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WAS FÜHLT ein Junge
von sechs, sieben Jahren, wenn er einen solchen Brief seiner Mutter
zu hören bekommt? Ich jedenfalls war drauf und dran, meinen kleinen
Koffer zu packen und zu verlangen, sofort wieder zurück nach Köln
gebracht zu werden. Wie sollte ich denn verstehen, dass meine
Mutter sich anklagte, keine gute Mutter gewesen zu sein, und
versprach, in Zukunft eine bessere Mutter sein zu
wollen?
Ich selbst hatte sie
in der Vergangenheit für eine ideale Mutter gehalten, ich hatte
mich nie über sie beschwert, und ich hatte mit der Zeit schon
verstanden, dass sie etwas Schweres und Dunkles erlebt hatte und
deshalb anders war als andere Mütter. Anders – aber doch nicht
schlechter, wie sie es jetzt in ihrem Brief
darstellte!
Ihre Anklagen, vor
allem aber ihre Bereitschaft, in Zukunft alles anders machen zu
wollen, machten mir Angst, ich wollte überhaupt nicht, dass alles
anders wurde, vieles konnte doch so schön und vertraulich bleiben,
wie es immer gewesen war! Sollten wir jetzt etwa keinen Tee mehr
zusammen trinken und keine Frauenstimmen in einsamen
Felslandschaften mehr singen hören? Sollten wir nicht mehr zusammen
einkaufen gehen und auf dem Wochenmarkt Obst und Gemüse aussuchen?
Eigentlich hatte ich doch gar keine Lust darauf, jeden Tag mit
anderen Kindern zu spielen, eigentlich würde es doch genügen, mit
Mutter weite Spaziergänge in Köln zu unternehmen, mit den
Straßenbahnen zu fahren oder vielleicht sogar auf Fahrrädern
gemeinsam unterwegs zu sein!
Hinzu kam, dass
Mutters Brief von einer starken Feierlichkeit war und dass diese
Feierlichkeit und der damit verbundene Ernst etwas Erdrückendes
hatten. Selbst Vater blieb davon nicht unberührt, das konnte ich
schon daran erkennen, dass er beim Vorlesen längere Pausen machte,
sich immer wieder räusperte und die Lektüre kaum zu Ende brachte.
Viel hätte nicht gefehlt und ich hätte ihn zum ersten Mal in meinem
Leben weinen sehen … – Vater weinen, einen weinenden Vater … –
etwas Abwegigeres konnte ich mir nicht vorstellen.
Ich wollte ihn aber
nicht weinen sehen, auf keinen Fall, niemand sollte weinen, ich
selbst wollte es auch nicht, nein, verdammt, es gab keinen Grund
für das Weinen, es sollte mit dem verdammten Weinen endlich vorbei
sein! Wenn man etwas lernte und sich große Mühe gab, bestand nicht
der geringste Grund für das Weinen, man war einfach zu beschäftigt
dafür, ja noch mehr: Man war zum Weinen gar nicht erst in der
Lage!
Gut also, genug, ich
schaute Vater an, dann aber tat ich etwas, was ich mir gar nicht
vorgenommen hatte, sondern was aus einem Instinkt heraus geschah,
angeblich tat ich es sehr entschlossen, ja sogar mit einer deutlich
nach Entschlossenheit aussehenden Miene: Ich soll meinem Vater den
Brief aus der Hand genommen, ihn zusammengefaltet und dann in meine
Tasche gesteckt haben, ich soll einmal kräftig genickt haben und
dann aufgestanden sein. Ich soll die Decke, auf der ich mit Vater
gesessen hatte, zusammengefaltet und über den linken Arm genommen
haben. Ich soll mit der rechten Hand nach Vaters linker Hand
gegriffen und sie festgehalten haben. Dann aber sollen wir zusammen
zurück in die Gastwirtschaft gegangen sein, wo es uns beide sofort
in die Küche gezogen habe, um dort aus der hohlen Hand etwas zu
trinken. Nach diesem gierigen Trinken aber soll ich Vater
minutenlang nass gespritzt und dabei so laut und schrill geschrien
haben, wie man es von mir bis dahin noch nie gehört hatte
…
Herrgott, es fällt
mir wirklich nicht leicht, von diesen Erlebnissen zu erzählen! Die
ganze Welt dieser Tage ersteht wieder neu, bis hin zu ihren
Gerüchen und Atmosphären. Als ich für einen kurzen Moment lüften
wollte und die Fenster meines Schreibzimmers öffnete, glaubte ich
plötzlich wahrhaftig, die alte Gewitterschwüle des Landes zu
riechen, diese warme, vom Boden aufsteigende Schwüle mit ihrem
betäubenden Gräser- und Wald-Geruch, eine Schwüle wie zum Zerreißen
kompakt und überspannt, so dass man einen starken Regen
herbeiwünscht, der diese dichte, atemlos machende Ballung
vertreibt!
Dabei war es hier in
Rom überhaupt nicht schwül, sondern nur heiß, eine große, mir meist
sehr wohltuende Hitze ließ alles erstarren, der Himmel aber war
klar und von jenem Blau, das es nur in Rom gibt, also nicht das
übliche Himmelszeltblau, sondern ein Kaiserzeltblau, ein
Triumphblau! Es ist ein Blau, das mir immer so vorkommt, als wäre
es zu Zeiten der triumphalen Einzüge der römischen Feldherren in
die Ewige Stadt entstanden und seither nicht mehr verschwunden. In
diesem Blau sind geheime Mischungen aus Silber und Gold, etwas von
der Schönheit der Meere und der Ferne Afrikas, ja sogar von der
Schönheit des Orients enthalten! Jedenfalls ist es kein
europäisches Blau und auch kein Mittelmeerblau, sondern eben ein
einzigartiges, römisches Blau, das mir
immer so vorkommt wie ein Amalgam aus all den Farben, die die Römer
auf ihren weiten Feldzügen gesehen haben.
Römisches Blau … – wie komme ich jetzt auf diese
Bezeichnung, warum denke ich über Himmelsblautöne nach, während ich
von jenen für mich so bedeutsamen Tagen auf dem Land erzähle?
Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, dass Vater während unserer
Wanderungen nicht nur zeichnete, sondern schließlich auch zu
aquarellieren begann. Das Aquarellieren wurde nötig, als wir uns
mit den Wolkenformationen am Himmel beschäftigten und Vater mit
seinen Zeichnungen unzufrieden war. So geht
das nicht! So geht es auf keinen Fall! – ich sehe ihn vor
mir, wie er den Kopf schüttelt und die Bleistifte wieder einpackt
und wenige Tage später den kleinen, im Dorf erstandenen
Aquarellkasten auspackt und öffnet.
Wolkenformationen nur mit Aquarellfarben!, bekam
ich zu hören und dann erkannte ich, wie man die niedrig ziehenden
Haufenwolken hintuscht, wie man sie von einem dichten Farbzentrum
her angeht und von diesem Zentrum aus etwas ausfransen lässt, ein
klein wenig, aber nicht zu viel, denn sie dürfen sich nicht zu
langen Barken strecken, sondern müssen aussehen wie Mannschaften
oder wie ein kleiner, auf Reisen gehender Trupp!
So lerne ich auch
das, ja, ich lerne, dass man beim Spaziergehen nicht nur die Erde
auf alle Details hin beobachten sollte, sondern dass so etwas auch
mit dem nur scheinbar immer gleichen Himmel möglich ist. Hat man
eine gewisse Übung darin, den Himmel zu betrachten, versteht man
das Wetter und kann sogar mit einigermaßen großer Sicherheit
voraussagen, wie das Wetter am nächsten Tag wird. Man muss nur die
Wolken studieren und sich umschauen, man muss den gesamten Horizont
betrachten, rundum, zum Studium der Wolken und des Wetters ist es
unbedingt notwendig, dass man sich mit erhobenem Kopf einmal im
Kreis dreht, die Himmelsrichtungen fixiert, feststellt, woher der
Wind weht, und aus all diesen Einzelbeobachtungen eine Prognose erstellt.
Doch auf solche
Prognosen kam es natürlich letztlich nicht an, Prognosen sind doch geschenkt!, sagte Vater, und
ich deutete die mir unverständliche Bemerkung so, dass Prognose ein hässlich klingendes Wort sei, dass
dieses Wort keine genauen Wolkenformationen bezeichne und dass es
zu den Worten gehöre, die man sich nicht zu merken brauche und
deshalb schenken könne. Prognose war
also ein überflüssiges Wort, das Vater auch nicht aufschrieb,
während er die Wolkenformationen durchaus aufschrieb, so dass ich
neue Lieblingswörter erhielt, Wörter wie Zirruswolke, Türmchenwolke oder Quellwolke.
Immer häufiger
schauten mir nun am frühen Abend die Verwandten oder auch einige
Feriengäste zu, wenn ich an meinem Gartentisch saß, um meine
schwarzen Kladden zu füllen. Längst besaß ich von ihnen bereits
mehrere, viele kleinere für die Eintragungen während des Wanderns,
und einige große, wie schon gesagt, für die Reinschrift. Mit den
Tagen hatte ich eine immer größere Sicherheit in diesen
Eintragungen bekommen, ich verschrieb mich kaum noch, die
Buchstaben waren gleich groß, und die Zeichnungen passten
schließlich in ihrer jeweiligen Größe auch genau zu den
Wörtern.
Was vor den Augen
meiner Mitleser entstand, war im Grunde eine kleine Enzyklopädie,
ein Lexikon der näheren Umgebung, in dem festgehalten war, was
Vater und ich beobachtet und meist auch in die Hand genommen
hatten. Wenn ich die rechte Seite abdeckte und nur auf die
Zeichnungen der linken Seite schaute, hatte ich die Worte genau vor
Augen, Buchstabe für Buchstabe. Und wenn ich die Zeichnungen
abdeckte und nur auf die Buchstaben schaute, wusste ich genau, wie
die zu ihnen passenden Zeichnungen aussahen.
So wuchsen die
Bilder und die Schriftzeichen in meinem merkwürdigen Schädel immer
enger zusammen und berührten einander, was nur noch fehlte, war der
Klang und damit der letzte, entscheidende Schritt: Dass ich mich
endgültig öffnete, dass ich die Welt nicht nur stumm in meinem Kopf
sammelte, sondern sprechend an ihr teilnahm.
Von Tag zu Tag
spürte ich mehr, dass dieser Schritt unmittelbar bevorstand, ja
dass es nur noch einer letzten Überwindung bedurfte. Alles, was
sich an Worten und Sätzen seit Jahren wie tote Materie in mir
angestaut hatte, musste ich vergessen, um von Neuem und frisch mit
den Sätzen anzufangen, die ich von Vater gelernt und in Hunderten
von Variationen im Kopf hatte.
Manchmal wiederholte
ich diese Varianten im Stillen und brach dann irgendwann ab. Es
handelte sich um eine sehr lange Reihe von Sätzen, und
wahrscheinlich würde es tagelang dauern, bis ich mit ihr am Ende
war. Doch ich beherrschte sie, ja, genau, schließlich hatte ich sie
mir immer wieder im Stillen vorgesagt und unermüdlich ein Wort an
das andere gefügt. Die Verwandten und die Feriengäste bewunderten
meine Kladden, was würden sie erst sagen, wenn ich all die Worte
und Sätze hintereinander aufsagen könnte, die ich in diese Kladden
eingetragen hatte!