächen waren wir die ganze Sache immer wieder durchgegangen, und als es mir allmählich zu viel geworden war, hatte ich Antonia sogar gefragt, ob ihr Mann nicht vielleicht am Ende einfach recht gehabt und ihre Ehe nicht wirklich Anzeichen einer gewissen Übermüdung gezeigt habe. Antonia hatte das sofort zugegeben, ja, so sei es gewesen, eine gewisse Übermüdung habe es gegeben, aber nicht mehr als in solchen langjährigen Verbindungen üblich. In den Ehen all ihrer Freundinnen gebe es diese Übermüdung, man gehe deshalb aber doch nicht auseinander, sondern arrangiere sich und jeder führe im schlimmsten Fall dann eben ein Leben für sich, mit allem Respekt vor dem Leben des andern. Sich aber einfach auf und davon zu machen und nicht zu verraten, was sich hinter dieser Flucht verberge, das sei respektlos und unaufrichtig, und so etwas Respektloses und Unaufrichtiges ertrage sie nicht.
Ihre Unruhe, ihre Verbissenheit, ihr ganzer Furor – das alles ließ mich nicht los, ja es trieb mich sogar an, als wäre ausgerechnet ich dazu berufen, Licht in die reichlich dunkle Geschichte zu bringen. Manchmal begegnete ich Antonias Mann noch immer im Treppenhaus, wir grüßten uns weiter kurz, er konnte ja nicht ahnen, dass ich mir überlegte, ihn direkt zur Rede zu stellen: Nun heraus mit der Sprache! Oder, noch etwas dramatischer: Sie Lump, ich erwarte eine Erklärung! Oder, in einer eher melodramatischen Version: Darf ich Sie auf einen Drink einladen?
 
Statt auf eine Klärung der Geschichte zu drängen, sagte ich nichts, so dass es mit den Vermutungen und Verdächtigungen weiter und immer weiter ging. Doch damit nicht genug: Antonia erklärte mir, dass sie wegen der Trennungs- und Scheidungs-Geschichte durcheinander und nicht recht zurechnungsfähig sei und aus diesem Grund den Noten des Italienischen Konzertes einen in der Tat unmöglichen Fingersatz verpasst habe. So etwas sei ihr noch nie passiert, sie schäme sich, außerdem aber schäme sie sich auch, weil sie es in den letzten beiden Jahren versäumt habe, ihrem fleißig Klavier übenden Kind einen guten Lehrer zu beschaffen. Sie selbst sei jedenfalls keine gute Klavierlehrerin und sie habe sich auch nicht für eine solche gehalten, sie habe vielmehr nur die Aufsicht über das Klavierspiel ihrer Tochter geführt, und das sei eindeutig zu wenig gewesen!
Natürlich ahnte ich, worauf sie hinaus wollte. Sie bettelte darum, dass ich Mariettas Klavierunterricht übernahm, und sie verband diese Bettelei mit der Nebenabsicht, mich noch detaillierter mit ihren Eheproblemen vertraut zu machen.
 
Nun war Antonias Eheproblem die eine Seite unserer gemeinsamen Geschichte, Mariettas Klavierspiel aber eine durchaus andere. Beide Seiten hatten nicht unbedingt etwas miteinander zu tun und bedurften deshalb getrennter Betrachtung. Ein Klavierlehrer wollte ich nicht gerne sein und war es ja auch bisher mein Leben lang nicht gewesen. Wohl aber fühlte ich mich verpflichtet, der kleinen Marietta zu helfen, einen gescheiten Klavierlehrer zu finden.
Das Angebot, das ich Antonia machte, war deshalb von, wie ich finde, salomonischer Weisheit: Ich erklärte, dass ich Marietta für eine gewisse Übergangszeit unterrichten, mich aber gleichzeitig um einen anderen, dauerhaften Klavierlehrer kümmern werde. Gleichzeitig bat ich sie, dass wir ihre gegenwärtigen Probleme nicht mit dem Klavierunterricht ihrer Tochter in Verbindung bringen sollten. Ich würde also ausschließlich zum Zwecke des Unterrichts in ihrer Wohnung erscheinen, über ihre Ehe-Probleme wolle ich aber nicht weiter sprechen. Wenn sie mit diesen Bedingungen einverstanden sei, könne ich mit dem Unterricht gleich beginnen.
 
Natürlich war Antonia einverstanden, und sie versuchte es mir zu beweisen, indem sie mir einen kleinen Brief in den Briefkasten warf, in dem sie mein Klavierspiel lobte und in einem Postskriptum versicherte, sie werde in meiner Anwesenheit kein einziges Wort mehr über ihren Mann verlieren. Ich misstraute diesem Pathos, und ich behielt recht: Kaum zwei Tage später klingelte sie bei mir und überraschte mich mit der Einladung, mit ihr eine kleine Portion schwarzen Reis mit etwas Fisch zu verzehren und dazu einen Weißwein aus dem nahe gelegenen Frascati zu trinken.
Konnte ich diese Einladung ablehnen? Nein, ich konnte es nicht, und so erfuhr ich, während ich mich über einen Teller mit schwarzem Reis und sehr feinem, klein geschnittenen Gemüse beugte und dazu Stücke einer gegrillten Seezunge in den Mund schob, dass ihr Mann angeblich in einen Ruderverein eingetreten sei und nun zweimal in der Woche auf dem Tiber mit einer Gruppe anderer Ruderer beim Training gesehen werde …
 
Als ich einen Tag später dann neben Marietta saß, um ihr meine erste Klavierstunde zu erteilen, geriet ich schon nach wenigen Minuten ins Grübeln. Ich hatte mir zuerst die Noten des Italienischen Konzerts geben lassen und rasch die Fingersätze des ersten Satzes geändert, das aufgeschlossene und auf meinen Unterricht neugierige Kind danach aber gebeten, mit dem langsamen Üben einer bestimmten Eingangspassage zu beginnen.
Ich lehnte mich etwas zurück und hörte Marietta zu, wie sie immer wieder von vorne begann, manchmal hängen blieb, und es dann wieder eher zufällig schaffte, die Passage zu spielen, ich schaute zum Fenster hinaus auf das entschiedene Blau, das oberhalb der Häuser lauerte, als ich mich plötzlich an jenen Klavierunterricht erinnerte, der mein Klavierspiel und mein Üben so sehr verändert hatte.
Er begann noch in meiner Volksschulzeit, als sich meine Mutter nach unserer Rückkehr vom Land und der Wiederaufnahme ihres Berufs als Bibliothekarin nach einem Klavierlehrer für mich umgeschaut hatte. Durch Hinweise von Bekannten war sie auf einen Klavierpädagogen aufmerksam geworden, der damals in Köln bereits einen guten Ruf besaß. Er hieß Walter Fornemann und unterrichtete Musik an einem Kölner Gymnasium, galt zu dieser Zeit aber auch als ein ausgezeichneter Pianist, der an der Musikhochschule eine kleine Klasse von ausgewählten Schülern betreute.
Walter Fornemann war ein sehr lebendiger und ungemein ehrgeiziger Mensch. Man sah ihm den Ehrgeiz sofort an, wenn man seine raschen Bewegungen, seine Direktheit und die Zielstrebigkeit mitbekam, mit der er jede Sache anpackte. Der Unterricht an Gymnasium und Musikhochschule genügte ihm nicht, nebenbei war er noch als Dirigent tätig und veröffentlichte schließlich auch noch musiktheoretische Bücher, die wohl den größten Anteil an seinem schnell wachsenden Ruhm hatten.
 
Meine Mutter hatte mit Walter Fornemann telefoniert und von ihm bereits eine beinahe definitive Absage erhalten, nein, Walter Fornemann wollte ein so junges Kind nicht unterrichten, nein, Walter Fornemann hatte für Anfängerstunden überhaupt keine Zeit. Immerhin hatte er sich aber darauf eingelassen, dass ich mich kurz vorstellen durfte, ja, nun gut, meine Mutter durfte mit mir einmal erscheinen, ich durfte ein kleines Stück spielen, und Walter Fornemann würde eine Empfehlung im Hinblick auf einen geeigneten Klavierlehrer aussprechen. Walter Fornemann hatte keine Ahnung, wozu er sich bereiterklärt hatte, denn nur wenige Minuten, nachdem er Mutter gesehen hatte, war er ihr auch schon verfallen. Sie sprach von ihrer Vorliebe zur französischen Musik, sie sprach von Berlioz, Debussy und Ravel, vor allem aber trug sie einen strengen, schwarzen und langen Mantel und dazu eine dunkle, schräg auf den schönen Kopf gesetzte Kappe.
Ihr Aussehen und ihre Worte harmonierten auf eine derart perfekte Weise, dass man ein Filmbild vor sich zu haben glaubte, Walter Fornemann konnte der Magie dieses Bildes nicht widerstehen, nach zehn Minuten sprachen die beiden miteinander auch französisch und gingen so vertraut miteinander um, als spielten sie gerade in einem Film von Jean Renoir.
 
So war unser Anliegen bereits auf dem besten Wege, als ich Platz nehmen und Klavier spielen durfte. Mutter bat mich, die erste Arabeske von Claude Debussy zu spielen, es handelte sich um ein Stück, das ich sehr mochte und wohl damals mit einem gewissen Kindercharme spielte.
Walter Fornemann stand mit dem Rücken zum Fenster und schaute mich an, als ich zu spielen begann, nach zwei, drei Minuten drehte er sich um und stand nun mit dem Rücken zu mir, und so blieb er auch die ganze Zeit regungslos bis zum Schluss des Stückes stehen.
Als ich damit fertig war, zeigte er keinerlei Reaktion, er spendete keinen Beifall, ja er lobte mich nicht einmal, obwohl ich nach meinem eigenen Eindruck gut gespielt hatte. Auch meine Mutter sagte nichts zu meinem Spiel, sondern sprach weiter über Debussy und die Eigenheiten seiner Klavierstücke, als wäre ich nur ein Demonstrationsobjekt für eine angeregte musiktheoretische Debatte zwischen Walter Fornemann und ihr.
 
Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu gehen, außerdem war ich ein wenig darüber verärgert, dass Walter Fornemann mit mir kein einziges Wort sprach und mich nicht einmal aus Höflichkeit irgendeine Kleinigkeit fragte.
Dann kam er aber doch auf mich zu und fragte, ob ich ihm noch ein zweites Stück vorspielen wolle. Als ich nickte, fragte er weiter, von welchem Komponisten ich nun etwas spielen werde. Ich schaute ihn trotzig an und antwortete: Das bestimmt Herr Fornemann.
Das bestimme ich?, lachte er, und ich spürte in diesem Lachen einen leichten Hohn, als glaubte er nicht, dass ich bereits ein kleines Repertoire mit Stücken vieler bekannter Komponisten beherrschte. Nun gut, sagte er, dann spiel uns doch eine Komposition von Frédéric Chopin!
 
Walter Fornemann konnte nicht ahnen, was er von mir verlangte. Ich sollte Chopin spielen, ausgerechnet Chopin! Ich überlegte mir keine Ausrede, sondern sagte ihm, dass mir die Stücke von Frédéric Chopin nicht gefielen, und als Walter Fornemann nachfragte, warum diese Stücke mir um Himmels willen denn nicht gefielen, antwortete ich, dass diese Stücke keinen Boden hätten. Keinen Boden?!, fragte Walter Fornemann beinahe entsetzt, keinen Boden?!
 
Heute vermute ich, dass mir vor allem die skurrile Aussage, Chopins Klavierkompositionen besäßen keinen Boden, damals dazu verholfen hat, ein Schüler Walter Fornemanns zu werden. Später einmal hat Fornemann meiner Mutter gegenüber behauptet, er habe in mir ein junges Klaviergenie gewittert, eine Hochbegabung, ein rares Talent!
Ich jedoch kann mir einfach nicht vorstellen, dass mir das Vorspielen der schlichten Arabeske von Debussy diese günstige Prognose eingebracht hatte. Fornemann hatte weniger auf mein Spiel als auf meine gereizte Bemerkung über Chopin reagiert – das hatte ich doch genau bemerkt! Also hatte er in mir nicht einen jungen Virtuosen gesehen, sondern einen seltsamen, undurchschaubaren Typen mit gewissen originellen Spleens und Ideen, der ihm vielleicht einmal für seine musiktheoretischen Bücher nützlich sein konnte.
 
Wir haben es damals bei dem Vorspiel eines Debussy-Stücks bewenden lassen, Fornemann erklärte, dass er eine Ausnahme machen und mich ab sofort jede Woche eine Stunde privat und bei sich zu Hause unterrichten werde. Der Unterricht fand dann auch jeden Donnerstagnachmittag statt, Mutter kam von ihrer Arbeit zunächst in unsere Wohnung und brachte mich hin. Wenn ich bei Fornemann geklingelt hatte, erschien eine Haushälterin, führte mich in den Wintergarten, wo der Flügel stand, und brachte mir Tee und etwas Gebäck. Jede Unterrichtsstunde begann auf genau diese Weise, ich wartete ein paar Minuten allein und nippte am Tee, dann erst erschien Fornemann und begann mit seinem Programm.
Dieses Programm aber war darauf angelegt, die jeweiligen Stücke zunächst nicht zu spielen, sondern sie erst einmal zu verstehen. Um sie zu verstehen, zerlegte man sie in kleine Sinneinheiten und Phrasen und schaute sich an, wie diese Einheiten miteinander verbunden waren. Man übt eine Komposition niemals von vorne nach hinten!, sagte Fornemann und ließ mich die Phrasen einzeln und in völlig unterschiedlicher Reihenfolge üben.
Eine Komposition wurde so zu einem Mosaik, dessen Bausteine man aus dem Gesamtgefüge herauslöste, um sie dann wie Spielmaterial zu behandeln. Schauen wir uns diese Drei-Takte-Idee einmal genauer an!, schlug Fornemann vor und bat mich, eine bestimmte musikalische Idee in einer anderen Tonart zu spielen, sie auf zwei Takte zu verkürzen oder mit ihr zu improvisieren.
 
Damit solche Übungen nicht zu naiven Spielereien führten, musste ich möglichst rasch die Grundlagen von Harmonielehre und Kontrapunkt beherrschen. Diese Sache hier geht über G erwartungsgemäß nach D und kehrt dummerweise nach C zurück, zeigte er mir, um mich dann aufzufordern, es ein wenig besser als Mozart in dieser Sonate zu machen und nicht nach C, sondern nach einem verblüffenderen Ton zurückzukehren.
Was die Klaviersonaten der Klassik betraf, so war Joseph Haydn in Fornemanns Augen der uneinholbare Meister solcher Verblüffungen. Und warum war Haydn das? Weil er ein Meister des kleinteiligen, ironischen, eine Komposition in jedem Moment neu strukturierenden Denkens war! Haydn überrascht den Zuhörer ununterbrochen, sagte Fornemann, Haydns Sonaten sind raffiniert, Mozarts Klaviersonaten sind dagegen Fingerübungen für Mannheimer Wirtshaustöchter, und genau das hört man ihnen auch an!
 
Zu Beginn meines Unterrichts verstand ich einen Großteil dessen, was er sagte, nicht. Warum Haydn besonders raffiniert, Mozart hier und da breitflächig oder Beethoven manchmal geradezu einfältig komponierte – das konnte ich wegen meines Alters auch noch nicht verstehen. Das Besondere an Fornemanns Unterricht aber war, dass er darauf keine Rücksicht nahm, sondern mich wie einen Erwachsenen behandelte. Diesem Erwachsenen erklärte er in allen Nuancen und Feinheiten, dass eine Komposition nichts Fertiges und Geschlossenes war, das man stumm bewunderte, übte und dann irgendwann vortrug, sondern etwas, mit dem man beinahe unbegrenzt spielen konnte. Eine Haydn-Sonate wurde so zu einer Erzählung, die man sich in Bruchstücken immer wieder anders erzählte, mit Bruchstücken anderer Erzählungen verknüpfte und dann mit der Zeit, ohne dass man einen besonderen technischen Aufwand betrieben hätte, beherrschte.
 
Ein solcher Unterricht war für mein damaliges Können geradezu ideal, ja er war sogar derart auf die besonderen Ticks meines Gehirns abgestimmt, dass sich die ersten Erfolge bereits nach wenigen Wochen einstellten. Bestimmte musikalische Phrasen rückwärts zu spielen, sie in eine andere Tonart zu verwandeln, sie über mehrere weitere Tonarten wieder zur Ausgangstonart zurückzuführen – das waren Nummern, die mein Kopf in Windeseile durchspielte und an denen meine Finger eine größere Freude hatten als an den eher mechanischen Übungen, die meine Mutter mir aufgegeben hatte.
Dass das Klavierspiel vor allem eine Sache des Kopfes und der Fähigkeit, sich die Noten vorzustellen, einzuprägen und sie nach Belieben neu zusammenzusetzen, war, hatte ich immer geahnt, ich hatte nur nicht über die richtigen Grundlagen verfügt, mit dieser Fähigkeit umzugehen. Das aber änderte sich durch Fornemanns Unterricht, den ich jedes Mal wie im Taumel und daher eher wie eine Zirkusdarbietung als einen typischen Klavierunterricht erlebte.
 
Fornemann aber wiederum hatte schnell bemerkt, an was für einen Schüler er da geraten war, es war in der Tat ein seltsamer Kopf mit verqueren Eigenheiten und kaum durchschaubaren Operationen. Jetzt spielen wir dieses D-Dur-Präludium von Bach einmal in a-Moll, sagte er und lachte, wenn ich eine solche Aufgabe fehlerfrei und ohne Nachdenken bewältigt hatte. Jetzt machen wir aus dieser kleinen Aria einmal eine kleine Gavotte, erhöhte er den Schwierigkeitsgrad und entfernte sich von seinem Platz neben dem Flügel, um meine Improvisation aus der Ferne zu verfolgen …
 
Meine Mutter hat mir später einmal erzählt, wie Fornemann damals von mir geschwärmt habe. Ein solches Talent hatte er noch nie gesehen, ein solches Talent musste überall vorgeführt und genauer untersucht werden!
Deshalb wurde der Einzelunterricht zunächst auf zwei und später sogar auf drei Stunden ausgedehnt, und deshalb begann Fornemann, sich während des Unterrichts Notizen zu machen. Er wollte dahinterkommen, wie mein Hirn arbeitete, ja er wollte darüber sogar einmal etwas Längeres schreiben!
 
Daneben aber machte er sich rasch zunutze, dass ich keine Scheu vor öffentlichen Auftritten hatte und vor solchen Auftritten nicht aufgeregt war. Wenn er den Mund halten darf und nichts sagen muss, ist er keine Spur aufgeregt, erklärte er einmal einer Jury, der ich im Rahmen eines Wettbewerbs vorgespielt hatte. Er tat, als wäre ich seine Schöpfung und als wüsste er alles über mich, und er beeindruckte all die vielen Juroren, vor denen ich damals antrat, mit seinen Kommentaren wahrscheinlich noch mehr als ich sie mit meinem Spiel.
 
Die Folge dieser rauschhaften Zusammenarbeit waren die ersten Preise und Ehrungen, kleine, glänzende Pokale, die in einem Glasschrank untergebracht und regelmäßig abgestaubt und geputzt wurden. Ich machte mir nicht viel aus all diesen Preisen, nein, sie bedeuteten mir wirklich nicht viel, denn ich hatte nach meinem Empfinden bei solchen Wettbewerben keine richtige Konkurrenz. Natürlich gab es immer wieder Konkurrenten, die technisch ebenso gut oder sogar besser waren als ich, sie spielten aber meist unglaublich nervös, verhedderten sich hier und da und machten, wenn sie zum Beispiel mit einer Beethoven-Sonate kämpften, einen unangenehm überforderten Eindruck.
Passabel gespielt, aber nichts kapiert, nannte Fornemann ein solches Spiel, um kurz danach vor den Juroren damit anzugeben, wie sehr zum Beispiel gerade meinem Spiel doch Haydns Kompositionen lägen. Ich wette, er spielt Haydns Sonaten besser als Haydn sie selbst gespielt hat, behauptete Fornemann, und die Juroren, die so etwas bereits für eine brillante Bemerkung oder auch einen guten Witz hielten, lachten, ohne zu ahnen, dass Fornemann so einen Satz ernst meinte.
 
So traten wir beide als eine Art Duo auf, Fornemann kommentierte und brillierte mit seinen von allen als geistreich bezeichneten Einfällen, ich aber blieb stumm, setzte mich ungerührt an jeden Flügel, spielte fehlerfrei und improvisierte, auf ausdrückliches Bitten der Jury, zum Abschluss meines Auftritts außerhalb des Wettbewerbs. Dass solche Arrangements außerhalb des Wettbewerbs sehr dazu beitrugen, den Wettbewerb zu gewinnen, war Fornemann und mir natürlich bewusst, ich wunderte mich nur darüber, wie leicht die Juroren es Fornemann machten, sich mit seinen Zusatz-Wünschen und dem Zirkusdirektoren-Talent, das er in großem Maße besaß, durchzusetzen.
 
In meiner Familie brachte mir das alles nicht nur Anerkennung und Bestätigung ein, meine Mutter und mein Vater waren vielmehr nun überzeugt, dass meine ganze Zukunft im Klavierspiel liege. Johannes wird einmal ein Stern am Pianistenhimmel, hatte Fornemann meiner Mutter gesagt, wohingegen er mir kein einziges lobendes Wort sagte, sondern meist nur bestätigend, und als habe er nichts anderes erwartet, nickte, wenn das Publikum nach einem meiner Auftritte begeistert klatschte.
Und ich?! Genoss ich das alles nicht auch? Machte es mir nicht Freude, derart anerkannt zu werden? Ja, schon, es machte mir Freude, aber ich war noch nicht sicher, ob ich auch wirklich für den Beruf des Pianisten geeignet war und es am Ende tatsächlich zu etwas Großem bringen würde.
In meinem Innern nagte nämlich eine gewisse Skepsis, und diese Skepsis hatte damit zu tun, dass ich mich eher als Mitglied eines Zauberer-Duos denn als eigenständige Erscheinung am Flügel wahrnahm. Walter Fornemann zauberte mit mir, und er wusste mit mir auch wahrhaftig zu blenden. Ich aber fragte mich, ob dem Publikum mein Spiel auch gefallen würde, wenn es hinterher nicht zu hören bekam, dass diesem Kind dort vor Ihnen, meine Damen und Herren, ein neuer Schluss der zweiten Fuge des ›Wohltemperierten Klaviers‹ eingefallen ist, die unseren Großmeister Johann Sebastian Bach sehr verblüfft hätte. Und warum hätte sie ihn verblüfft?! Weil sie besser ist als seine eigene! …
 
Von solchen Zirkus-Nummern waren die Auftritte der großen Pianisten, die ich zusammen mit meinem Vater etwa in Salzburg oder Wien erlebte, weit entfernt. Ich liebte diese Auftritte auf großer Bühne sehr, meist stand in ihrer Mitte nichts anderes als der schwarze, glänzende Flügel, die Rückenpartie weit geöffnet, als gäbe er sich vollkommen preis.
Minuten vor dem Beginn eines Konzerts gab es in den großen Konzertsälen noch ein aufgeregtes Hin-und-HerLaufen, Begrüßungen wurden ausgetauscht, Programme herumgereicht, dann aber setzte endlich eine gewisse Ermattung ein, als wäre das gesamte Publikum auf einen Schlag erschöpft. Man setzte sich, man fuhr sich noch einmal durchs Haar, man räusperte sich – und die Mienen erstarrten, als legte sich die allmählich einziehende, schwere Stille auf sie.
 
Am schönsten war aber dann der Moment, in dem der Pianist auf der Bühne erschien! Alle Blicke hefteten sich an seine Gestalt und begleiteten sie bis zum Flügel. Dort fand die erste, flüchtige Berührung statt, eine Kontaktaufnahme, ein erstes Streicheln, ein Touchieren des Holzkörpers! Dann das Platznehmen auf dem Klavierhocker und das Justieren seiner Höhe! Und schließlich der kurze, unmerkliche Ruck der Überwindung, heraus aus der körperlichen Zurückhaltung und Erstarrung!
 
Von so feierlichen und ernsten Auftritten war ich noch weit entfernt, und ich zweifelte, ob ich es jemals so weit bringen würde. Dennoch mochte ich den Unterricht Walter Fornemanns sehr, es war ein Unterricht, den ich immer als sehr lebendig, ja geradezu erregend empfand. Mit der Zeit lernten wir, einander blind zu verstehen, und mit der Zeit begriff ich auch, was er mit seinen seltsam pointierten Wendungen und Sätzen meinte. Wie üblich notierte ich auch sie in meinen Schreibbüchern: Das C-Dur-Präludium des ›Wohltemperierten Klaviers‹ ist ein reines Rhythmus-Stück und daher etwas für Maurer und Dachdecker … Schumanns ›Von fremden Ländern und Menschen‹ hört sich an, als schilderte eine ältere Frau ihren Enkeln Länder, in denen sie selbst niemals war … Beethoven hatte nur selten musikalische Einfälle, er begnügte sich damit, mehrmals auf dieselbe Taste zu schlagen …
Das alles ging mir durch den Kopf, während ich Marietta zuhörte, die sich am ersten Satz von Bachs Italienischem Konzert zu schaffen machte. Irgendwer hatte ihr gesagt, dass dies eine bedeutende Komposition sei, doch niemand hatte ihr erklärt, warum das so war. Was von einem solchen Missverhältnis übrig blieb, war ein im Leeren rotierender Fleiß und eine Hartnäckigkeit, die in keinem Verhältnis zu der sich entziehenden, verborgenen Schönheit des Stücks stand. Diese Schönheit konnte Marietta in ihrem jetzigen Alter noch nicht begreifen, nein, sie hatte einfach noch nicht die richtige Aufnahmefähigkeit für so eine Komposition! Warum aber drängte man sie dann, sie zu spielen? Warum, um Himmels willen?!
 
 
Ich bat sie, mit dem Üben aufzuhören, und fragte, wie lange sie sich bereits mit dieser Komposition beschäftigte. Fast ein halbes Jahr! Fast ein halbes Jahr übte Marietta jetzt also ein Stück, das sie keineswegs gerne spielte! Ich machte weiter und fragte sie, ob ihr bestimmte Passagen dieses Stück besonders gefielen, ob es also nach ihrer Meinung besonders schöne Stellen in diesem Stück gebe.
Marietta schaute mich an und schüttelte den Kopf, nein, diese schönen Stellen gebe es nicht, das Stück sei schön, nicht aber bestimmte Stellen! Vielleicht habe sie aber doch eine Lieblingsstelle, eine Stelle vielleicht, die sie besonders gern spiele? Nein, die habe sie nicht, ihr gefalle eben das ganze Stück, eine Lieblingsstelle gebe es nicht.
Soll ich Dir meine eigene Lieblingsstelle vorspielen?, fragte ich, doch Marietta schaute mich an, als redete ich in einer fremden, unverständlichen Sprache. Ich spiele Dir eine meiner Lieblingsstellen vor, sagte ich weiter und setzte mich an den Flügel. Hör bitte genau zu!
 
Manchmal hatte auch Walter Fornemann mich von meinem Übungsplatz an seinem Flügel verdrängt. Er hatte selbst Platz genommen und eine bestimmte Passage eines Stückes gespielt, doch dabei war es meist nicht geblieben. Gute Pianisten erkennt man daran, dass sie einen Flügel von Weitem wittern und sofort bemerken, wo er sich im jeweiligen Raum befindet … Gute Pianisten erkennt man daran, dass sie die Anziehungskraft des Instruments wie einen Magneten spüren … Gute Pianisten erkennt man daran, dass sie sich nicht leicht von einem Flügel lösen … Gute Pianisten erkennt man an ihrer zeitlich grenzenlosen Hingabe an das Instrument …
 
Der Tee, das Gebäck, ein paar leise, murmelnde Stimmen im Hintergrund. Johannes, hör genau zu!
 
Walter Fornemann hatte schließlich einen Plan entwickelt, wie er sich meine künftige Entwicklung vorstellte. Nach der Volksschule sollte ich ein Musik-Internat im Süden Deutschlands besuchen. Dieses Internat wurde von Zisterzienser-Mönchen geleitet, die angeblich in solchen Dingen die besten und unbestechlichsten Lehrer waren. In so einer Anstalt wird der Junge nicht eitel!
Einmal im Monat sollte ich nach Köln kommen, wo ich von Walter Fornemann einen Nachmittag lang weiter unterrichtet wurde. Wenn ich etwa vierzehn Jahre alt war, konnte festgestellt und exakt vorausgesagt werden, ob mein Talent, mein Fleiß und meine technischen Fertigkeiten ausreichten, um eine pianistische Laufbahn einzuschlagen.
War dies nicht der Fall, würde ich statt des Internats sofort wieder ein normales Kölner Gymnasium besuchen. Flüssig und korrekt sprechen wird Johannes vielleicht nie, aber das macht nichts, alle guten Pianisten sind leicht behindert. Wenn er wirklich ein guter Pianist wird, braucht er den Mund sowieso nicht aufzumachen. Auf die Bühne, eine Verbeugung, brillantes Spiel, und wieder eine Verbeugung! Im Grunde ist das Klavierspiel für einen wie Johannes doch geradezu ideal …
 
Nein, Marietta verstand nicht, warum die Stelle, die ich gerade vorgespielt hatte, meine Lieblingsstelle war. Auf meine Nachfrage hin erklärte sie, dass diese Stelle doch gar nichts Besonderes sei, sondern einfach eine Stelle wie viele andere auch. Ich fragte sie, ob sie vielleicht einen Lieblingskomponisten habe. Nein, den hatte sie auch nicht.
Ich wollte nicht sofort wieder aufstehen, ich wollte mich nicht von Mariettas Flügel lösen. Soll ich Dir etwas anderes vorspielen?, fragte ich, etwas, das mir besonders gut gefällt? Marietta schaute mich wieder sehr ernst an, als fiele ihr einfach keine Antwort ein. Dann aber sagte sie: Spielen Sie doch einmal ein Stück, das gar keinen Komponisten hat! Ich zögerte. Ein Stück, das gar keinen Komponisten hatte? Was meinte sie denn? Vielleicht meinte sie, dass ich keine klassische Musik spielen sollte, sondern einfach ein Stück, wie man es auf den Straßen und Plätzen zu hören bekam. Ein anonymes Stück, ein Stück purer Musik, ohne Bühne, ohne Glanzlichter.
 
Das ist ein guter Vorschlag, Marietta, sagte ich, das ist ein sehr guter Vorschlag. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich einen Moment. Dann aber waren die Noten da und das leise Summen und eine heimlich in einem See badende Frau und das Sonnenlicht eines Abends auf dem Land …, und während ich spielte, verschwanden diese schönen Bilder allmählich, und ich befand mich in jenem lang gestreckten, dunklen Flur einer Kölner Mietwohnung, in der ich dieses Chanson zum ersten Mal und dann immer wieder gehört hatte. Meine Mutter war in der Küche und ging dort auf und ab, meine Mutter hörte ihr Lieblingschanson und kochte.