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JETZT, JA. Ich sehe
mich jetzt, wie ich zwei Tage nach dem endlich bestandenen Abitur
auf der Stazione Termini in Rom
ankomme. Ich habe nichts als meinen alten Seesack mit wenigen
Utensilien dabei, und als erste Anlaufstation besitze ich nichts
als die Adresse einer Kirche, die der deutschen Rom-Gemeinde
gehört. Die Adresse habe ich von meinem Onkel erhalten, der mit dem
Pfarrbüro der Gemeinde telefoniert und mich für den Morgen des
kommenden Tages angemeldet hat.
Jetzt aber ist
Nacht, es ist meine erste römische Nacht, und ich werde das wenige
Geld, das ich bei mir habe, nicht für eine Übernachtung ausgeben,
nein, ich werde meine erste römische Nacht im Freien verbringen.
Und so gebe ich meinen alten Seesack an der Gepäckaufbewahrung ab
und gehe ohne jedes Gepäck und nur mit einem kleinen Geldbetrag in
der Tasche einfach los.
Ich stehe jetzt
draußen im Freien, es ist kurz nach zweiundzwanzig Uhr, vor der
Stazione Termini drängen sich die
Ankommenden in die Busse und verschwinden ins Zentrum. Ich atme
durch, ich bleibe stehen und schaue. Dort geht es zur Piazza della
Repubblica, ja genau, und dort drüben ist das Thermenmuseum. Vor
dem Bahnhof ballt sich eine wohltuende Wärme, die nach der langen
Zugfahrt beruhigend wirkt. Ich gehe ein paar Schritte, spüre aber,
dass mich etwas davon abhält, immer weiterzugehen. Ich habe es
nicht eilig, ich habe Zeit, mich hier in der Nähe des Bahnhofs auf
eine Bank zu setzen und nichts anderes zu tun als zu schauen. Es
sind etwa zweihundert Meter bis zur Piazza della Repubblica, einem
kreisrunden Platz mit einer großen Brunnenanlage. Von dort geht der
Blick einen breiten Corso hinab in die vom gelben Straßenlicht
durchfluteten Häuserschluchten. Der unermüdlich fließende Verkehr.
Die Kaffeearomen in der Nähe der Brunnen. Die hohen Pinien mit
ihren hellbraunen, gefleckt im Neonlicht schimmernden
Stämmen.
Ich setze mich auf
eine Bank, es ist eine breite, kühle Marmorbank ohne Rückenlehne,
es ist eine Bank für mindestens sechs Personen, die ringsum auf
ihren Rändern sitzen könnten. Ein junges, schwarzhaariges Mädchen
in einem fleckigen weißen Kleid setzt sich zu mir und bettelt um
etwas Geld. Ich mache ein paar Zeichen: Ich habe kein Geld, und
außerdem bin ich stumm. Ich bin eine stumme, beinahe mittellose und
hungrige Person. Sie starrt mich an und schüttelt den Kopf. Ich
begreife nicht, was sie von mir will, ich verstehe kein Wort von
dem, was sie sagt. Sie legt ihre rechte Hand auf meine Schulter,
als müsste sie mich beruhigen, dann verschwindet sie.
Später erscheint sie
plötzlich wieder, jetzt hat sie eine kleine, armselige Tasche
dabei. Sie stellt die Tasche neben mir ab, holt zwei Gläser hervor
und füllt sie aus einer großen bauchigen Flasche mit Wein. Sie sagt
kein Wort, sie deutet auf die beiden Gläser, ich nehme eines in die
Hand, wir trinken. Sie fragt mich etwas, ich nicke, sie fragt mich
weiter, ich mache eine hilflose Geste, dann trinken wir aus, und
sie verschwindet blitzschnell hinter meinem Rücken ins
Dunkel.
Ich sitze und schaue
weiter, ich bin ganz ruhig, es ist seltsam, aber ich habe nicht das
Gefühl, an einem fremden Ort angekommen zu sein. Woher kommt das?
Warum fühle ich mich nicht fremd? Was ist mit dieser
Stadt?
Ich sitze da, als
könnte ich mich nicht von der Bank lösen, bevor ich diese Fragen
nicht beantwortet habe. Irgendetwas ist seit meiner Ankunft
geschehen, aber ich verstehe nicht, was es ist. Ich spüre nur, dass
ich anders als bei meinen sonstigen Fluchten und Reisen weder eine
gewisse Anspannung noch irgendeine Unruhe empfinde, im Gegenteil,
ich fühle mich leicht, unbeschwert, ja kurz davor, etwas zu singen.
Ich will singen? Wieso will ich singen? Was, verdammt noch mal, ist
denn bloß mit mir los?
Endlich stehe ich
auf, überquere den Platz und gerate unter die hohen Arkaden eines
Cafés. Die Menschen sitzen draußen im Freien, niemand nimmt von mir
Notiz, ich kann an all diesen kleinen Tischen entlanggehen, ohne
beachtet zu werden. Und wie ist es drinnen? Ich gehe in das Café
und setze mich an die lange Theke der Bar, ich will etwas auf mein
Wohl trinken, ja, ich will diesen einzigartigen Moment feiern,
meine Freude, meine Erleichterung.
Als die Bedienung
kommt, mache ich eine Trinkgeste und deute an, dass ich stumm bin.
Seltsamerweise lächelt der Kellner und greift nach einer Flasche,
die er mir hinhält. Wasser? Nein, ich schüttle den Kopf. Wein? Ja
genau, ich strecke den rechten Daumen hoch, Wein, ein Glas. Er
versteht mich, füllt ein Glas und schiebt es mir hin. Er will
wissen, ob ich ihn verstehen kann, er fragt mich mit einer Geste
beider Hände, ob ich taub bin. Ich bleibe ernst und verneine die
Frage mit einem Kopfschütteln, nein, ich bin nicht taub, ich bin
stumm. Er nickt und lächelt wieder, er hat mich verstanden. Ich
greife nach dem Glas und trinke, der Wein schmeckt beinahe genauso
wie der, den mir das junge Mädchen angeboten hat. Es ist ein
leichter, unmerklich perlender Weißwein, wie ich ihn noch nie
getrunken habe. In Deutschland habe ich fast überhaupt keinen Wein
getrunken, und in Deutschland wäre ich nie auf den Gedanken
gekommen, ein solches Café zu betreten und dort ein Glas Wein zu
trinken.
Warum aber hier, in
Rom? Warum bin ich gerade ohne jedes Nachdenken in dieses Café und
weiter an seine Bar gegangen? Ich erkenne mich nicht mehr wieder,
nein, ich handle nicht mehr so, wie ich sonst immer gehandelt habe.
Irgendetwas ist passiert, aber ich komme immer noch nicht darauf,
was es sein könnte. Ich sitze regungslos an der Theke, als müssten
mir jetzt endlich Antworten auf meine Fragen einfallen, es ist ein
beinahe zwanghaftes Sitzen, denn ich spüre, dass ich ganz nahe an
einer möglichen Antwort bin.
Drinnen im Café ist
es angenehm kühl, ich leere mein Glas und will bezahlen. Der
Kellner aber winkt ab, es ist so in Ordnung, ich brauche nicht zu
bezahlen, anscheinend hat der stumme Mensch, als der ich
aufgetreten bin, ihn gerührt. Ich schaue auf die Preisliste hoch
oben hinter der Theke und erkenne, dass ein Glas Wein nicht viel
kostet. Einen so geringen Betrag kann ich bezahlen, ja, das geht.
Ich hole das Geld hervor, der Kellner macht eine abwehrende Geste,
aber ich bezahle, denn ich will von meiner Notlüge nicht auch noch
profitieren.
Als ich den Caféraum
verlasse und wieder draußen unter den Arkaden stehe, habe ich die
Ankunft hinter mir. Wie leicht und schön es war, in Rom anzukommen!
Und wie leicht mir hier alles fällt! Ich spüre mich kaum noch, ich
habe fast keine Erinnerung mehr daran, wie umständlich und schwer
alles einmal war! Ist das Freude? Reine Freude? Ist das, was ich
gerade empfinde, nicht die reinste, unbeschwerteste
Freude?
Als sich die Fragen
und Gedanken so zuspitzen, spüre ich eine plötzliche Hitze im Kopf.
Es ist wie ein glimmendes Kribbeln, wie ein sich entzündendes
kleines Feuer, das Flammen nach allen Seiten sprüht. Was ist mit
mir? Ich verlasse den Arkadenbereich rasch und eile zurück zu der
Marmorbank, auf der ich zuvor gesessen habe. Ich zwinge mich, jetzt
an nichts Schlimmes zu denken, aber es geht schon, die Hitze lässt
bereits nach. Ich brauche mich nicht zu beunruhigen, nein, ich
brauche es nicht. Und warum nicht? Weil ich fort bin, ja, ich bin
fort, ich lebe nicht mehr in dem Land, in dem ich so viel Angst
ausgestanden habe, ich bin
fort.
Als sich diese drei
Worte immer wieder in meinem Kopf wiederholen, verstehe ich
plötzlich, was seit meiner Ankunft in Rom geschehen ist. Ich fühle
mich frei, ja, das ist geschehen, die Ankunft in Rom ist verbunden
mit dem Gefühl einer einzigen, großen Befreiung. Niemand umkreist
mich, nichts rückt mir auf den Leib, man lässt mich in Ruhe, zum ersten Mal in meinem Leben lässt man
mich ganz und gar in Ruhe. Ich bin
fort, murmle ich und sage dann den ersten lauten Satz in der
Ewigen Stadt: Johannes, Du bist jetzt
fort! Und weiter: Ich bin draußen, ich
habe es endlich geschafft.
Als ich höre, wie
ich das alles sage, und als sich die Sätze mit dem Anblick der
herrschaftlich schönen und weiten Kulisse verbinden, ist aber nun
doch alles zu viel. Verdammt! Ich sitze auf einer römischen
Senatorenbank, und mir kommen die Tränen. Nicht einmal ein
Taschentuch habe ich dabei, nicht einmal das! Und warum hört das
Weinen nicht auf, warum nicht?
Es gibt nichts mehr
zu weinen, es gibt hier keinen Grund für viele Tränen, Weinen und
Tränen haben doch mit Schmerzen zu tun, aber ich empfinde hier
keinen Schmerz. Nein, verdammt, wirklich nicht! Keinen Schmerz! Ich
bin schmerzfrei! Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das
Gefühl, vollkommen schmerzfrei zu sein! Und deshalb ist jetzt auch
Schluss mit den Schmerzgesten. Auch von den Schmerzgesten bin ich
nämlich befreit. Kein Stummentheater mehr, überhaupt kein Theater
der Hilflosigkeit! Schluss mit der Pantomime! Sag es noch einmal,
sag es laut: Johannes, Du bist in
Rom!
Ich schlucke und
schlucke, während das Weinen nicht aufhören will. Es ist aber kein
richtiges Weinen, sondern eine Art Strömen, ein ununterbrochenes
Strömen von Tränen. Sie sickern aus meinen Augen wie ein Rinnsal,
als könnte ich nichts dagegen tun. Und es stimmt, ich habe keinen
Einfluss auf dieses Fließen, denn es kommt von einem mir
unzugänglichen Zentrum im Kopf, in dem sich gerade einiges klärt.
Bald wird das alles vorbei sein. Dann werde ich hinüber zu dem
großen Brunnen gehen und mein Gesicht waschen. Und danach werde ich
hinab in die Stadt gehen, und wenn ich Lust habe zu singen, werde
ich, verdammt noch mal, singen! …
Etwas später habe
ich mir das Gesicht mit dem Wasser des großen Brunnens gewaschen
und gehe wirklich den breiten Corso hinab in die Stadt. Von einem
der römischen Hügel gehe ich hinab in die römische Ebene. Dort sind
die Kaiserforen, und dort hinten, das ist das Kolosseum. Ich gehe
eine breite, nur noch wenig befahrene Straße an den Kaiserforen
entlang auf das Kolosseum zu. Ich bleibe nicht vor ihm stehen,
sondern umrunde es langsam. Von den sandigen Höhen, die es umgeben,
weht ein weicher Kieferngeruch. Überall verstreut auf dem Boden
liegen die Nadeln, braun und von der Sonne verbrannt. Der römische
Teppich, der Teppich aus Pinien- und Kiefernnadeln.
Ich will jetzt
nirgends lange verweilen, sondern eine nächtliche Spur durch die
Ewige Stadt ziehen. Deshalb bewege ich mich einfach weiter und gehe
die breite Straße zurück. In den dunklen, kaum angestrahlten
Ruinenund Tempelzonen brennen kleine Feuer. Ich sehe Menschen hin
und her huschen, aber ich kümmere mich nicht weiter darum. Mein
Ziel ist der Corso, die breite Gerade, die das römische Herz der
alten Wohngegenden wie ein scharfer, massiver Hieb durchschneidet.
Ich gehe auf einen fernen Obelisken zu, ich habe ihn fest im
Blick.
Ich bin jetzt
sicher, dass mir das, was mir eben passiert ist, nicht noch einmal
passieren wird. Eine leichte, wunderbare Leere ist in mir, sie ist
ein Zeichen dafür, dass ich keine Schmerzen mehr habe. Rechts und
links, in den Seitenstraßen des Corso, sitzen die Menschen an
kleinen Tischen und essen. Es ist weit nach Mitternacht, aber in
diesen von kleinen Öllampen erleuchteten Seitenstraßen wird noch
immer gegessen. Wie gerne würde ich mich jetzt dazusetzen!
Irgendwann wird das möglich sein, irgendwann werde ich etwas Geld
haben, um mich mitten in einer römischen Nacht mit ein paar
Freunden an einen Tisch setzen zu können. Denn, jawohl, ich werde
in Rom Freunde haben, das weiß ich. Seit ich in Rom unterwegs bin
und die nächtliche Stadt durchstreife, weiß ich genau, dass ich
hier zum ersten Mal in meinem Leben richtige Freunde haben werde.
Ich werde mit ihnen essen und unterwegs sein, ich werde ein
römisches Leben führen.
Als ich den fernen
Obelisken erreicht habe, biege ich linker Hand Richtung Tiber ab.
Dort muss der Tiber sein, und dort ist wahrhaftig der Tiber. Ich
habe den Plan der römischen Innenstadt genau im Kopf, ich sehe ihn
vor mir, Vater wäre stolz, wie genau ich den römischen Stadtplan im
Kopf habe. Und wo ist Norden? Ich weiß genau, wo Norden ist, etwas
nördlich des großen Obelisken muss sich die Milvische Brücke
befinden, an der Konstantin gesiegt hat. Ich werde mir irgendwann
einen ganzen Tag und eine Nacht Zeit für diese Brücke nehmen.
Jetzt, wo ich auf den dunklen Tiber in der Tiefe blicke, ahne ich,
wie es an der Milvischen Brücke aussieht. An den tiefliegenden,
breiten Ufern werden Feuer brennen, und die Bogen der alten Brücke
werden im Wasser matt schimmern.
Ich gehe aber nicht
nördlich, sondern mit der Strömung des Flusses. Die hoch liegenden
Uferstraßen werden von mächtigen Platanen gerahmt. Allmählich lässt
der Verkehr nach, ich passiere mehrere Brücken, und dann,
unerwartet, nach einer kleinen, unmerklichen Krümmung des Flusses,
ist es so weit: Ich sehe die Peterskirche, ich sehe sie jenseits
des Flusses, ich sehe die ausatmende, mächtige, ruhende Kuppel und
das schwache, letzte Licht in ihrer schmalen Laterne hoch oben. Das
Bild, das ich sehe, erscheint unglaublich entrückt, denn das, was
ich nun sehe, ist keine Kirche mehr, sondern wirkt wie ein
unbetretbares Jenseits. Wer hat das gebaut? Hat das überhaupt
jemand gebaut? All das, was ich sehe, wirkt so makellos schön und
so stimmig, als handelte es sich um eine Verkörperung der Schönheit
selbst, um eine Verkörperung ihrer Idee, wie das Maß aller Dinge.
Ich kann diesen Bau nicht in seinen Einzelheiten betrachten,
sondern sehe ununterbrochen das Ganze, und dieses Ganze erscheint
wie ein Modell.
Ich gehe über die
Engelsbrücke hinüber zur Engelsburg, passiere sie aber, ohne sie
weiter zu beachten. Dann biege ich auf die menschenleere Straße
ein, die direkt auf die Peterskirche zuführt. Ich schaue auf die
Uhr, es ist kurz nach zwei, mitten in der Nacht. Gleich werde ich
den Petersplatz erreichen. Das große Oval liegt im Dunkel, nur die
beiden Brunnen rauschen noch leise. Ich gehe auf den Obelisken zu
und setze mich auf die Stufen, die zu seiner Basis führen. Ich habe
die Peterskirche jetzt im Blick, das Hauptportal, die Loggia, die
beiden Uhren, die Apostel Petrus und Paulus zu beiden Seiten und
die ausschwingenden Kolonnaden. Hier werde ich eine Weile sitzen,
hier werde ich das erste Licht abwarten.
Seltsam, dass ich
nicht müde bin. Ich habe eine lange Zugfahrt hinter mir, komme mir
aber vor, als wäre ich vollkommen frisch und bereits seit vielen
Tagen hier. Lange habe ich nichts gegessen, aber das macht nichts.
Ich habe zwei Gläser Wein und hier und da Wasser aus einem Brunnen
oder einem der Wasserspender an den Straßen getrunken. Ich habe das
starke Summen der Stadt noch in den Ohren, jetzt aber verebbt es
langsam. Das vereinzelte Quietschen von Busbremsen. Der Windhauch,
der lange auf dem Platz kreist und dann durch die Kolonnaden
abzieht. Die klar leuchtenden Sterne, hinter die Kuppel gespannt,
wie Leuchtsignale auf schwarzem Tuch. Ich lehne mich zurück gegen
die Basis des Obelisken, ich strecke die Beine aus, was höre ich
denn, ah, das ist es also, was ich höre, ich höre den alten Gesang:
Deus, in adjutorium meum intende/ Domine, ad
adjuvandum me festina … – zwei-, dreimal höre ich dieses
Summen, wie einen Refrain meines ersten römischen Spaziergangs.
Herr, ich danke Dir, dass Du mich hierher geführt hast, Herr, ich
danke Dir! Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, auf
grünen Auen lässt er mich lagern; an Wasser mit Ruheplätzen führt
er mich …
Ich sitze wahrhaftig
bis zum Morgengrauen. Da kenne ich die breite Fassade der
Peterskirche bis ins letzte Detail. Ich habe gesehen, wie sie weich
wurde von der Wärme der Nacht, wie sie nachgiebig schwankte und in
der morgendlichen Frühe wieder zu erstarren begann. Ich stehe auf
und laufe auf dem weiten Platz ein paar Runden, sehr langsam, immer
an den Kolonnaden entlang. Dann setze ich mich ab und folge weiter
dem Fluss. Zu meiner Rechten führt eine Straße steil in die Höhe,
das ist gut, ja, es könnte schön und genau das Richtige sein, jetzt
diesen Hügel hinaufzugehen, um von dort oben auf die morgendliche
Stadt zu schauen. Eine Kirche, eine Pinienallee, zwei Hunde, die
mir voranlaufen.
Oben, auf der Höhe
des Hügels, liegt mir die Stadt im dünnen Morgenlicht zu Füßen. Die
Häuser und Bauten wie geduckt, und darüber die Kuppeln der vielen
Kirchen. Die Kirchen werden mir ein gutes Zuhause sein, ja, das
ahne ich schon. Immer, wenn ich für einen Augenblick ein gutes
Zuhause brauche, werde ich in eine der vielen Kirchen gehen.
Sitzen, warten, ein Gebet sprechen, vielleicht aber auch schauen,
ob es eine Orgel gibt, auf der ich spielen kann.
Wie leicht wird es
sein, in dieser Stadt zu leben, ganz leicht. Eine Kirche, ein Café,
eine Unterhaltung, noch eine Unterhaltung, diese Stadt ist wie für
mich geschaffen, einerseits lässt sie mich vollständig in Ruhe, und
andererseits bietet sie mir alles, was ich brauche. Das, was ich
brauche, ist einfach vorhanden, an jeder Ecke, es steht da zur
freien Verfügung.
So müssten alle
Städte gebaut sein, nicht zu hoch, mit ihren Häusern in eine
Flusskrümmung geschmiegt, alles dicht, sehr dicht beieinander,
viele kleinere Plätze, Pinienalleen, ein Kranz von Hügeln und
überall unerwartete Orte der Stille. Und viele Kirchen, an jedem
Platz eine Kirche. Im Grunde ist das Zentrum Roms leicht zu
überblicken, es ist nicht allzu groß, es ist eine weite, verstreute
Sonnenlandschaft mit einigen Thronsitzen und
Aussichtsterrassen.
Ich setze mich auf
eine Balustrade und lasse die Beine baumeln. Ich versuche, einige
der vielen Bauten zu erkennen. Kurz schließe ich die Augen und
lasse den römischen Stadtplan vor meinem inneren Auge entstehen, um
in Gedanken ein Stück durch Rom zu wandern. Hier unterhalb, das
muss das Viertel Trastevere sein, und dort oben, zur Rechten, das
ist der Aventin mit seinen Klöstern. Was die Patres wohl sagen
würden, wenn sie mich hier sähen! Einer von ihnen hat einmal
vermutet, dass aus mir noch ein Priester oder sogar ein Mönch
werden könnte. Jetzt kann aus mir aber kein Priester mehr werden,
diese Versuchung habe ich hinter mir.
Als wenige Meter von
mir entfernt eine kleine Bar geöffnet wird, gehe ich sofort hin.
Der Mann hinter der silbernen, gerade sauber gewischten Theke
begrüßt mich leise, und ich murmle die Klanglinie nach, die ich
gerade gehört habe, ohne ein Wort zu verstehen. Er fragt mich
etwas, wahrscheinlich nennt er den Namen eines Getränks, ich
wiederhole, was er gesagt hat, und sofort beginnt er, sich um mein
Getränk zu kümmern. Es kommt wenig später in einer großen weißen
Tasse und duftet nach einem starken Kaffee. Seine Oberfläche aber
ist mit dichtem Milchschaum bedeckt. Etwas Kakao? Ja, das habe ich
jetzt sogar verstanden, etwas Kakao!
Es ist ganz einfach,
mit diesem Mann zu sprechen, er baut sich nicht vor mir auf und
macht aus mir keinen sprachlosen, fremdsprachigen Clown, nein, er
bietet mir laufend Bruchstücke seiner eigenen Sprache an. Ich muss
nur genau hinhören und sie aufschnappen und sie dann wieder
zurückgeben.
Ich habe verstanden,
ich habe bereits ein wenig verstanden, wie das Italienische geht.
Das Italienische geht vollkommen anders als das Deutsche. Es ist
ein Geben und Anbieten von Sätzen, die der Gegenüber dann wieder
zurückgibt. Was der eine sagt, greift der andere auf, dreht es um
eine Nuance und sagt dann den Satz leicht verändert noch einmal.
Und so geht es weiter und weiter, ohne Pause. Es ist mit einem
guten Duett zu vergleichen, mit Gesang und Gegengesang. Das
Deutsche aber ist anders. Im Deutschen sagt einer einen Satz, um
den Satz irgendwo in die Landschaft zu stellen und dort stehen zu
lassen. Danach ist es still. Derjenige, der antwortet, sagt einen
anderen Satz und stellt ihn in etwas größerer Entfernung ebenfalls
in die Landschaft. So ist zwischen den Sätzen viel Raum und viel
Schweigen.
Ich tauche die
Lippen in den weichen, porösen Milchschaum und nippe an dem
Getränk. Durch die dichte Milchdecke sauge ich an einem sehr
starken Kaffee, dessen Wirkungen ich sofort spüre. Nach dem zweiten
Schluck ist jede Müdigkeit verflogen, und ein wohltuendes Leben
durchströmt den ganzen Körper. Acqua?,
fragt der Mann hinter der Theke, und ich sage: Acqua! Latein ist die höflichste Sprache überhaupt,
Latein ist uneitel, sanft, geduldig und hilfreich, so wie jetzt, wo
ich es einfach verwenden kann, um zu sagen, dass ich Durst
habe.
Ich trinke die Tasse
Kaffee leer und anschließend noch das Glas Wasser, ich zahle, der
Kellner schaut nicht lange auf und verabschiedet mich wieder mit
einem Gruß. Wir sprechen so leise miteinander, als befänden wir uns
in einer Kirche oder als dürften wir niemanden stören oder als
wären wir alte Freunde. Im leisen, vorsichtigen Sprechen des
Kellners ist von alldem etwas, und darüber bin ich denn doch so
erstaunt und verwundert, dass ich beim Abgang hinab in die Ebene
vor mich hin summe. Nein, ein Sänger werde ich gewiss nicht mehr
werden, aber ich werde in dieser Stadt ein guter Pianist werden,
ja, auch das weiß ich jetzt bereits genau. Und wieso weiß ich das?
Und was soll das heißen, dass ich in dieser Stadt ein guter Pianist
werde?
Ich bin gerade unten
in der Ebene auf einem Platz angekommen, wo viele Marktstände
aufgebaut sind und längst Gemüse und Obst, Käse, Wurst und Brot
verkauft werden. Moment, einen Moment! Was habe ich gerade gedacht?
Ich werde in dieser Stadt ein guter Pianist werden! Ja und? Und was
heißt das? Das heißt, mein Gott, das heißt, dass ich nicht für zwei
Wochen in die Ewige Stadt gereist bin, nein, auch nicht für drei.
Ich bin hierher gereist, um ein guter Pianist zu werden, deshalb
bin ich hierher gereist. Das hier ist also keine Ferienreise,
sondern eine Reise dorthin, wo aus mir ein guter Pianist werden
wird.
Ich werde also hier
in Rom mein Studium beginnen, natürlich, das ist jetzt bereits
klar. Ich werde diese Stadt nicht wieder verlassen, nein, ich werde
sie auf keinen Fall wieder verlassen, sondern mich hier um einen
Studienplatz bewerben. Dass ich diese Idee nicht längst hatte! Aber
ich konnte diese Idee ja noch gar nicht haben, weil ich diese Stadt
ja noch nicht so kannte, wie ich sie jetzt bereits kennengelernt
habe. Nach meiner ersten römischen Nacht ist jedoch alles anders.
Ich gehe hier nicht mehr weg, denn ich bin genau an dem Ort und in
der Stadt angekommen, wo ich nun hingehöre. Ich gehöre nach Rom,
für ein Jahr, für zwei Jahre, vielleicht sogar für
immer.
Ich lache, ich kenne
mich nicht mehr wieder. In mir ist eine Ausgelassenheit, wie ich
sie noch nie erlebt habe. Was habe ich mir für unnötige Sorgen
gemacht, wie falsch habe ich jahrelang darüber gegrübelt, ob es mit
mir im Ausland gut ausgehen würde. Was für ein Unsinn ist das alles
gewesen, was für ein merkwürdig verschrobenes, verqueres Denken!
Rom ist doch gar kein Ausland, ach was, Rom ist das eigentliche
Inland, ja, Rom ist das
Inland.
In der Mitte des
Marktes trinke ich an der Theke einer Bar erneut einen Kaffee und
esse dazu eine Art von Croissant, für die ich keinen Namen habe. Im
Französischen sagt man Croissant, doch
dies hier ist kein Croissant, sondern die Variation eines
Croissants. Sie ist noch warm und schmeckt nach einem Hauch
duftender, guter Butter, die sich jedoch ganz in den Teig verzogen
hat. Der Milchschaumkaffee und die Variation eines Croissants, das
werde ich jetzt jeden Morgen essen, das reicht, damit werde ich ein
paar Stunden auskommen.
Es wird heller und
heller. Das Sonnenlicht glimmt zunächst oben an den Giebeln der
Häuser und fällt dann hinab in die Schluchten. Auf dem Marktplatz
wälzt es sich bereits zwischen den Ständen. Die Menschen bewegen
sich nicht besonders schnell, sie sprechen unaufhörlich
miteinander, aber nie allzu lange, sondern meist nur ein paar
Minuten, danach setzen sie ihren Weg fort. Was gäbe ich darum, mich
einmal so unterhalten zu können! Im Grunde ist auch diese Art von
Unterhaltung wie für mich geschaffen! Kein Ausfragen und Anstarren,
keine schweren Einzelsätze, in die Landschaft platziert!
Stattdessen ein Auftakt, eine Wiederholung, eine Variation, ein
Abgesang! So etwas könnte ich sogar lernen, ja, bestimmt, nach
einer Weile werde ich so etwas ebenfalls können. Vielleicht ist das
Italienische die einzige Fremdsprache, die ich am Ende einmal
wirklich beherrschen werde. Vielleicht.
Ich überquere den
Tiber und sehe die Kuppel der Peterskirche jetzt aus der
Entfernung. Seltsam, sie schrumpft nicht, im Gegenteil, sie bleibt
immer dieselbe noble, ideale Erscheinung, ob man sie nun aus der
Nähe oder der Ferne betrachtet. Sicher liegt der Konstruktion
dieses Baus ein Geheimnis zugrunde, anders kann ich mir seine
Wirkungen auf den Betrachter nicht erklären. Ich werde Zeit haben,
das herauszubekommen, vielleicht werde ich sogar Zeit haben, neben
meinem Klavierstudium noch Kunstgeschichte zu
studieren.
In Rom
Kunstgeschichte zu studieren – auch auf diese sehr naheliegende
Idee bin ich in Deutschland nicht einmal gekommen. Jetzt aber habe
ich einen Plan, ein Projekt, eine Zukunft. Was ich nun noch
brauche, ist ein preiswertes, gutes Quartier. Ein einfaches Zimmer
mit einer schmalen, flachen Liege, einem Tisch, einem Schrank. Mal
sehen, immerhin habe ich eine Adresse, die Adresse der deutschen
Gemeinde in Rom. Ihre Kirche liegt ganz in der Nähe der Piazza
Navona.
Wenig später
erreiche ich die Piazza, und als ich sie betrete, werde ich von dem
Eindruck erneut überwältigt. Ich nähere mich durch eine schmale
Gasse und stehe dann plötzlich mitten im Licht einer weiten, ovalen
Öffnung. Ein Haus fügt sich nahtlos ans andere, so dass der Platz
wie die Bühne eines Theaters erscheint und die Häuser ringsum wie
Kulissen. Drei Brunnen messen die Länge des Platzes aus. Ein wenig
erinnert das alles an den ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus,
nur dass dort die Häuser von sehr unterschiedlicher Größe waren und
daher keinen homogenen Eindruck erweckten. Ich gehe bis zur Mitte
und setze mich an den Rand des größten Brunnens. Direkt gegenüber
befindet sich eine Kirche. Der Platz ist fast vollständig leer,
selbst die umliegenden Cafés sind noch nicht geöffnet. Das
Sonnenlicht füllt ihn in seiner vollen Länge, der Platz badet
bereits in diesem Licht.
Ich sitze eine Weile
auf dem Brunnenrand und frage mich, wann ich jemals so glücklich
gewesen bin wie gerade jetzt. Und wodurch entsteht dieses Glück?
Durch das Licht, durch die großzügige Wohnlichkeit all dieser Räume
und dadurch, dass ich weder an die Vergangenheit noch an die
Zukunft denke. Ich lebe jetzt, in diesem Augenblick, ich bin hier,
nun muss ich nur noch die ersten Kontakte knüpfen.
Die Kirche der
deutschen Rom-Gemeinde liegt nur wenige Schritte entfernt. Ich
mache mich auf den Weg dorthin und biege in eine kleine Gasse ein,
ja, es sind wirklich nur wenige Schritte. Da ist die Kirche, Santa
Maria del Anima, ich habe sie gleich entdeckt. Ich gehe hinein, es
ist kurz nach acht, anscheinend hat bereits ein Frühgottesdienst
stattgefunden, der Weihrauchduft ist noch sehr stark.
Ich setze mich in
eine Bank und schaue mir alles an. Da bleibt mein Blick an der
kleinen Chororgel neben dem Altar hängen. Es ist eine Orgel, wie
man sie zur Begleitung des Gesangs der Gemeinde benutzt, es ist
eine Gottesdienstorgel, in der Klosterkirche habe ich oft auf einer
solchen Orgel gespielt. Ich kann die starke Anziehung, die von ihr
ausgeht, nicht unterdrücken. Ich gehe hin und nehme an ihr Platz,
ich beginne, auf ihr zu spielen, ich sitze an meinem ersten
römischen Morgen in der Kirche Santa Maria del Anima und spiele die
Orgel.
Nach wenigen Minuten
erscheint ein Priester. Er unterbricht mich nicht, nein, er macht
sogar ein Zeichen, dass ich zu Ende spielen soll. Ich spiele einen
Choral von Johann Sebastian Bach, ich spiele den alten Choral
Jesu bleibet meine Freude, es ist ein
Stück, das ich immer wieder von großen Pianisten gehört habe, so
etwa von Dinu Lipatti, der es am ergreifendsten in seinem letzten
Konzert kurz vor seinem Tod gespielt hat.
Als ich den Choral
beendet habe, stehe ich auf, gehe auf den Geistlichen zu und
spreche ihn auf Deutsch an. Ich erkläre ihm, wer ich bin und was
mich in diese Kirche geführt hat. Der Geistliche spricht ebenfalls
Deutsch, er gibt mir die Hand und fordert mich auf, ihn in die
Räume des Konvents zu begleiten, die an die Kirche angeschlossen
sind. Sie spielen sehr gut, sagt der
Geistliche und geht etwas voran. Dann aber bleibt er mitten im
Gehen stehen und dreht sich noch einmal nach mir um: Hätten Sie Zeit und Lust, in unseren Frühgottesdiensten
werktags diese Orgel zu spielen?
Ich schaue ihn an,
ich glaube, nicht richtig zu hören. Dann aber antworte ich:
Ja, ich habe Zeit und Lust, die habe ich
natürlich auch. Wenn Sie wollen, kann ich schon morgen früh
anfangen.