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NACH EINIGEN Wochen
Schule saß ich noch immer in der letzten Reihe des Klassenzimmers
in der Gemeinschaft von Freunden, von denen meine Mitschüler nichts
ahnten. Den alten Anorak zog ich nun aus und bemühte mich, dem
Unterricht weiter zu folgen, ohne ganz verbergen zu können, dass er
mir keinen Spaß machte. Das blöde Gitter-A, das dämliche Brezel-B und das magere C mit
dem offenen Maul! Am liebsten hätte ich mich aus dem Staub
gemacht und die anderen Schüler ihrem Eifer überlassen, schließlich
hatte ich doch jetzt etwas zu tun und zwar etwas, für das ich gut
und gern den ganzen Tag gebraucht hätte. Das Klavierspiel nahm an
jedem Tag mehrere Stunden in Anspruch, und für die Begegnungen mit
all meinen Freunden benötigte ich auch einige Zeit.
Hinzu aber kam noch,
dass die anderen Schüler mich nicht mehr in Ruhe ließen, sondern
immer mehr dazu übergingen, mich mit kleinen, gezielten Aktionen zu
quälen. Irgendeiner schnitt mir heimlich die Kapuze des Anoraks ab,
ein anderer stieß mir beim Verlassen des Klassenzimmers immer
wieder fest in den Rücken, und kleinere Gruppen schossen in den
Pausen mit Bällen auf mich oder rempelten mich während ihrer
Nachlaufspiele so fest an, dass ich oft stürzte.
Zu diesen Attacken
kam es auch deshalb, weil der junge Lehrer mich nicht mehr in
Schutz nahm und zunehmend schroffer und boshafter wurde.
Nur weil Du stumm bist, können wir Dir nicht
alles durchgehen lassen! war noch die harmloseste
Vorhaltung, die ich zu hören bekam, wenn er mein Dasitzen einfach
leid war. Auf die Mitschüler färbten diese Angriffe ab, sie ließen
bald ihre Hemmungen fallen. Ich war nicht mehr nur blöd, sondern eine blöde
Sau, ja ich war ein kompletter Idiot,
der in die Klapsmühle gehörte. Die Version des Lehrers hörte
sich nicht viel anders an: Du bist ein Fall
für die Sonderschule! rief er manchmal, und dasselbe
wiederholten die Mitschüler in gesteigerter Form in der Pause:
Vollidiot! Sonderschüler! Hau endlich
ab!
Schließlich begann
jeder Schultag am frühen Morgen damit, dass ich auf dem Schulhof
getreten, herumgestoßen und laut verhöhnt wurde, ohne dass ein
einziger Mensch etwas dagegen unternommen hätte. Die Schule wurde
für mich immer mehr zu einer Anstalt, in der ich dafür bestraft
wurde, dass ich stumm war und ein anderes Leben als die anderen
Schüler führte, obwohl sie nicht einmal ahnten, dass ich Klavier
spielen, auf Pferden galoppieren und mit der schönen Maria und vier
Brüdern im Himmel sprechen konnte.
Nach etwa zwei
Monaten gab ich mitten in einer Schulstunde auf. Der Junglehrer
hatte sich wieder einmal über mich lustig gemacht, daraufhin raffte
ich den ganzen Krimskrams, der vor mir auf dem Tisch lag, zusammen
und warf ihn wie lästiges Geröll in meinen Ranzen. Dann schloss ich
ihn zu, zog mir den Anorak über und setzte mich wieder, als warte
ich nur noch das Ende der Stunde ab, um endlich zu verschwinden.
Für den Junglehrer war das alles zu viel, er schickte die
Mitschüler nach draußen, baute sich vor mir auf und verkündete,
dass dieser Schultag wahrscheinlich mein letzter sein werde. Ich
saß regungslos da, während er meinem Vater einen kurzen Brief
schrieb und ihn in die Schule bestellte. Dann drückte er mir den
Brief in die Hand und schrie Geh, hau ab, geh
sofort!, wobei er mir zur Verstärkung noch die Faust
zeigte.
Und so machte ich
mich mitten in einer dritten Stunde bereits auf den Heimweg. Ich
hatte etwas Zeit, daher ging ich langsamer als sonst und machte
einige kleine Umwege, an dem kleinen Kino neben der Kirche vorbei,
und weiter, über den Markt, wo an drei Tagen in der Woche einige
Stände mit frischem Gemüse und Obst vom nahen Land aufgebaut waren.
Auf dem Wochenmarkt schenkte mir ein Verkäufer einen Apfel, ich
steckte ihn in eine Hosentasche und ging dann in die kleine Kirche,
um der schönen Maria und meinen vier Brüdern von dem grausamen
Schulmorgen zu erzählen.
Ich wusste nicht,
wie es mit mir weitergehen sollte, vielleicht würde man mich ja
wahrhaftig in eine Sonderschule stecken, allerdings konnte ich mir
nicht vorstellen, dass Vater einem solchen Vorhaben zustimmen
würde. Alles, aber auch alles kam nun auf Vater an, ich vertraute
ihm, Vater hatte mich noch nie enttäuscht, und Vater würde mir auch
nicht böse sein, sondern sich darum bemühen, irgendeine Lösung zu
finden.
Am einfachsten wäre
es gewesen, wenn ich eine Schule hätte besuchen dürfen, in der die
Schüler nur Musik gemacht und Klavier gespielt hätten. In einer
solchen Schule hätte ich nicht zu reden brauchen, und in ihr wäre
ich bestimmt ein glänzender Schüler geworden. Buchstaben schreiben,
zeichnen und malen konnte mit gutem Willen ein jeder, Klavier
spielen dagegen, das konnten nur wenige. In der Volksschule konnte
gewiss kein einziges Kind so gut Klavier spielen wie ich. All das
nutzte mir aber nichts, denn anscheinend hatte man in meiner Schule
für Musik kaum etwas übrig. Da Musik und Klavier spielen aber das
Einzige waren, was ich konnte, gab es wohl nirgends irgendeinen
Ort, wo man mich hätte unterbringen können. Und zu Hause, zu Hause
konnte ich doch wohl auch nicht bleiben. Natürlich wäre ich am
liebsten genau dort geblieben, Vater hätte mir alles Wissenswerte
beibringen können, und in der übrigen Zeit hätte ich Klavier
gespielt und Mutter wieder so wie früher bei ihren Einkäufen und
Besorgungen geholfen.
Als ich nach vielen
Umwegen endlich gegen Mittag zu Hause ankam, zeigte ich Mutter den
Brief des Junglehrers nicht, sondern ließ ihn bis zum Abend, als
Vater nach Hause kam, in meinem Ranzen. Dann erst nahm ich ihn
heraus und überreichte ihn Vater, der das Couvert sofort aufriss,
einige Sätze überflog und dann mit mir in die Küche ging. Die
ernsten und wichtigen Dinge wurden bei uns immer am Küchentisch
durchgenommen und entschieden, ich kannte das schon, am Küchentisch
setzte der Vater seine Studierbrille auf und las und las, auch das
kannte ich ja bereits, denn Vater las ernste und wichtige Sachen
langsam und mehrmals, und wenn er alles langsam und mehrmals
gelesen hatte, wusste er meist genau, was zu tun war.
Diesmal aber nahm er
nach der Lektüre das Papier in die linke Hand und drosch dann mit
der rechten immer wieder darauf ein. Unglaublich!, sagte er, unglaublich! Was untersteht sich der Kerl?! Danach
aber stand er auf und ging durch die Wohnung zur Mutter und zog die
Wohnzimmertür hinter sich zu und sprach mit ihr allein, so
aufgebracht und laut, wie ich ihn bis dahin noch nicht hatte
sprechen hören. Ich wollte ihn aber auf keinen Fall belauschen,
deshalb blieb ich in der Küche sitzen und hielt mir die Ohren zu,
doch trotz zugehaltener Ohren hörte ich den Vater toben, mit jener
Donnerstimme, die er sonst nur beim Gesang in der Kirche einsetzte.
Mit aller Macht presste ich mir mit beiden Zeigefingern auf die
Ohren, doch es half nichts, Vaters Stimme war nicht zu überhören,
denn Vater war außer sich. Erst nach einiger Zeit kam er zurück in
die Küche, schaute mich an und sagte: Für
diesen Brief wird sich Dein Lehrer bei Deiner Mutter, bei mir und
bei Dir entschuldigen! Und auch der Schuldirektor wird sich
entschuldigen! Und zwar hier, an diesem Tisch! Und zwar morgen,
sobald ich mit ihnen gesprochen habe!
Als ich das hörte,
war ich im ersten Augenblick überwältigt. Der Lehrer und der
Direktor sollten sich entschuldigen, natürlich, das war das Erste,
was als Nächstes geschehen musste, und danach würde man
weitersehen! Vater aber war von alldem derart mitgenommen, dass er
die Wohnung verließ, um, wie er sagte, etwas
Luft zu schöpfen. Ich eilte zum Fenster, um zu sehen, was er
nun draußen tun würde, als er aber auf dem ovalen Platz erschien,
schaute er kurz zu meinem Fenster hoch, und als er mich dort sitzen
sah, schüttelte er den Kopf, machte kehrt und kam die Treppen
wieder hinauf, um mich mitzunehmen und mit mir gemeinsam spazieren
zu gehen.
Ich zog rasch den
Anorak über, und dann gingen wir zusammen hinaus. Draußen
angekommen, bemerkte ich aber, dass Vater überhaupt nicht wusste,
wohin es gehen sollte, vielmehr gingen wir nur einfach drauflos und
machten dann irgendwo wieder kehrt und gingen wieder drauflos, als
wären wir vollkommen durcheinander. Da wurde mir klar, dass Vater
kein richtiges Ziel hatte und dass es vielleicht helfen würde, ihm
meine Hand hinzuhalten. Ich streckte sie ihm hin, und er nahm sie
auch wahrhaftig, und dann gingen wir Hand in Hand eine Weile, bis
wir in die Nähe der Kappes-Wirtschaft
gerieten. Kurz vor der Wirtschaft blieb ich stehen, und dann zeigte
ich auf die Wirtschaft, um Vater zu bedeuten, dass wir in die
Wirtschaft gehen sollten. Was willst Du
denn?, fragte er, der sonst doch immer sofort verstand, was
ich meinte. Ich aber machte eine kurze Geste, als trinke ich gerade
ein Kölsch-Glas leer, und da verstand er endlich, was ich gemeint
hatte.
Am nächsten Morgen
sagte er, dass er nun als Erstes in die Schule gehen werde und dass
Mutter und ich die Wohnung nicht verlassen, sondern auf seine
Rückkehr warten sollten. Kaum zwei Stunden später kam er dann
wirklich zurück, und dann gingen wir zu dritt in die Küche, und
Vater sagte, dass der Lehrer und der Direktor gegen Mittag kommen
würden, um sich, wie er es verlangt habe, bei uns zu
entschuldigen.
Im Grunde hatte ich
diesen Ausgang der Sache erwartet, niemand kam gegen Vater an, kein
Lehrer und kein Direktor, meine starke Aufregung legte sich aber
trotzdem nicht, denn ich ahnte ja nicht im Geringsten, wie es nach
den Entschuldigungen weitergehen würde. Auch Vater sagte dazu
nichts, sondern redete wie schon am Tag zuvor eine Weile auf Mutter
ein, während ich wieder allein in der Küche saß, ängstlich und
furchtsam.
So verging die Zeit
bis zum Mittag voller Unruhe, bis es endlich klingelte, und ich
genau hörte, wie zwei leise murmelnde Männerstimmen sich durch das
Treppenhaus näherten. Vater begrüßte die Männer an der Tür, und
dann führte er sie in die Küche, wo sie mir die Hand gaben. Danach
aber ging er mit ihnen ins Wohnzimmer und schloss wieder die Tür
hinter sich zu, so dass ich meine beiden Ohren wieder zustopfte,
weil ich befürchtete, dass Vater nun wieder die Donnerstimme
einsetzen und entsetzlich wüten werde.
Ich hörte aber
nichts dergleichen, vielmehr kamen die drei Männer schon bald in
die Küche zurück, und der Direktor sagte, dass er sich im Namen der
Schule bei mir und meinen Eltern entschuldige. Der Lehrer und er,
setzte er noch hinzu, hätten keine
Ahnung gehabt, wie es zu meinem Stummsein gekommen sei, es
tue ihnen leid, alles tue ihnen wirklich sehr
leid. Ich hörte genau zu, wusste aber nicht genau, wovon der
Direktor sprach. Sprach er von meinen vier Brüdern, oder hatte
Vater den beiden noch mehr von unserem geheimen Familienleben
erzählt?
Vater selbst
schienen die Worte des Direktors auch nicht sehr zu behagen,
jedenfalls machte er nur eine kurze Geste, als sei nun genug
geredet worden. Dann aber kam er zu mir und packte mich von hinten
an beiden Schultern. Wir beide, sagte
er zu mir, wir beide werden nun eine Weile
verreisen. Jetzt verstand ich auch nicht, was er meinte und
schaute mich nach ihm um. Da aber packte er mich noch fester an
beiden Schultern und sagte zum Abschluss des Gesprächs:
Wir verreisen aufs Land, da gibt es die große
Natur, und die große Natur ist die beste Schule, die es überhaupt
gibt.