36
 
JETZT, JA. Ich sehe mich jetzt, wie ich zwei Tage nach dem endlich bestandenen Abitur auf der Stazione Termini in Rom ankomme. Ich habe nichts als meinen alten Seesack mit wenigen Utensilien dabei, und als erste Anlaufstation besitze ich nichts als die Adresse einer Kirche, die der deutschen Rom-Gemeinde gehört. Die Adresse habe ich von meinem Onkel erhalten, der mit dem Pfarrbüro der Gemeinde telefoniert und mich für den Morgen des kommenden Tages angemeldet hat.
Jetzt aber ist Nacht, es ist meine erste römische Nacht, und ich werde das wenige Geld, das ich bei mir habe, nicht für eine Übernachtung ausgeben, nein, ich werde meine erste römische Nacht im Freien verbringen. Und so gebe ich meinen alten Seesack an der Gepäckaufbewahrung ab und gehe ohne jedes Gepäck und nur mit einem kleinen Geldbetrag in der Tasche einfach los.
 
Ich stehe jetzt draußen im Freien, es ist kurz nach zweiundzwanzig Uhr, vor der Stazione Termini drängen sich die Ankommenden in die Busse und verschwinden ins Zentrum. Ich atme durch, ich bleibe stehen und schaue. Dort geht es zur Piazza della Repubblica, ja genau, und dort drüben ist das Thermenmuseum. Vor dem Bahnhof ballt sich eine wohltuende Wärme, die nach der langen Zugfahrt beruhigend wirkt. Ich gehe ein paar Schritte, spüre aber, dass mich etwas davon abhält, immer weiterzugehen. Ich habe es nicht eilig, ich habe Zeit, mich hier in der Nähe des Bahnhofs auf eine Bank zu setzen und nichts anderes zu tun als zu schauen. Es sind etwa zweihundert Meter bis zur Piazza della Repubblica, einem kreisrunden Platz mit einer großen Brunnenanlage. Von dort geht der Blick einen breiten Corso hinab in die vom gelben Straßenlicht durchfluteten Häuserschluchten. Der unermüdlich fließende Verkehr. Die Kaffeearomen in der Nähe der Brunnen. Die hohen Pinien mit ihren hellbraunen, gefleckt im Neonlicht schimmernden Stämmen.
 
Ich setze mich auf eine Bank, es ist eine breite, kühle Marmorbank ohne Rückenlehne, es ist eine Bank für mindestens sechs Personen, die ringsum auf ihren Rändern sitzen könnten. Ein junges, schwarzhaariges Mädchen in einem fleckigen weißen Kleid setzt sich zu mir und bettelt um etwas Geld. Ich mache ein paar Zeichen: Ich habe kein Geld, und außerdem bin ich stumm. Ich bin eine stumme, beinahe mittellose und hungrige Person. Sie starrt mich an und schüttelt den Kopf. Ich begreife nicht, was sie von mir will, ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt. Sie legt ihre rechte Hand auf meine Schulter, als müsste sie mich beruhigen, dann verschwindet sie.
Später erscheint sie plötzlich wieder, jetzt hat sie eine kleine, armselige Tasche dabei. Sie stellt die Tasche neben mir ab, holt zwei Gläser hervor und füllt sie aus einer großen bauchigen Flasche mit Wein. Sie sagt kein Wort, sie deutet auf die beiden Gläser, ich nehme eines in die Hand, wir trinken. Sie fragt mich etwas, ich nicke, sie fragt mich weiter, ich mache eine hilflose Geste, dann trinken wir aus, und sie verschwindet blitzschnell hinter meinem Rücken ins Dunkel.
 
Ich sitze und schaue weiter, ich bin ganz ruhig, es ist seltsam, aber ich habe nicht das Gefühl, an einem fremden Ort angekommen zu sein. Woher kommt das? Warum fühle ich mich nicht fremd? Was ist mit dieser Stadt?
Ich sitze da, als könnte ich mich nicht von der Bank lösen, bevor ich diese Fragen nicht beantwortet habe. Irgendetwas ist seit meiner Ankunft geschehen, aber ich verstehe nicht, was es ist. Ich spüre nur, dass ich anders als bei meinen sonstigen Fluchten und Reisen weder eine gewisse Anspannung noch irgendeine Unruhe empfinde, im Gegenteil, ich fühle mich leicht, unbeschwert, ja kurz davor, etwas zu singen. Ich will singen? Wieso will ich singen? Was, verdammt noch mal, ist denn bloß mit mir los?
 
Endlich stehe ich auf, überquere den Platz und gerate unter die hohen Arkaden eines Cafés. Die Menschen sitzen draußen im Freien, niemand nimmt von mir Notiz, ich kann an all diesen kleinen Tischen entlanggehen, ohne beachtet zu werden. Und wie ist es drinnen? Ich gehe in das Café und setze mich an die lange Theke der Bar, ich will etwas auf mein Wohl trinken, ja, ich will diesen einzigartigen Moment feiern, meine Freude, meine Erleichterung.
Als die Bedienung kommt, mache ich eine Trinkgeste und deute an, dass ich stumm bin. Seltsamerweise lächelt der Kellner und greift nach einer Flasche, die er mir hinhält. Wasser? Nein, ich schüttle den Kopf. Wein? Ja genau, ich strecke den rechten Daumen hoch, Wein, ein Glas. Er versteht mich, füllt ein Glas und schiebt es mir hin. Er will wissen, ob ich ihn verstehen kann, er fragt mich mit einer Geste beider Hände, ob ich taub bin. Ich bleibe ernst und verneine die Frage mit einem Kopfschütteln, nein, ich bin nicht taub, ich bin stumm. Er nickt und lächelt wieder, er hat mich verstanden. Ich greife nach dem Glas und trinke, der Wein schmeckt beinahe genauso wie der, den mir das junge Mädchen angeboten hat. Es ist ein leichter, unmerklich perlender Weißwein, wie ich ihn noch nie getrunken habe. In Deutschland habe ich fast überhaupt keinen Wein getrunken, und in Deutschland wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, ein solches Café zu betreten und dort ein Glas Wein zu trinken.
Warum aber hier, in Rom? Warum bin ich gerade ohne jedes Nachdenken in dieses Café und weiter an seine Bar gegangen? Ich erkenne mich nicht mehr wieder, nein, ich handle nicht mehr so, wie ich sonst immer gehandelt habe. Irgendetwas ist passiert, aber ich komme immer noch nicht darauf, was es sein könnte. Ich sitze regungslos an der Theke, als müssten mir jetzt endlich Antworten auf meine Fragen einfallen, es ist ein beinahe zwanghaftes Sitzen, denn ich spüre, dass ich ganz nahe an einer möglichen Antwort bin.
 
Drinnen im Café ist es angenehm kühl, ich leere mein Glas und will bezahlen. Der Kellner aber winkt ab, es ist so in Ordnung, ich brauche nicht zu bezahlen, anscheinend hat der stumme Mensch, als der ich aufgetreten bin, ihn gerührt. Ich schaue auf die Preisliste hoch oben hinter der Theke und erkenne, dass ein Glas Wein nicht viel kostet. Einen so geringen Betrag kann ich bezahlen, ja, das geht. Ich hole das Geld hervor, der Kellner macht eine abwehrende Geste, aber ich bezahle, denn ich will von meiner Notlüge nicht auch noch profitieren.
 
Als ich den Caféraum verlasse und wieder draußen unter den Arkaden stehe, habe ich die Ankunft hinter mir. Wie leicht und schön es war, in Rom anzukommen! Und wie leicht mir hier alles fällt! Ich spüre mich kaum noch, ich habe fast keine Erinnerung mehr daran, wie umständlich und schwer alles einmal war! Ist das Freude? Reine Freude? Ist das, was ich gerade empfinde, nicht die reinste, unbeschwerteste Freude?
 
Als sich die Fragen und Gedanken so zuspitzen, spüre ich eine plötzliche Hitze im Kopf. Es ist wie ein glimmendes Kribbeln, wie ein sich entzündendes kleines Feuer, das Flammen nach allen Seiten sprüht. Was ist mit mir? Ich verlasse den Arkadenbereich rasch und eile zurück zu der Marmorbank, auf der ich zuvor gesessen habe. Ich zwinge mich, jetzt an nichts Schlimmes zu denken, aber es geht schon, die Hitze lässt bereits nach. Ich brauche mich nicht zu beunruhigen, nein, ich brauche es nicht. Und warum nicht? Weil ich fort bin, ja, ich bin fort, ich lebe nicht mehr in dem Land, in dem ich so viel Angst ausgestanden habe, ich bin fort.
 
Als sich diese drei Worte immer wieder in meinem Kopf wiederholen, verstehe ich plötzlich, was seit meiner Ankunft in Rom geschehen ist. Ich fühle mich frei, ja, das ist geschehen, die Ankunft in Rom ist verbunden mit dem Gefühl einer einzigen, großen Befreiung. Niemand umkreist mich, nichts rückt mir auf den Leib, man lässt mich in Ruhe, zum ersten Mal in meinem Leben lässt man mich ganz und gar in Ruhe. Ich bin fort, murmle ich und sage dann den ersten lauten Satz in der Ewigen Stadt: Johannes, Du bist jetzt fort! Und weiter: Ich bin draußen, ich habe es endlich geschafft.
Als ich höre, wie ich das alles sage, und als sich die Sätze mit dem Anblick der herrschaftlich schönen und weiten Kulisse verbinden, ist aber nun doch alles zu viel. Verdammt! Ich sitze auf einer römischen Senatorenbank, und mir kommen die Tränen. Nicht einmal ein Taschentuch habe ich dabei, nicht einmal das! Und warum hört das Weinen nicht auf, warum nicht?
 
Es gibt nichts mehr zu weinen, es gibt hier keinen Grund für viele Tränen, Weinen und Tränen haben doch mit Schmerzen zu tun, aber ich empfinde hier keinen Schmerz. Nein, verdammt, wirklich nicht! Keinen Schmerz! Ich bin schmerzfrei! Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, vollkommen schmerzfrei zu sein! Und deshalb ist jetzt auch Schluss mit den Schmerzgesten. Auch von den Schmerzgesten bin ich nämlich befreit. Kein Stummentheater mehr, überhaupt kein Theater der Hilflosigkeit! Schluss mit der Pantomime! Sag es noch einmal, sag es laut: Johannes, Du bist in Rom!
 
Ich schlucke und schlucke, während das Weinen nicht aufhören will. Es ist aber kein richtiges Weinen, sondern eine Art Strömen, ein ununterbrochenes Strömen von Tränen. Sie sickern aus meinen Augen wie ein Rinnsal, als könnte ich nichts dagegen tun. Und es stimmt, ich habe keinen Einfluss auf dieses Fließen, denn es kommt von einem mir unzugänglichen Zentrum im Kopf, in dem sich gerade einiges klärt. Bald wird das alles vorbei sein. Dann werde ich hinüber zu dem großen Brunnen gehen und mein Gesicht waschen. Und danach werde ich hinab in die Stadt gehen, und wenn ich Lust habe zu singen, werde ich, verdammt noch mal, singen! …
 
Etwas später habe ich mir das Gesicht mit dem Wasser des großen Brunnens gewaschen und gehe wirklich den breiten Corso hinab in die Stadt. Von einem der römischen Hügel gehe ich hinab in die römische Ebene. Dort sind die Kaiserforen, und dort hinten, das ist das Kolosseum. Ich gehe eine breite, nur noch wenig befahrene Straße an den Kaiserforen entlang auf das Kolosseum zu. Ich bleibe nicht vor ihm stehen, sondern umrunde es langsam. Von den sandigen Höhen, die es umgeben, weht ein weicher Kieferngeruch. Überall verstreut auf dem Boden liegen die Nadeln, braun und von der Sonne verbrannt. Der römische Teppich, der Teppich aus Pinien- und Kiefernnadeln.
 
Ich will jetzt nirgends lange verweilen, sondern eine nächtliche Spur durch die Ewige Stadt ziehen. Deshalb bewege ich mich einfach weiter und gehe die breite Straße zurück. In den dunklen, kaum angestrahlten Ruinenund Tempelzonen brennen kleine Feuer. Ich sehe Menschen hin und her huschen, aber ich kümmere mich nicht weiter darum. Mein Ziel ist der Corso, die breite Gerade, die das römische Herz der alten Wohngegenden wie ein scharfer, massiver Hieb durchschneidet. Ich gehe auf einen fernen Obelisken zu, ich habe ihn fest im Blick.
 
Ich bin jetzt sicher, dass mir das, was mir eben passiert ist, nicht noch einmal passieren wird. Eine leichte, wunderbare Leere ist in mir, sie ist ein Zeichen dafür, dass ich keine Schmerzen mehr habe. Rechts und links, in den Seitenstraßen des Corso, sitzen die Menschen an kleinen Tischen und essen. Es ist weit nach Mitternacht, aber in diesen von kleinen Öllampen erleuchteten Seitenstraßen wird noch immer gegessen. Wie gerne würde ich mich jetzt dazusetzen! Irgendwann wird das möglich sein, irgendwann werde ich etwas Geld haben, um mich mitten in einer römischen Nacht mit ein paar Freunden an einen Tisch setzen zu können. Denn, jawohl, ich werde in Rom Freunde haben, das weiß ich. Seit ich in Rom unterwegs bin und die nächtliche Stadt durchstreife, weiß ich genau, dass ich hier zum ersten Mal in meinem Leben richtige Freunde haben werde. Ich werde mit ihnen essen und unterwegs sein, ich werde ein römisches Leben führen.
 
Als ich den fernen Obelisken erreicht habe, biege ich linker Hand Richtung Tiber ab. Dort muss der Tiber sein, und dort ist wahrhaftig der Tiber. Ich habe den Plan der römischen Innenstadt genau im Kopf, ich sehe ihn vor mir, Vater wäre stolz, wie genau ich den römischen Stadtplan im Kopf habe. Und wo ist Norden? Ich weiß genau, wo Norden ist, etwas nördlich des großen Obelisken muss sich die Milvische Brücke befinden, an der Konstantin gesiegt hat. Ich werde mir irgendwann einen ganzen Tag und eine Nacht Zeit für diese Brücke nehmen. Jetzt, wo ich auf den dunklen Tiber in der Tiefe blicke, ahne ich, wie es an der Milvischen Brücke aussieht. An den tiefliegenden, breiten Ufern werden Feuer brennen, und die Bogen der alten Brücke werden im Wasser matt schimmern.
Ich gehe aber nicht nördlich, sondern mit der Strömung des Flusses. Die hoch liegenden Uferstraßen werden von mächtigen Platanen gerahmt. Allmählich lässt der Verkehr nach, ich passiere mehrere Brücken, und dann, unerwartet, nach einer kleinen, unmerklichen Krümmung des Flusses, ist es so weit: Ich sehe die Peterskirche, ich sehe sie jenseits des Flusses, ich sehe die ausatmende, mächtige, ruhende Kuppel und das schwache, letzte Licht in ihrer schmalen Laterne hoch oben. Das Bild, das ich sehe, erscheint unglaublich entrückt, denn das, was ich nun sehe, ist keine Kirche mehr, sondern wirkt wie ein unbetretbares Jenseits. Wer hat das gebaut? Hat das überhaupt jemand gebaut? All das, was ich sehe, wirkt so makellos schön und so stimmig, als handelte es sich um eine Verkörperung der Schönheit selbst, um eine Verkörperung ihrer Idee, wie das Maß aller Dinge. Ich kann diesen Bau nicht in seinen Einzelheiten betrachten, sondern sehe ununterbrochen das Ganze, und dieses Ganze erscheint wie ein Modell.
 
Ich gehe über die Engelsbrücke hinüber zur Engelsburg, passiere sie aber, ohne sie weiter zu beachten. Dann biege ich auf die menschenleere Straße ein, die direkt auf die Peterskirche zuführt. Ich schaue auf die Uhr, es ist kurz nach zwei, mitten in der Nacht. Gleich werde ich den Petersplatz erreichen. Das große Oval liegt im Dunkel, nur die beiden Brunnen rauschen noch leise. Ich gehe auf den Obelisken zu und setze mich auf die Stufen, die zu seiner Basis führen. Ich habe die Peterskirche jetzt im Blick, das Hauptportal, die Loggia, die beiden Uhren, die Apostel Petrus und Paulus zu beiden Seiten und die ausschwingenden Kolonnaden. Hier werde ich eine Weile sitzen, hier werde ich das erste Licht abwarten.
 
Seltsam, dass ich nicht müde bin. Ich habe eine lange Zugfahrt hinter mir, komme mir aber vor, als wäre ich vollkommen frisch und bereits seit vielen Tagen hier. Lange habe ich nichts gegessen, aber das macht nichts. Ich habe zwei Gläser Wein und hier und da Wasser aus einem Brunnen oder einem der Wasserspender an den Straßen getrunken. Ich habe das starke Summen der Stadt noch in den Ohren, jetzt aber verebbt es langsam. Das vereinzelte Quietschen von Busbremsen. Der Windhauch, der lange auf dem Platz kreist und dann durch die Kolonnaden abzieht. Die klar leuchtenden Sterne, hinter die Kuppel gespannt, wie Leuchtsignale auf schwarzem Tuch. Ich lehne mich zurück gegen die Basis des Obelisken, ich strecke die Beine aus, was höre ich denn, ah, das ist es also, was ich höre, ich höre den alten Gesang: Deus, in adjutorium meum intende/ Domine, ad adjuvandum me festina … – zwei-, dreimal höre ich dieses Summen, wie einen Refrain meines ersten römischen Spaziergangs. Herr, ich danke Dir, dass Du mich hierher geführt hast, Herr, ich danke Dir! Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, auf grünen Auen lässt er mich lagern; an Wasser mit Ruheplätzen führt er mich …
 
Ich sitze wahrhaftig bis zum Morgengrauen. Da kenne ich die breite Fassade der Peterskirche bis ins letzte Detail. Ich habe gesehen, wie sie weich wurde von der Wärme der Nacht, wie sie nachgiebig schwankte und in der morgendlichen Frühe wieder zu erstarren begann. Ich stehe auf und laufe auf dem weiten Platz ein paar Runden, sehr langsam, immer an den Kolonnaden entlang. Dann setze ich mich ab und folge weiter dem Fluss. Zu meiner Rechten führt eine Straße steil in die Höhe, das ist gut, ja, es könnte schön und genau das Richtige sein, jetzt diesen Hügel hinaufzugehen, um von dort oben auf die morgendliche Stadt zu schauen. Eine Kirche, eine Pinienallee, zwei Hunde, die mir voranlaufen.
 
Oben, auf der Höhe des Hügels, liegt mir die Stadt im dünnen Morgenlicht zu Füßen. Die Häuser und Bauten wie geduckt, und darüber die Kuppeln der vielen Kirchen. Die Kirchen werden mir ein gutes Zuhause sein, ja, das ahne ich schon. Immer, wenn ich für einen Augenblick ein gutes Zuhause brauche, werde ich in eine der vielen Kirchen gehen. Sitzen, warten, ein Gebet sprechen, vielleicht aber auch schauen, ob es eine Orgel gibt, auf der ich spielen kann.
Wie leicht wird es sein, in dieser Stadt zu leben, ganz leicht. Eine Kirche, ein Café, eine Unterhaltung, noch eine Unterhaltung, diese Stadt ist wie für mich geschaffen, einerseits lässt sie mich vollständig in Ruhe, und andererseits bietet sie mir alles, was ich brauche. Das, was ich brauche, ist einfach vorhanden, an jeder Ecke, es steht da zur freien Verfügung.
So müssten alle Städte gebaut sein, nicht zu hoch, mit ihren Häusern in eine Flusskrümmung geschmiegt, alles dicht, sehr dicht beieinander, viele kleinere Plätze, Pinienalleen, ein Kranz von Hügeln und überall unerwartete Orte der Stille. Und viele Kirchen, an jedem Platz eine Kirche. Im Grunde ist das Zentrum Roms leicht zu überblicken, es ist nicht allzu groß, es ist eine weite, verstreute Sonnenlandschaft mit einigen Thronsitzen und Aussichtsterrassen.
 
Ich setze mich auf eine Balustrade und lasse die Beine baumeln. Ich versuche, einige der vielen Bauten zu erkennen. Kurz schließe ich die Augen und lasse den römischen Stadtplan vor meinem inneren Auge entstehen, um in Gedanken ein Stück durch Rom zu wandern. Hier unterhalb, das muss das Viertel Trastevere sein, und dort oben, zur Rechten, das ist der Aventin mit seinen Klöstern. Was die Patres wohl sagen würden, wenn sie mich hier sähen! Einer von ihnen hat einmal vermutet, dass aus mir noch ein Priester oder sogar ein Mönch werden könnte. Jetzt kann aus mir aber kein Priester mehr werden, diese Versuchung habe ich hinter mir.
 
Als wenige Meter von mir entfernt eine kleine Bar geöffnet wird, gehe ich sofort hin. Der Mann hinter der silbernen, gerade sauber gewischten Theke begrüßt mich leise, und ich murmle die Klanglinie nach, die ich gerade gehört habe, ohne ein Wort zu verstehen. Er fragt mich etwas, wahrscheinlich nennt er den Namen eines Getränks, ich wiederhole, was er gesagt hat, und sofort beginnt er, sich um mein Getränk zu kümmern. Es kommt wenig später in einer großen weißen Tasse und duftet nach einem starken Kaffee. Seine Oberfläche aber ist mit dichtem Milchschaum bedeckt. Etwas Kakao? Ja, das habe ich jetzt sogar verstanden, etwas Kakao!
Es ist ganz einfach, mit diesem Mann zu sprechen, er baut sich nicht vor mir auf und macht aus mir keinen sprachlosen, fremdsprachigen Clown, nein, er bietet mir laufend Bruchstücke seiner eigenen Sprache an. Ich muss nur genau hinhören und sie aufschnappen und sie dann wieder zurückgeben.
 
Ich habe verstanden, ich habe bereits ein wenig verstanden, wie das Italienische geht. Das Italienische geht vollkommen anders als das Deutsche. Es ist ein Geben und Anbieten von Sätzen, die der Gegenüber dann wieder zurückgibt. Was der eine sagt, greift der andere auf, dreht es um eine Nuance und sagt dann den Satz leicht verändert noch einmal. Und so geht es weiter und weiter, ohne Pause. Es ist mit einem guten Duett zu vergleichen, mit Gesang und Gegengesang. Das Deutsche aber ist anders. Im Deutschen sagt einer einen Satz, um den Satz irgendwo in die Landschaft zu stellen und dort stehen zu lassen. Danach ist es still. Derjenige, der antwortet, sagt einen anderen Satz und stellt ihn in etwas größerer Entfernung ebenfalls in die Landschaft. So ist zwischen den Sätzen viel Raum und viel Schweigen.
 
Ich tauche die Lippen in den weichen, porösen Milchschaum und nippe an dem Getränk. Durch die dichte Milchdecke sauge ich an einem sehr starken Kaffee, dessen Wirkungen ich sofort spüre. Nach dem zweiten Schluck ist jede Müdigkeit verflogen, und ein wohltuendes Leben durchströmt den ganzen Körper. Acqua?, fragt der Mann hinter der Theke, und ich sage: Acqua! Latein ist die höflichste Sprache überhaupt, Latein ist uneitel, sanft, geduldig und hilfreich, so wie jetzt, wo ich es einfach verwenden kann, um zu sagen, dass ich Durst habe.
Ich trinke die Tasse Kaffee leer und anschließend noch das Glas Wasser, ich zahle, der Kellner schaut nicht lange auf und verabschiedet mich wieder mit einem Gruß. Wir sprechen so leise miteinander, als befänden wir uns in einer Kirche oder als dürften wir niemanden stören oder als wären wir alte Freunde. Im leisen, vorsichtigen Sprechen des Kellners ist von alldem etwas, und darüber bin ich denn doch so erstaunt und verwundert, dass ich beim Abgang hinab in die Ebene vor mich hin summe. Nein, ein Sänger werde ich gewiss nicht mehr werden, aber ich werde in dieser Stadt ein guter Pianist werden, ja, auch das weiß ich jetzt bereits genau. Und wieso weiß ich das? Und was soll das heißen, dass ich in dieser Stadt ein guter Pianist werde?
 
Ich bin gerade unten in der Ebene auf einem Platz angekommen, wo viele Marktstände aufgebaut sind und längst Gemüse und Obst, Käse, Wurst und Brot verkauft werden. Moment, einen Moment! Was habe ich gerade gedacht? Ich werde in dieser Stadt ein guter Pianist werden! Ja und? Und was heißt das? Das heißt, mein Gott, das heißt, dass ich nicht für zwei Wochen in die Ewige Stadt gereist bin, nein, auch nicht für drei. Ich bin hierher gereist, um ein guter Pianist zu werden, deshalb bin ich hierher gereist. Das hier ist also keine Ferienreise, sondern eine Reise dorthin, wo aus mir ein guter Pianist werden wird.
 
Ich werde also hier in Rom mein Studium beginnen, natürlich, das ist jetzt bereits klar. Ich werde diese Stadt nicht wieder verlassen, nein, ich werde sie auf keinen Fall wieder verlassen, sondern mich hier um einen Studienplatz bewerben. Dass ich diese Idee nicht längst hatte! Aber ich konnte diese Idee ja noch gar nicht haben, weil ich diese Stadt ja noch nicht so kannte, wie ich sie jetzt bereits kennengelernt habe. Nach meiner ersten römischen Nacht ist jedoch alles anders. Ich gehe hier nicht mehr weg, denn ich bin genau an dem Ort und in der Stadt angekommen, wo ich nun hingehöre. Ich gehöre nach Rom, für ein Jahr, für zwei Jahre, vielleicht sogar für immer.
 
Ich lache, ich kenne mich nicht mehr wieder. In mir ist eine Ausgelassenheit, wie ich sie noch nie erlebt habe. Was habe ich mir für unnötige Sorgen gemacht, wie falsch habe ich jahrelang darüber gegrübelt, ob es mit mir im Ausland gut ausgehen würde. Was für ein Unsinn ist das alles gewesen, was für ein merkwürdig verschrobenes, verqueres Denken! Rom ist doch gar kein Ausland, ach was, Rom ist das eigentliche Inland, ja, Rom ist das Inland.
 
In der Mitte des Marktes trinke ich an der Theke einer Bar erneut einen Kaffee und esse dazu eine Art von Croissant, für die ich keinen Namen habe. Im Französischen sagt man Croissant, doch dies hier ist kein Croissant, sondern die Variation eines Croissants. Sie ist noch warm und schmeckt nach einem Hauch duftender, guter Butter, die sich jedoch ganz in den Teig verzogen hat. Der Milchschaumkaffee und die Variation eines Croissants, das werde ich jetzt jeden Morgen essen, das reicht, damit werde ich ein paar Stunden auskommen.
Es wird heller und heller. Das Sonnenlicht glimmt zunächst oben an den Giebeln der Häuser und fällt dann hinab in die Schluchten. Auf dem Marktplatz wälzt es sich bereits zwischen den Ständen. Die Menschen bewegen sich nicht besonders schnell, sie sprechen unaufhörlich miteinander, aber nie allzu lange, sondern meist nur ein paar Minuten, danach setzen sie ihren Weg fort. Was gäbe ich darum, mich einmal so unterhalten zu können! Im Grunde ist auch diese Art von Unterhaltung wie für mich geschaffen! Kein Ausfragen und Anstarren, keine schweren Einzelsätze, in die Landschaft platziert! Stattdessen ein Auftakt, eine Wiederholung, eine Variation, ein Abgesang! So etwas könnte ich sogar lernen, ja, bestimmt, nach einer Weile werde ich so etwas ebenfalls können. Vielleicht ist das Italienische die einzige Fremdsprache, die ich am Ende einmal wirklich beherrschen werde. Vielleicht.
 
Ich überquere den Tiber und sehe die Kuppel der Peterskirche jetzt aus der Entfernung. Seltsam, sie schrumpft nicht, im Gegenteil, sie bleibt immer dieselbe noble, ideale Erscheinung, ob man sie nun aus der Nähe oder der Ferne betrachtet. Sicher liegt der Konstruktion dieses Baus ein Geheimnis zugrunde, anders kann ich mir seine Wirkungen auf den Betrachter nicht erklären. Ich werde Zeit haben, das herauszubekommen, vielleicht werde ich sogar Zeit haben, neben meinem Klavierstudium noch Kunstgeschichte zu studieren.
In Rom Kunstgeschichte zu studieren – auch auf diese sehr naheliegende Idee bin ich in Deutschland nicht einmal gekommen. Jetzt aber habe ich einen Plan, ein Projekt, eine Zukunft. Was ich nun noch brauche, ist ein preiswertes, gutes Quartier. Ein einfaches Zimmer mit einer schmalen, flachen Liege, einem Tisch, einem Schrank. Mal sehen, immerhin habe ich eine Adresse, die Adresse der deutschen Gemeinde in Rom. Ihre Kirche liegt ganz in der Nähe der Piazza Navona.
 
Wenig später erreiche ich die Piazza, und als ich sie betrete, werde ich von dem Eindruck erneut überwältigt. Ich nähere mich durch eine schmale Gasse und stehe dann plötzlich mitten im Licht einer weiten, ovalen Öffnung. Ein Haus fügt sich nahtlos ans andere, so dass der Platz wie die Bühne eines Theaters erscheint und die Häuser ringsum wie Kulissen. Drei Brunnen messen die Länge des Platzes aus. Ein wenig erinnert das alles an den ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus, nur dass dort die Häuser von sehr unterschiedlicher Größe waren und daher keinen homogenen Eindruck erweckten. Ich gehe bis zur Mitte und setze mich an den Rand des größten Brunnens. Direkt gegenüber befindet sich eine Kirche. Der Platz ist fast vollständig leer, selbst die umliegenden Cafés sind noch nicht geöffnet. Das Sonnenlicht füllt ihn in seiner vollen Länge, der Platz badet bereits in diesem Licht.
 
Ich sitze eine Weile auf dem Brunnenrand und frage mich, wann ich jemals so glücklich gewesen bin wie gerade jetzt. Und wodurch entsteht dieses Glück? Durch das Licht, durch die großzügige Wohnlichkeit all dieser Räume und dadurch, dass ich weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denke. Ich lebe jetzt, in diesem Augenblick, ich bin hier, nun muss ich nur noch die ersten Kontakte knüpfen.
Die Kirche der deutschen Rom-Gemeinde liegt nur wenige Schritte entfernt. Ich mache mich auf den Weg dorthin und biege in eine kleine Gasse ein, ja, es sind wirklich nur wenige Schritte. Da ist die Kirche, Santa Maria del Anima, ich habe sie gleich entdeckt. Ich gehe hinein, es ist kurz nach acht, anscheinend hat bereits ein Frühgottesdienst stattgefunden, der Weihrauchduft ist noch sehr stark.
 
Ich setze mich in eine Bank und schaue mir alles an. Da bleibt mein Blick an der kleinen Chororgel neben dem Altar hängen. Es ist eine Orgel, wie man sie zur Begleitung des Gesangs der Gemeinde benutzt, es ist eine Gottesdienstorgel, in der Klosterkirche habe ich oft auf einer solchen Orgel gespielt. Ich kann die starke Anziehung, die von ihr ausgeht, nicht unterdrücken. Ich gehe hin und nehme an ihr Platz, ich beginne, auf ihr zu spielen, ich sitze an meinem ersten römischen Morgen in der Kirche Santa Maria del Anima und spiele die Orgel.
 
Nach wenigen Minuten erscheint ein Priester. Er unterbricht mich nicht, nein, er macht sogar ein Zeichen, dass ich zu Ende spielen soll. Ich spiele einen Choral von Johann Sebastian Bach, ich spiele den alten Choral Jesu bleibet meine Freude, es ist ein Stück, das ich immer wieder von großen Pianisten gehört habe, so etwa von Dinu Lipatti, der es am ergreifendsten in seinem letzten Konzert kurz vor seinem Tod gespielt hat.
Als ich den Choral beendet habe, stehe ich auf, gehe auf den Geistlichen zu und spreche ihn auf Deutsch an. Ich erkläre ihm, wer ich bin und was mich in diese Kirche geführt hat. Der Geistliche spricht ebenfalls Deutsch, er gibt mir die Hand und fordert mich auf, ihn in die Räume des Konvents zu begleiten, die an die Kirche angeschlossen sind. Sie spielen sehr gut, sagt der Geistliche und geht etwas voran. Dann aber bleibt er mitten im Gehen stehen und dreht sich noch einmal nach mir um: Hätten Sie Zeit und Lust, in unseren Frühgottesdiensten werktags diese Orgel zu spielen?
Ich schaue ihn an, ich glaube, nicht richtig zu hören. Dann aber antworte ich: Ja, ich habe Zeit und Lust, die habe ich natürlich auch. Wenn Sie wollen, kann ich schon morgen früh anfangen.