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ICH BIN Antonia wieder im Treppenhaus begegnet und habe sie gefragt, ob sie vor mir davonlaufe. Sie hat kurz und ein wenig erschrocken gelacht und geantwortet, die Sache lasse sich nicht im Treppenhaus besprechen, wir bräuchten dafür etwas Zeit. Wir sind beide in unsere Wohnungen gegangen und haben uns für den Mittag in einer kleinen Bar am Testaccio-Markt verabredet.
Ich war erleichtert, dass ich es geschafft hatte, sie auf ihr merkwürdiges Verhalten anzusprechen, und genau das sagte ich ihr als Erstes, als wir einander in der Bar gegenüberstanden. Sie ging aber auf meine Bemerkung nicht ein, sondern fragte mich, wie weit ich mit meinem Buchprojekt sei. Ich fragte sie, warum sie das wissen wolle, und sie antwortete, es interessiere sie zu wissen, ob ich Rom nach Beendigung meines Buchprojekts wieder verlassen werde.
 
Ich zögerte einen Moment mit meiner Antwort, dann aber sagte ich, ich hätte darüber noch nicht nachgedacht. Im Augenblick wäre ich ausschließlich mit dem Manuskript beschäftigt, alles Weitere werde sich dann ergeben. Jedenfalls hätte ich in meinem bisherigen Leben feststellen können, dass sich in Rom immer alles von allein ergebe, auf natürliche Weise oder einfach von selbst. Ich könne ihr viele solcher Geschichten erzählen, die wichtigsten Dinge hätten sich für mich in Rom ganz leicht und beinahe ohne mein Zutun ergeben.
Du kannst Dir also auch vorstellen, in Rom zu bleiben?, fragte Antonia, und ich antwortete, aber ja, natürlich kann ich mir das vorstellen. Da sagte sie, dass sie in letzter Zeit immer wieder darüber nachgedacht habe, wie ich mir die Zukunft ausmale. Wir seien drauf und dran, eine engere Freundschaft einzugehen, eine solche Freundschaft aber wolle sie nur, wenn ich nicht in wenigen Monaten schon wieder verschwinde. Das Verschwinden eines Mannes aus ihrer Nähe habe sie erst gerade überwunden, das genüge, ein zweites Mal wolle sie so etwas nicht erleben. Ich antwortete, dass ich das gut verstehe, mich jedoch noch nicht entschieden hätte. Ich wolle mich mit der Zukunft jetzt nicht beschäftigen, es sei aber alles möglich, und vieles spreche dafür, dass ich bliebe.
Gut, sagte Antonia, wenn das so ist, bin ich beruhigt. Wenn Du nicht ausschließt, hier in Rom zu bleiben, ist ja noch alles offen. Hättest Du dagegen gesagt, dass Du vorhast, wieder nach Deutschland zurück zu reisen, hätte ich mich nicht mehr mit Dir getroffen, Du verstehst? – Ja, antwortete ich, ich verstehe genau. – Dann hätten wir das endlich geklärt, sagte Antonia. Und jetzt erzähl mir eine Deiner Rom-Geschichten, wie alles hier einfach von alleine passiert, das möchte ich gern einmal hören, ich habe nämlich genau den gegenteiligen Eindruck, dass alles hier sehr mühsam ist und beinahe nichts ohne großen Aufwand und Mühen vorankommt.
Ich überlegte einen Moment, ich hatte einen Einfall, und dann sagte ich, dass ich ihr solche Geschichten am liebsten vor Ort erzählen würde, also direkt dort, wo sie sich hier in Rom ereignet hätten. Und wo haben sie sich zum Beispiel ereignet?, fragte Antonia. – Zum Beispiel in der Via Bergamo 43, antwortete ich. – Dann lass uns dort hingehen, sagte Antonia, dann lass uns in der Via Bergamo zu Abend essen.
 
Genau so haben wir es dann auch an einem der folgenden Abende gemacht. Wir sind mit einem Taxi in die Nähe der Via Bergamo gefahren und zunächst in ihrer Umgebung spazierengegangen. Je länger wir gingen, umso aufgeregter wurde ich, schließlich hatte ich in dieser Gegend vor Jahrzehnten einmal gelebt.
Dann war es so weit, und ich bog mit Antonia in die Via Bergamo ein. Es handelt sich um eine schnurgerade, sonnige Wohnstraße mit vielen kleinen Geschäften, die direkt auf eine Markthalle zuläuft. Wir kamen zum Haus Nummer 43 und gingen durch einen Torbogen in den Innenhof. Die Palmen, in der Mitte ein Brunnen, die Front von geschlossenen, grünen Läden, alles war noch so, wie ich es in Erinnerung hatte.
Wir standen einen Moment still nebeneinander, als der Portiere auf uns zukam und sofort fragte, was wir hier suchten. Ich erklärte ihm, dass ich vor Jahrzehnten einmal im fünften Stock dieses Haus zur Untermiete gewohnt habe. Wir unterhielten uns eine Weile und gingen in Gedanken die Liste der ehemaligen und jetzigen Mieter durch, der Portiere war sehr freundlich und fragte mich zum Schluss, ob ich noch einmal mit dem Aufzug hinauf in den fünften Stock fahren wolle. Ja, sehr gern, antwortete ich, und dann begleitete er uns hinüber zum Aufzug, öffnete ihn und ließ uns einsteigen. Er schloss das Außengitter, ich zog die Tür zu, dann drückte ich auf einen Knopf. Antonia und ich – wir fuhren langsam hinauf in meine Vergangenheit.
 
Vor Jahrzehnten bin ich in genau diesem Aufzug am ersten Tag meines Rom-Aufenthalts in den fünften Stock gefahren, erzählte ich. Ich hatte die Adresse am frühen Morgen im Pfarrbüro der deutschen Gemeinde bekommen, und als ich hier oben klingelte, stand mir eine ältere Frau gegenüber, die eine kleine Pension vor allem für angehende Priester betrieb. Sie ließ mich eintreten, und als ich fragte, ob sie ein kleines, einfaches, preiswertes Zimmer für mich habe, sagte sie, dass ein solches Zimmer seit gestern frei sei. Wie lange wollen Sie denn bleiben?, fragte sie. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nur zwei oder drei Wochen in Rom zu bleiben, es sollte ein Ferienaufenthalt sein, doch schon nach den ersten wenigen Stunden in dieser Stadt hatte ich mich entschieden, länger zu bleiben. Eigentlich möchte ich ein paar Monate bleiben, sagte ich damals. Und dann erklärte ich ihr, dass ich vorhabe, mich um einen Studienplatz für eine pianistische Ausbildung am römischen Conservatorio zu bewerben. Ah, Sie sind ein Pianist!, sagte die ältere Frau, wenn Sie ein Pianist sind, bekommen Sie das Zimmer zu einem günstigen Preis, ich habe nämlich eine Schwäche für Pianisten.
 
Der Aufzug kam im fünften Stock an, wir stiegen aus und standen nun im hohen Flur direkt vor der Wohnungstür, vor der ich damals gestanden hatte. Ich ging mit Antonia ein paar Schritte beiseite und zeigte ihr den Blick, den man vom Flur aus in den stillen Innenhof hatte, wo der kleine Brunnen plätscherte.
Die Signora, die mich damals aufnahm, war eine wunderbare Frau, erzählte ich weiter, sie hat mir in den nächsten Wochen sehr geholfen. Schon am zweiten Tag meines Aufenthalts durfte ich sie Signora Francesca nennen, sie hatte mich darum gebeten. Signora Francesca war vor vielen Jahren aus Südtirol nach Rom gekommen und hatte zunächst in einem Hotel und in einem Restaurant gearbeitet, danach hatte sie sich mit dieser Pension selbständig gemacht. Die Priester, die bei ihr ein und aus gingen, erhielten ein gutes Frühstück und ein einfaches bequemes Zimmer. So hatte sie ruhige Gäste und brauchte keinen allzu großen Aufwand zu betreiben. Als ich eine Woche hier wohnte, nahm ich der Signora die Einkäufe in der Markthalle ab, und mit der Zeit wurde ich zu ihrem Vertrauten. Frühmorgens, frühmorgens …, ich stand meist bereits gegen halb sechs auf, frühmorgens …
 
Ich stockte, ich konnte nicht weitersprechen, die Erinnerungen waren plötzlich zu stark. Ich blickte weiter hinab in den Innenhof und sah, wie ich den Hof durchquerte und mich mit dem früheren Portiere unterhielt. Er gab mir die Post für die Pensionsgäste, und ich reichte ihm eine Packung der schwarzen Zigarren, die ich für ihn in einem nahen Tabakladen gekauft hatte.
Anfangs sprachen wir sehr langsam miteinander, damit ich jedes Wort mitbekam. Er war so geduldig mit mir, dass er mir manche Sätze sogar mehrmals vorsprach, damit ich sie Wort für Wort wiederholen konnte. Jeden Tag gab es so eine Viertelstunde Sprachunterricht, Lektion für Lektion. Darüber hinaus hielt er mich an, in die Zeitung zu schauen, denn Zeitunglesen hielt er für das beste Sprachtraining. Manchmal saßen wir an einem schattigen Platz im Innenhof und lasen zusammen ein paar Artikel und Nachrichten. Er las vor, und ich musste ihm nachsprechen. Was ich nicht verstand, erklärte er mir, er übersetzte das Italienisch der Zeitung in ein einfacheres Italienisch.
 
Entschuldige, Antonia, sagte ich, die Erinnerungen an früher überfallen mich gerade. – Ich verstehe, antwortete sie, dann lasse ich Dich jetzt einmal ein paar Minuten allein. Ich gehe in das Restaurant schräg gegenüber, dort warte ich auf Dich, einverstanden? – Einverstanden, sagte ich. Sie schaute mich kurz an, als müsste sie sich vergewissern, dass mit mir alles in Ordnung sei, dann ging sie zum Aufzug, drehte sich jedoch vor dem Einsteigen noch einmal um, kam die wenigen Schritte zurück und gab mir einen Kuss auf die Wange. Es geht Dir doch gut?, fragte sie, und ich antwortete: Mach Dir keine Sorgen, es geht mir sehr gut.
 
Als sie verschwunden war, lehnte ich mich auf die Brüstung des Umgangs, von dem aus man in den Innenhof schauen konnte. Dieser kleine, umgrenzte, geschützte Raum war zusammen mit meinem Zimmer im fünften Stock einmal mein Lebensraum gewesen. Viele Nächte hatte ich dort unten gesessen, mich mit dem Portiere und den Nachbarn unterhalten, Wein getrunken, Erzählungen aus der Nachbarschaft gehört und Tag für Tag etwas mehr Italienisch gelernt.
Vom ersten Tag an hatte man mich hier gut aufgenommen und nicht wie einen hergelaufenen Fremden, sondern wie einen wirklichen Freund behandelt. Ich hatte mit den Menschen, die hier gelebt hatten, oft zusammen gegessen, ich hatte viel von ihrem Leben erfahren, ja, ich war mit der Zeit eine feste Größe im Reigen ihrer Gespräche und Unterhaltungen geworden. Wie oft war ich an den Abenden beim Betreten dieses Innenhofes erkannt und mit einem ecco, Giovanni, il pianista! begrüßt worden. Sie hatten mich behandelt, als wäre ich nicht ein junger, unerfahrener Pianist, sondern eine Berühmtheit, ja eine Zelebrität von der Art Arturo Benedetti Michelangelis.
Natürlich war es ein Spiel gewesen, ein Stück Komödie, aber wie elegant und abwechslungsreich hatten wir die Szenen dieser Komödie immer wieder gespielt! Und wenn es nötig war, hatten wir daraus etwas Ernstes gemacht, wie etwa in dem Fall meiner Anmeldung für die Prüfung im Conservatorio. Paolo, der Portiere, hatte mich dorthin ins Büro begleitet und später die Aufnahmeanträge für mich ausgefüllt, er hatte sich um alles gekümmert, bis ich das genaue Datum der Prüfung gewusst hatte und alle Formalitäten geregelt waren.
Das Klirren von Geschirr. Der Gesang des Vogels, den man in einem Käfig nach draußen, auf einen Balkon, gestellt hatte. Das blaue Rechteck des Himmels über mir, monochrom wie ein Rechteck von Mondrian.
 
Frühmorgens …, frühmorgens war ich gegen halb sechs aufgestanden und hatte in der Bar, die sich gleich neben dem Hoftor befand, einen Cappuccino und ein Cornetto gefrühstückt. Dann war ich zu Fuß hinab ins historische Zentrum gegangen, durch den großen Park der Villa Borghese bis zur Aussichtsterrasse des Pincio. Ich hatte Goethes römische Wohnung passiert und wenig später die Kirche der deutschen Gemeinde erreicht, um sieben Uhr hatte der Frühgottesdienst begonnen, in dem ich die Chororgel gespielt hatte.
 
Gegen acht Uhr war ich dann ein freier Mensch gewesen, bis zu den frühen Nachmittagsstunden, in denen allen Studenten die Überäume im Conservatorio zur Verfügung standen. Ich hatte drei, vier Stunden geübt, das war mir aber auf die Dauer zu wenig gewesen, so dass ich mich nach einer weiteren Möglichkeit zum Üben umgeschaut hatte. Im Konvent der deutschen Gemeinde hatte ich schließlich einen Flügel entdeckt, es war ein alter Bösendorfer gewesen, auf ihm hatte ich dann manchmal an den Morgenden noch einmal zwei bis drei Stunden geübt.
 
Und? Und was?! Und was noch?! An die wichtigste, stärkste Erinnerung wollte ich einfach nicht denken, obwohl sie es doch gewesen war, die mich gerade im Gespräch mit Antonia so durcheinandergebracht hatte. Clara also …, die Erinnerungen an Clara …
 
Am zweiten Abend meines Aufenthalts war ich unten, in diesem Innenhof, einer jungen Frau begegnet, die mich begrüßt und davon erzählt hatte, dass sie die Nichte von Signora Francesca sei. Sie hatte mich aufgefordert, mit ihr einen Caffè zu trinken, und dann waren wir in die kleine Bar nebenan gegangen und hatten uns zwei, drei Stunden unterhalten.
Clara studierte Geschichte und Italienische Literatur, sie war Südtirolerin wie Signora Francesca auch, wohnte jedoch nicht in der Pension ihrer Tante, weil sie von ihr angeblich noch strenger als eine Tochter behandelt wurde. Deshalb hatte sie sich ein Zimmer in der Nähe genommen, kam die Tante aber alle paar Tage besuchen.
Ich hatte mich mit Clara vom ersten Moment an sehr gut verstanden, wäre aber nie auf die Idee gekommen, sie als etwas anderes als eine gute Freundin zu betrachten. Fast täglich war ich ihr irgendwo in der Nähe dieses Hauses begegnet, und meist hatten wir etwas zusammen getrunken und uns über Rom und die Leute in der Nachbarschaft unterhalten.
 
Ich hatte ihr von meiner Vorliebe für das Kino erzählt, und so waren wir schließlich auch in das kleine Kino am Campo dei Fiori gegangen, in dem es auch viele der älteren Filme aus den sechziger Jahren noch einmal zu sehen gab. Die Kinobesuche waren der Anfang unserer gemeinsamen Unternehmungen gewesen, später waren wir zu Lesungen und Konzerten gegangen, ich hatte Clara davon überzeugen können, sich alle nur erdenkliche Musik anzuhören, ja, ich hatte es so gemacht wie jetzt mit Marietta und war mit ihr in die Jazz-Keller Trasteveres ebenso gegangen wie in die Abend-Vespern von Santa Maria in Domnica.
 
Clara und ich – wir waren beinahe gleich groß, und wenn Menschen, die uns noch nicht kannten, mit uns sprachen, hielten sie uns zwar nicht für Geschwister, wohl aber für Verwandte. Etwas Verwandtschaftliches, ja, das gab es von Anfang an zwischen uns, wir hatten sehr ähnliche Interessen, wir liebten Musik und Literatur, liefen gerne stundenlang durch die Stadt und waren zusammen so ausgelassen, wie es keiner von uns jemals war, wenn er allein durch die Stadt ging.
Ich glaube, wir waren beide von Rom völlig verzaubert, wir sprachen darüber nicht, natürlich nicht, aber ich denke, unsere Begeisterung hatte damit zu tun, dass wir beide in kleinen Schutzzonen und beinahe geschlossenen Räumen aufgewachsen waren, sie in einem kleinen Dorf in Südtirol nahe Brixen, und ich auf einer Insel in Köln und in einer Eremiten-Klause auf einem westerwäldischen Waldgrundstück.
Beide lebten wir zum ersten Mal in einer Stadt weit von unserer Heimat entfernt, wir betrachteten sie als ein Terrain, das wir erobern wollten, wir wollten es besser kennenlernen als jeder Römer es kannte, ja, wir wollten ihm unsere Liebe beweisen, indem wir diesen Stadtkörper tagelang auf der Suche nach den schönsten und entlegensten Plätzen durchstreiften …
Ich hatte Antonia lange genug warten lassen, ich musste wieder hinab. Und so riss ich mich vom Anblick des Innenhofs mit den hohen, grünen Palmen los, betrat den Aufzug und fuhr in die Tiefe. Als ich das Haus verließ, gab mir der Portiere die Hand. Kommen Sie wieder, Signore, sagte er, und ich dachte einen Moment: Ja, warum eigentlich nicht? Warum nicht noch einmal in diesem Innenhof sitzen, um ein Glas Wein zu trinken, warum nicht? Vielleicht kommt noch einer der Nachbarn von früher vorbei und erkennt mich an der Stimme! Vielleicht …, ach nun lass, lass das Vergangene vergangen sein, Antonia wartet auf Dich!
 
Sie saß in dem Restaurant schräg gegenüber nahe der Tür und schaute mich wieder so an, als müsste sie sich Sorgen machen. Es ist alles in Ordnung, sagte ich wieder und musste lachen, als ich ihren misstrauischen Blick sah. Ich setzte mich neben sie, der Kellner kam zu uns, aber wir ließen uns mit der Bestellung noch etwas Zeit, um erst in Ruhe ein Glas Wein trinken zu können.
 
Der Raum um dieses fünfstöckige Wohnhaus schräg gegenüber war einmal so etwas wie meine Heimat, sagte ich, nach einiger Zeit habe ich sogar nicht mehr ausgeschlossen, mein ganzes Leben in Rom zu verbringen. Stell Dir das vor, ich war achtzehn Jahre alt und hatte noch eine sehr enge Bindung an meine Eltern. Ich war ihr einziges Kind, ich war ihr fünfter …, nein, das wollte ich doch jetzt nicht sagen, ich war ihr einziges Kind, und sie hingen in einer geradezu verzehrenden Weise an mir. Und dann reist dieses einzige Kind zum ersten Mal ins Ausland und meldet sich nach drei Tagen von dort mit der Nachricht, ein paar Monate dort bleiben und eine Aufnahmeprüfung am Conservatorio ablegen zu wollen. – Und, hast Du diese Prüfung dann wirklich abgelegt?, fragte Antonia. - Paolo, der frühere Portiere des Hauses schräg gegenüber, hat mir damals geholfen. Gemeinsam mit ihm habe ich die vielen Formulare ausgefüllt und die notwendigen Unterlagen beschafft. Ich hatte zweieinhalb Monate Zeit, mich auf die Prüfung vorzubereiten. Drei Stücke von insgesamt einer Stunde musste ich spielen, es konnten darunter aber auch einzelne Sätze von größeren Kompositionen sein. – Und wie war es, am Tag Deiner Prüfung? Warst Du nervös? – Nein, ich war überhaupt nicht nervös, ich bin vor öffentlichen Auftritten niemals nervös gewesen, das hat damit zu tun, dass ich als Kind …, aber lassen wir das, das tut jetzt nichts zur Sache. Ich bin jedenfalls am frühen Morgen von hier aus mit dem Taxi zum Conservatorio gefahren, Paolo, der Portiere, hatte das Taxi bestellt und mir einen Anzug geliehen.
Ich saß im Fond dieses römischen Taxis, trug einen schwarzen Portiersanzug und dachte: Jetzt geht es um Leben oder Tod! Mein Gott, ich dachte das wirklich, genau so: Es geht um Leben oder Tod! – Aber wenn es doch um Leben oder Tod ging, musst Du doch nervös gewesen sein. – Nein, nervös war ich nicht, ich war vollkommen ruhig, fühlte mich aber eiskalt, Deine Hände sind ja eiskalt, sagte damals Clara zu mir. – Clara? Welche Clara? – Ach, Clara war eine Nichte von Signora Francesca, sie saß damals auch im Taxi und begleitete mich zur Prüfung. – War sie Deine Freundin? – Ja, sie war eine gute Freundin. – Wart Ihr ineinander verliebt? – Nein, wir waren damals wohl nicht ineinander verliebt, wir waren gute Freunde, das war alles. – Und weiter?
 
- Im Conservatorio musste man sich im Büro anmelden, man bekam eine Nummer und anhand der Nummer war dann klar, wann man vorzuspielen hatte. – Weißt Du noch, wann Du vorspielen musstest? – Ich musste um 11.20 Uhr vorspielen, ich weiß es noch genau. – Und was hast Du bis 11.20 Uhr getan? – Ich habe mich von den beiden anderen getrennt und bin hinüber zum Tiber gegangen. Ich habe mich an den Tiber gesetzt und mich zu konzentrieren versucht. Und ich hatte dauernd diesen Satz im Kopf: Es geht um Leben und Tod, ich wurde den Satz einfach nicht los. – Und weiter? Was passierte um 11.20 Uhr?
 
- Ich musste vor dem Konzertsaal des Conservatorio warten, bis ich hereingerufen wurde. An der Querwand saßen die Juroren, viele Juroren, ich konnte gar nicht genau übersehen, wie viele es eigentlich waren. Der Vorsitzende sprach mich an und fragte nach dem ersten Stück, das ich vortragen wollte. Ich sagte ihm, dass ich den ersten Satz der C-Dur-Fantasie von Robert Schumann spielen werde, er nickte, fragte dann aber, wie es um meine Italienisch-Kenntnisse stehe.
Ich antwortete ihm, dass ich erst seit etwas mehr als zwei Monaten in Italien sei und mich seither bemühe, Italienisch zu lernen. Er lächelte und schaute weiter überlegen lächelnd zur Seite, zu den anderen Juroren. Einen Moment dachte ich, dass sie mich wegen meiner schlechten Italienisch-Kenntnisse nicht nehmen könnten, ich hatte damit nicht gerechnet, deshalb fragte ich noch einmal eigens nach, ob meine zugegeben schlechten Italienisch-Kenntnisse der Grund dafür sein könnten, dass ich nicht aufgenommen würde.
Da wurde der Vorsitzende der Jury leicht unwillig und sagte: Wir sind nicht zum Reden hier, sondern um zu hören, wie Sie spielen! Das, ha!, das brauchte er gerade mir nicht zweimal zu sagen, nicht zum Reden, sondern zum Spielen sind wir hier, das hörte ich gern, das war ja geradezu ein Leben lang mein Grundsatz gewesen, mein Leben lang, seit ich als Kind begonnen hatte, das Klavierspiel zu lernen …, aber lassen wir das.
 
Ich setzte mich also an den Flügel und begann zu spielen, doch schon nach wenigen Minuten wurde ich unterbrochen. Bravo, sagte der Vorsitzende, bravissimo, es reicht bereits, Sie spielen erstaunlich! Er fragte mich nach meinen Lehrern, und ich erzählte von Walter Fornemann, den er glücklicherweise kannte. Das Mussorgskij-Buch von Walter Fornemann ist gerade im Italienischen erschienen, sagte er. Ich nickte und lächelte verkrampft, denn ich hatte das Mussorgskij-Buch von Walter Fornemann natürlich noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Als Reizwort und Signal aber passte »Mussorgskij« geradezu ideal, denn eine Komposition von Mussorgskij war zufällig die zweite, die ich spielen wollte.
 
Der Vorsitzende wirkte beinahe betört, als ich das sagte und er sich an die Runde der anderen Juroren wenden konnte: Unser junger Freund spielt jetzt noch etwas von Mussorgskij, aus den »Bildern einer Ausstellung«. Ich legte wieder los, und wieder unterbrach er mich nach wenigen Minuten. Es ist gut, sagte er, Sie brauchen nicht weiterzuspielen. Wir nehmen Sie auf, ich brauche meine verehrten Kollegen gar nicht weiter zu fragen, ob sie einverstanden sind, wir nehmen Sie auf.
Ich dankte ihm und verbeugte mich. Da sagte er noch: Was ist das für ein Totengräber-Anzug, den Sie da tragen? Ich antwortete, es sei der Anzug eines Portiere. Da aber begannen alle zu lachen, der ganze Kreis der Juroren lachte plötzlich, und auch ich musste lachen. Machen Sie sich einen schönen Tag, junger Freund, sagte der Vorsitzende, reckte sich dann aber noch einmal vor: Einen Moment noch, ziehen Sie Ihre Anzugjacke aus, legen Sie die Jacke zur Seite und geben Sie noch eine Zugabe, spielen Sie zum Abschluss noch ein Etude von Chopin.
 
In dem Augenblick, als er das sagte, drohte noch einmal alles zu kippen. Ich spürte es genau, ich hatte plötzlich ein mulmiges, dumpfes Gefühl: Jetzt kippt doch noch alles, dachte ich, jetzt wird Dir Chopin zum Verhängnis. – Aber wieso denn?, fragte Antonia, warum hätte Dir ausgerechnet Chopin zum Verhängnis werden können? – Weil ich seit der Kindheit ausgerechnet mit Chopin nicht zurechtkam, antwortete ich, weil … Chopin und ich keine gute Verbindung ergaben. – Und wie hast Du das Problem dann gelöst? – Indem ich darum bat, etwas anderes spielen zu dürfen, ja, ich bat darum, ein Stück aus dem Zweiten Teil der »Années de pelèrinage« von Franz Liszt spielen zu dürfen. Ecco!, sagte der Vorsitzende, sehr erstaunt, ja, genau, ich glaube ihn noch zu hören, wie er dieses Ecco! sagt und mich dann fragt, ob ich ein Stück aus dem Zweiten Teil der »Années de Pelèrinage« spielen wolle, weil dieser Zweite Teil von Liszts Komposition eine Hommage an Italien sei. Genau deshalb möchte ich dieses Stück spielen, antwortete ich. Also ebenfalls als eine Hommage an Italien?, fragte der Vorsitzende, und ich antwortete, als eine Annäherung an Italien …
 
Danach gab er auf und sagte nichts mehr, er erhob sich, kam hinüber zu meinem Flügel und stellte sich neben mich. Er legte mir die Hand auf die rechte Schulter und sagte zu seinen Kollegen: Unser junger deutscher Freund spielt uns zuliebe jetzt einen Teil aus den Italien-Partien der »Années de pelèrinage«. Es war ein feierlicher, großer Moment, denn nachdem er das gesagt hatte, stand plötzlich die gesamte Jury auf, als hätte ich angekündigt, die italienische Nationalhymne zu spielen.
Vorsichtshalber behielt ich die Anzugjacke an, setzte mich wieder und spielte fast eine halbe Stunde aus den »Années de pelèrinage«. Danach gab es großen Beifall, und jeder der Juroren reichte mir die Hand. Ich war aufgenommen, ich hatte es geschafft.
 
- Und wie war es danach? Was passierte in den Minuten danach? – Ich verließ den Konzertsaal, ging eine breite Treppe hinab und stand dann einen Moment allein im Treppenhaus des Conservatorio. Mir war etwas schwindlig, ich klammerte mich an das Geländer und schaute durch die ovalen Fensterluken nach draußen. Dort draußen war aber nichts als eine Flucht ziehender Wolken zu sehen, es waren leicht gelblich getönte Wolken vor einem matten, hellblauen Grund. Als ich diese eilig ziehenden Wolken sah, dachte ich plötzlich, dass sie so etwas wie mein Glück und mein Leben symbolisierten, ja, ich brachte diese Wolken wirklich mit meinem Leben in Verbindung. Ich hatte das Gefühl, mir könne nie mehr etwas Schlimmes passieren, ja ich glaubte wirklich, ich sei für immer gerettet.
- Aber was hätte Dir denn passieren können? Und wovor fühltest Du Dich gerettet? – Mir passieren?! Was mir hätte passieren können? Na, das ist doch klar, ich hätte, ich hätte …, wenn ich diese Prüfung nicht bestanden hätte …, wenn das schief gegangen wäre …, ich …, nein, Antonia, lassen wir das, diese Überlegungen führen zurück bis in meine Kindheit, ich möchte aber nicht von meiner Kindheit erzählen, nicht heute, nicht hier.
- Du machst immer wieder einen Bogen um Deine Kindheit, was war denn mit Deiner Kindheit? – Ich mache heute Abend einen Bogen um meine Kindheit, Antonia, da hast Du recht. Ich habe aber in den letzten Monaten durchaus keinen Bogen um meine Kindheit gemacht, ich habe vielmehr nichts anderes getan, als mir diese Kindheit zu vergegenwärtigen und von ihr zu erzählen. – Dein Buch handelt von Deiner Kindheit? – Ja, von meiner Kindheit und den ersten beiden Jahrzehnten meines Lebens. – Du möchtest jetzt nicht darauf angesprochen werden, habe ich recht? – Ich werde Dir, wenn Du magst, davon erzählen, aber hier und heute möchte ich von etwas anderem sprechen. – Von der Leichtigkeit, in Rom zu leben und zu bestehen? – Genau, von der Leichtigkeit, in Rom anzukommen und sich in dieser Stadt einzuleben! Glaubst Du mir jetzt, dass es in Rom so etwas wie Leichtigkeit gibt?
- Ich glaube, dass Du Glück gehabt hast, Johannes! Du hast ein geradezu unverschämtes Glück gehabt: Am ersten Tag Deines Aufenthalts hast Du eine Wohnung, eine Gönnerin und Freunde gefunden, und zwei Monate später ist ein Lebenstraum von Dir in Erfüllung gegangen. Und wenn Du mir jetzt noch sagst, dass Du Dich später in Clara verliebt hast und sie sich am Ende auch noch in Dich, dann zweifle ich an der himmlischen Gerechtigkeit.
- Es war aber himmlische Gerechtigkeit, sagte ich, es war nichts anderes als himmlische Gerechtigkeit. – Was meinst Du damit, Johannes? – Dass ich plötzlich so viel Glück hatte und dass alles so leicht gelang, das, Antonia, war himmlische Gerechtigkeit, Du ahnst gar nicht, wie viel himmlische Gerechtigkeit da im Spiel war. – Ich verstehe Dich nicht, Johannes, warum beharrst Du so darauf? – Ich erkläre es Dir später einmal, Antonia, hier und jetzt aber nicht. – Du bist ein Geheimniskrämer.
- Nein, das bin ich nicht. – Dann sag mir aber wenigstens noch, ob Clara und Du …, ob ihr in Rom wirklich ein Paar geworden seid. – Ob Clara und ich? Clara und ich – ja, wir sind in Rom noch ein Paar geworden, damals, als ich …, ach, lassen wir das.
Es war mir etwas peinlich, davon nicht erzählen zu können, aber ich bemerkte, dass ich bisher noch niemandem davon erzählt hatte, wie Clara und ich ein Paar geworden waren. Hier in Rom hatten alle nach einer Weile gewusst, dass wir ein Paar geworden waren, aber in Deutschland habe ich später keinem einzigen Menschen von Clara erzählt, meinen Eltern nicht und meinen wenigen Freunden und Bekannten sowieso nicht. Clara war meine römische Freundin gewesen, ja, das war sie gewesen, aber sie war einzig und allein das und nichts anderes gewesen, sie war keine Figur für eine Geschichte oder eine Erzählung, nein, das war sie eben nicht gewesen.
 
Einen Moment spürte ich eine seltsame Hitze und Erregtheit, deshalb ging ich hinaus auf die Toilette, um etwas Wasser zu trinken. Ich drehte den Wasserhahn auf und ließ das Wasser in meine hohle, rechte Hand laufen, dann trank ich, mehrmals, immer wieder, um mir danach mit etwas Wasser durch das Gesicht zu fahren. Dann ging ich zurück.
 
Ich lade Dich jetzt zum Essen ein, sagte Antonia, ist es Dir recht, wenn ich die Bestellung übernehme? – Natürlich ist es mir recht, antwortete ich, ich freue mich und bin gespannt. Antonia rührte aber die Speisekarte nicht an, sondern gab nur dem Kellner ein Zeichen. Sie bestellte antipasti, ausschließlich Gemüse, danach sollte es Fisch geben, die Weinbestellung übernahm sie gleich mit. Ich habe noch nie mit einer Frau zusammen gegessen, die nicht nur das Essen, sondern auch gleich den Wein bestellt hat, sagte ich. – Wir feiern, dass Du diesmal nicht mehr nach Deutschland zurückfährst, so wie damals, sagte Antonia. – Was sagst Du da?, fragte ich und erstarrte. – Wir feiern, dass Du diesmal in Rom bleibst, sagte Antonia, genau das feiern wir, hier und jetzt.
 
Ich schaute auf, hier und jetzt, richtig, wir befanden uns …- ja, wo eigentlich? Wir befanden uns in einem Hier und Jetzt. War dieses Hier und Jetzt das Hier und Jetzt meiner Erzählung, oder war es das Hier und Jetzt meines Lebens? Ich bin etwas durcheinander, Antonia, sagte ich, ich bin mit diesem Hier und Jetzt durcheinandergeraten. – Das macht nichts, sagte Antonia, dann erklären wir das Hier und Jetzt einfach zu meinem Hier und Jetzt. Ich nämlich sitze hier, neben Dir, hier und jetzt, ich bin ab hier und jetzt Deine, wenn ich richtig rechne, zweite römische Freundin. Das bin ich doch? Sag, bin ich das? – Ja, sagte ich, das bist Du auf jeden Fall, da gibt es kein Durcheinander, Du bist meine zweite römische Freundin …
 
Jetzt, ja. Ich verlasse jetzt das Conservatorio, ich schaue auf die Uhr, es ist 12.30 Uhr. Draußen, in der Bar gegenüber, warten Paolo und Clara auf mich. Als ich die Bar betrete, stehen sie an der Theke und trinken beide ein Glas Mineralwasser. Ich blicke auf dieses Mineralwasser, gehe auf sie zu und sage: Ihr trinkt Mineralwasser? Wir trinken jetzt einen Spumante!
 
In diesem Moment wissen sie, dass ich es geschafft habe. Ich aber stehe herum und fühle mich so erschöpft und schwach wie seit Langem nicht mehr. Aber da ist Paolo, und Paolo umarmt mich länger als eine Minute, wischt sich unbeholfen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln und sagt, dass er im Stillen für mich gebetet habe. Und da ist natürlich auch Clara, die zu mir kommt, meinen Kopf in beide Hände nimmt und mir einen Kuss gibt. Sie küsst mich aber nicht wie sonst, flüchtig und eher nebenbei auf die Wange, nein, Clara steht mir gegenüber, hält meinen Kopf und küsst mich auf den Mund.
 
Plötzlich ist alles ganz anders als zuvor. Es ist, als wäre dieser Kuss das Signal für unsere Liebe, ja, wahrhaftig, genau so empfinde ich es in diesem Moment, und genau so habe ich es später immer wieder empfunden. Ich stehe in der kleinen Bar, umarme Clara und denke, als wäre mir gerade blitzartig diese Erkenntnis gekommen: Ich bin verliebt, zum ersten Mal in meinem Leben bin ich verliebt! Eine winzige Drehung in unserer Freundschaft hat bewirkt, dass ich verliebt bin, eine kleine, winzige Drehung oder Umschichtung oder Potenzierung unserer Gefühle hat meine Verliebtheit bewirkt. Von einer Sekunde auf die andere ist es geschehen, in einem seltenen, glücklichen Moment, in einem Moment, in dem wir uns so berühren und so zusammenfinden, wie wir uns zuvor vielleicht immer hatten berühren wollen.
 
Ich bin aber nicht allein mit diesem Gefühl, nein, ich schaue Clara an, und ich sehe genau, dass sie in diesem seltenen, einzigartigen Moment dasselbe empfindet. Ich erkenne es an ihrem Strahlen, ich erkenne es daran, dass sie kein Wort sagt, mich anstrahlt und nicht aufhören kann, mich zu küssen. Immer wieder von Neuem fliegen unsere Münder aufeinander zu, immer wieder suchen sie die Berührung, es hört gar nicht auf, nein, wir können nicht aufhören, es ist, als hätte uns eine seltsame Sucht befallen, heftig und gewaltig. Wir nehmen die Umgebung nicht mehr wahr, wir sind völlig vernarrt in dieses unermüdliche Küssen und Einander-Berühren, die Empfindung ist so stark und so erotisierend, dass es beinahe nicht zum Aushalten ist.
Am liebsten würde ich mich sogar auf der Stelle entkleiden, und am liebsten würde ich Clara entkleiden, dieser plötzliche, irre Gedanke steckt von diesem Moment an in meinem Kopf. Dazustehen und sich zu küssen, das genügt einfach nicht mehr, vor allem genügt es aber nicht, sich in dieser viel zu kleinen und engen Bar zu küssen, und vor allem geht es nicht an, sich in Paolos Nähe zu küssen, denn Paolo weiß natürlich längst nicht mehr, wohin er noch schauen soll, um den Anblick der beiden sich Küssenden zu vermeiden.
 
Letztlich ist Paolos Anwesenheit aber der Grund dafür, dass Clara und ich den Absprung schaffen, denn Paolo hat inzwischen eine Flasche Spumante und dazu mehrere Gläser bestellt, und dann trinken wir nicht nur zu dritt, sondern laden auch noch die anderen Anwesenden ein, mit uns ein Glas Spumante zu leeren. Auch während wir trinken, können wir aber nicht voneinander lassen, nein, Clara und ich, wir halten uns weiter an den Händen, und als die Gläser leer sind, rücken wir noch enger zusammen und küssen uns wieder, denn es hat uns so gepackt, dass wir gar nicht mehr anders können.
Paolo macht sich dann zurück auf den Heimweg, wir aber denken nicht daran, jetzt zurück in die Via Bergamo zu gehen, wir wissen nicht, was wir als Nächstes tun werden, wir spüren nur, dass wir jetzt nicht mehr unserem Verstand gehorchen, sondern alle Vernunft abgegeben haben an unsere Körper, die völlig selbständig ticken und nichts anderes begehren als eine möglichst ununterbrochene, intensive, ja gar nicht mehr aufhörende Nähe.
 
Wir verlassen die Bar und stehen im hellsten römischen Mittagslicht, ich frage Clara, ob ich sie zum Essen einladen solle, aber wir wissen beide, dass das nicht das Richtige ist, nein, wir passen doch jetzt nicht an einen Mittagstisch, wir haben ja gar nicht die Geduld für ein Mittagessen und für ein ruhiges Sitzen und für all diesen zivilisierten Genuss, im Grunde wollen wir nichts anderes als uns bewegen, unterwegs sein, Hand in Hand durch die römischen Straßen oder besser noch durch die römischen Parks laufen, wir wollen unterwegs sein, um einen Platz für uns beide zu finden, wir suchen einen abgelegenen Platz, wo wir allein sind und jedem Anblick entgehen, das genau suchen wir jetzt.
Zum Glück aber hat Clara die gute Idee, etwas gegen unseren Hunger und gegen den Durst zu tun, deshalb fallen wir vor unserer Suche noch in einem Lebensmittelgeschäft in einer Seitenstraße des mächtigen Corso ein, es gibt dort alles, was wir brauchen, etwas Brot, Mortadella und Käse, Mineralwasser und Weißwein, das passt alles in eine leichte, handliche Busta, vielen Dank für die Busta, sage ich auf Italienisch zu dem Händler, weil mir das Wort busta so gut gefällt, denn busta ist natürlich schöner als Tasche oder gar Tüte.
Mit der gefüllten Busta in der linken und Clara an der rechten Hand steige ich dann hinauf zur Aussichtsterrasse des Pincio, dort oben beginnt das grüne Parkgelände der Villa Borghese, wir schlüpfen hinein in das schattige Grün der großen Steineichen, Zypressen und Pinien, die Stadtgeräusche treten allmählich zurück, das schrille Zirpen der Grillen beginnt in den Zonen des von der Sonne strohblond gebleichten Grases, wir sind unterwegs, bleiben aber zwischendurch immer wieder lange stehen, um uns zu küssen, einmal kollert die Busta während dieser Küsse einen kleinen Hang hinunter und die Lebensmittel verstreuen sich an seinem Auslauf zu einem pittoresken hellgrünen Bild wie von Warhol.
 
Zum Glück ist es so heiß, dass kaum Spaziergänger unterwegs sind, jetzt, in den Stunden zwischen 13 und 17 Uhr, döst die Ewige Stadt vor sich hin und hält ihre Bewohner unter Tausenden von Ventilatoren gefangen, Paolo hat gesagt, der Mittagsschlaf sei der eigentliche römische Tiefschlaf, nachts dagegen schliefen die Römer nicht tief, sondern eher nervös, in steter Erwartung des frühen Morgenlichts. Clara und ich, wir suchen aber nicht wirklich nach einem Ort, wo uns niemand beobachten kann, wir bewegen uns vielmehr weiter, obwohl es solche Orte für das Alleinsein doch überall gibt.
Ich weiß aber genau, warum wir noch nicht haltmachen, wir fliehen noch ein wenig vor dem, was ganz unausweichlich geschehen wird, wir laufen gegen unseren eigentlichen Willen noch etwas davon. Keiner von uns beiden sagt noch etwas, aber ununterbrochen rotiert in unseren Köpfen jetzt eine kleine Phantasie- und Erwartungs-Maschine: Wie wird das sein, vor dem wir davonlaufen? Was genau wird jetzt geschehen?
 
Dann aber sind wir so erschöpft, dass es nicht mehr weiter geht, wir machen im dunklen Schatten von Steineichen halt und tun dann noch einen Moment so, als wollten wir wirklich die Lebensmittel Stück für Stück aus der Busta auspacken. Clara beginnt jedenfalls damit, aber es wird mir zu viel, mein Gott, ich habe nicht den geringsten Hunger, nein, und dann gebe ich Clara das erwartete Zeichen, indem ich mit der Hand kurz über ihren Rücken streiche, so dass sie sich sofort zu mir umwendet und wir uns wieder zu küssen beginnen, immer wieder von Neuem, aber jetzt in dieser schattigen, kühlenden Glocke des kleinen Wäldchens, wo wir den weichen, duftenden Boden ganz für uns haben.
 
Mit diesen erneuten Küssen ist aber alles vergessen, was sich gerade ereignet hat, unser Einkauf, unser Weg, alles ist ausradiert und bereits aus dem Gedächtnis getilgt, was wir jetzt wahrnehmen ist nichts als die unglaublich erleichternde Anknüpfung an unsere Küsse in der Bar nahe dem Conservatorio. In all unseren Bewegungen ist diese Erleichterung, wir denken jetzt an nichts anderes mehr, wir überlassen uns ganz diesem Empfinden, dem Gefühl, dass die Körper alles von selbst wissen, alles von allein, ja, die Körper haben ein geradezu phantastisches Repertoire an kleinen Gesten und Annäherungen, das mit dem teilweisen Entkleiden beginnt, mit dem Ausziehen meines weißen, gestärkten Hemdes und mit dem raschen Über-den-Kopf-Streifen des roten Shirts, das Clara trägt. Die Nacktheit unserer Oberkörper verschwindet aber im Schatten der Bäume, sie wirkt nicht auffällig oder fremd, nein, ganz im Gegenteil, die Nacktheit der leicht gebräunten, aber noch nicht dunklen Haut wirkt wie genau die richtige, passende Ergänzung zum dunklen Steineichengrün, ich bekomme diese Harmonie gerade noch mit, es schaut aus wie ein Farbspiel auf einem impressionistischen Picknick im Grünen, dann aber sehe ich nichts mehr von all diesen Spielereien, denn ich spüre nur noch, wie die beiden nackten Oberkörper unter der gegenseitigen Berührung einen Moment erschauern und sich dann kaum noch bewegen, es ist der pure Genuss, die Urform des Genusses, denke ich noch, alle anderen Genüsse leiten sich her von diesem hinreißend schönen Erleben, dem Erleben der totalen Berührung eines anderen nackten Körpers, dem Erleben dieses Schocks, der Erstarrung, dem Einatmen und Einsaugen des Fremden, das so erleichternd nah und vertraut ist, ja, absolut fremd und absolut nah, beides zusammen in ein und demselben Moment.
 
Ich glaube, wir haben unendlich lange Zeit so beisammen gelegen, die Oberkörper dicht aneinander geschmiegt, nur noch vertieft in Orgien von Küssen, ja, wir haben das alles sehr lange genossen, bis wir nahe genug an der Klippe standen, sehr nahe, kurz vor dem Absprung, und als es denn so weit war, haben wir es in Windeseile beinahe zugleich geschafft, auch die anderen Kleidungsstücke noch loszuwerden, weg damit, und sofort spürten wir, dass jetzt die Erfüllung unserer lange gehegten Erwartung begann, das vollkommene Ineins der beiden Körper, so selbstverständlich leicht und so schön, als wären sie nur dafür bestimmt.
 
Genau das aber dachte ich wirklich, eigentlich ist der Körper nur dafür bestimmt, dachte ich und war in diesem Moment über die Maßen glücklich, dass ich so etwas erfahren und herausbekommen hatte. Ich, ausgerechnet ich, der ich nie daran geglaubt oder gar darauf gehofft hatte, so etwas wie Die Liebe einmal zu erleben, ich erlebte das alles jetzt, und ich erlebte es als eine Sensation, ja, genau als das erlebte ich es, ich erlebte Die Liebe wie ein Ereignis, mit dem ich nie gerechnet hatte und das ich mir nie hätte ausmalen können. Als unerwartetes, ja geradezu blitzhaft eingetretenes Ereignis überstieg es meine Vorstellungen und Gedanken. Nicht einmal daran zu denken, hatte ich ja bisher gewagt, und es war gut gewesen, dass ich daran erst gar nicht gedacht hatte, denn ich hätte meine Zeit nur mit unsinnigen Grübeleien verschwendet, nichts geahnt oder erspürt. Die Liebe als Erlebnis ließ alles hinter sich, was ich mir hätte träumen können …
 
All diese Empfindungen erschienen mir aber wie ein rasanter Traum von nur ein paar Sekunden, während ich neben Antonia ein Glas Weißwein aus den Castelli Romani leerte, eine winzige, flüchtige Berührung von Antonias Seite hatte zu meinen Träumereien geführt, eine Berührung, die von ihrem nackten Unterarm nach jenem Moment ausgegangen war, als sie ihre Jacke abgestreift und mir übergeben hatte, damit ich sie über ihre Stuhllehne hängte.
Genau das tat ich, doch als ich mit dem eigenen nackten Unterarm eine Bewegung von dieser Lehne zurück an den eigenen Platz machte, streiften sich unsere Arme zufällig. Es war wirklich nur eine sehr flüchtige, momentane Berührung von einigen Zehntelsekunden, doch diese Berührung genügte, um den rasanten Traum auszulösen, denn plötzlich spürte ich die alte, vertraute Empfindung, eine Mischung aus starker Wollust und verhaltener, noch kontrollierter Gier, eine starke Sehnsucht, ein extremes Verlangen.
 
Ich wusste nicht, ob es Antonia ähnlich erging, ich sagte jedenfalls nichts, war aber erstaunt, dass sie mich nach einem kurzen, stummen Moment plötzlich fragte, ob ich wirklich Liebesromane schriebe. Wie kommst Du denn darauf?, fragte ich, und sie antwortete, sie habe sich in der Buchhandlung im Parterre unseres Wohnhauses nach den Büchern, die ich bisher geschrieben hätte, erkundigt. Zuletzt hätte ich anscheinend ausschließlich Liebesromane geschrieben, zwei oder sogar drei hintereinander. Warum schreibst Du Liebesromane? Wie bist Du darauf gekommen? Du hast doch in all den Jahrzehnten vorher anscheinend keinen einzigen Liebesroman geschrieben!
Ich sagte, dass ich darauf auch keine mich selber ganz befriedigende Antwort hätte, denn schließlich hätte ich mir überhaupt nicht vorgenommen, einen Liebesroman nach dem andern zu schreiben. Es sei vielmehr einfach geschehen, und zwar mit einer Dringlichkeit, als wäre es für mich geradezu notwendig, diese Romane zu schreiben. Und es gibt keine bestimmten Ereignisse, die das Schreiben solcher Romane ausgelöst haben?, fragte sie. – Ah, jetzt ahne ich, warum Du mich so etwas fragst, sagte ich, Du vermutest vielleicht, ich hätte mich wirklich verliebt oder ich hätte gerade Erlebnisse hinter mir, die dieses Thema berühren. Das ist aber nicht der Fall, nein, das stimmt nicht, Gott sei Dank stimmt es nicht, denn wenn es so wäre, wäre das ja nur peinlich. – Aber was war es dann? – Ich habe eine einzige, vage Vermutung, antwortete ich, und diese Vermutung hat mit meinem Aufbruch nach Rom zu tun. Seit mehreren Jahren habe ich nämlich bereits daran gedacht, mir eine Wohnung in Rom zu nehmen und hier in Rom am Roman meiner Kindheit und Jugend zu schreiben. Das Ganze war wie eine fixe Idee, ich war von dieser Idee besessen, immer wieder dachte ich daran, dass ich nach Rom reisen sollte, um endlich mit diesem Roman zu beginnen. – Und in dieser Zeit hast Du die Liebesromane geschrieben? – Ja, und in all diesen Jahren der Sehnsucht nach Rom habe ich einen Liebesroman nach dem andern geschrieben.
 
Ich hatte über diese Zusammenhänge bisher nur im Stillen und sehr vorläufig nachgedacht, jetzt aber, als ich offen über sie sprach, erschienen sie mir plötzlich nicht mehr so vage, sondern durchaus überzeugend, ja sogar gut begründet. Mit dem Schreiben der Liebesromane hatte ich mich Rom genähert, mit diesem Schreiben hatte ich die jahrzehntelang unterdrückte Erinnerung an die bisher einzige, große Liebe, die ich erlebt hatte, angelockt und genährt.
Jetzt, wo ich mit Dir darüber rede, finde ich meine Vermutung überzeugend, sagte ich zu Antonia. – Stimmt, antwortete sie, ich finde sie auch überzeugend, ja, ich finde sie zwar etwas seltsam und merkwürdig, aber durchaus überzeugend. Vielleicht finde ich sie aber auch bloß überzeugend, weil ich froh bin, dass Du nicht wirklich verliebt warst. – Ich verliebe mich nicht leicht, sagte ich, ich habe mich nur sehr selten in meinem Leben verliebt. – Und der Sex?, fragte Antonia, wie lief es denn mit dem Sex, wenn Du nur selten verliebt warst? – Ich mag das Wort Sex nicht, antwortete ich, ich finde, das Wort bezeichnet nur etwas Abstraktes, aber kein eigentliches Begehren. – Ah ja, und dieses eigentliche Begehren, wie Du es nennst, gibt es nur in Verbindung mit Liebe? – Aber nein, keineswegs, das Begehren gibt es latent ununterbrochen, es wird bloß nicht laufend geweckt. – Es gibt ein latentes, ununterbrochenes Begehren? – Aber ja. – Und dieses Begehren ist einfach da und richtet sich auf die gesamte Umgebung? – Ja, auf die gesamte Umgebung. Das latente Begehren wählt unablässig aus, wovon es jeweils mehr will: von diesem Wein, von den Artischocken dort drüben, von der Farbe Blau, von einem Dreiklang in cis-Moll oder von Deinem Unterarm, der meinen Unterarm eben gestreift hat. – Mein Unterarm hat Deinen Unterarm eben so gestreift, dass Du diese Berührung als ein Begehren erlebt hast? – Genau so. – Und jetzt ist dieses Begehren bereits wieder vorbei? – Aber nein, es ist nicht vorbei, sondern nur gespeichert, es kann jederzeit neu aufgeladen und intensiviert werden. – Und das hat mit Liebe zu tun? – Nein, mit Liebe hat es noch nichts zu tun, es kann aber damit zu tun bekommen. – Und wie kann es das? – Wenn sich das Begehren an irgendeinem Punkt kristallisiert, wenn es umkippt in Verliebtheit. – Und wie kommt es dazu? – Frag nicht so scheinheilig, liebe Antonia, Verliebtheit entsteht einfach von selbst, sie ist plötzlich da, wie eine Aufladung der Atmosphäre, wie ein Blitz. – Ach ja?, ganz leicht, wie von selbst entsteht die Verliebtheit?, jetzt verstehe ich, Verliebtheit ist in Deinen Augen wohl etwas durch und durch Römisches. – Im übertragenen Sinne ja, Verliebtheit ist eine römische Krankheit, eine Ekstase. – Das klingt interessant, mein lieber Johannes, Du solltest ein Buch darüber schreiben. – Ein Buch? Wie kommst Du denn darauf? – Du solltest ein Buch über die römische Ekstase schreiben. – Du wirst Dich wundern, Antonia, aber ich habe daran auch schon gedacht.
 
Ich nippte an dem kräftigen, guten Weißwein aus den Castelli Romani und beobachtete, wie versunken Antonia plötzlich neben mir saß. Sie spielte mit einem Serviettenring, sie schob ihn hin und her, drehte ihn, tippte ihn an und ließ ihn ein kleines Stück über den Tisch rollen. Dann aber hielt sie plötzlich inne, als hätte sie bemerkt, dass ich sie beobachtete. Sie drehte den Kopf zu mir, und als sie sah, dass ich sie wirklich anschaute, lachte sie und fragte: Sag mal, wirst Du noch weitere Liebesromane schreiben? Oder ist es jetzt, wo Du in Rom lebst, damit vorbei? – Ich sage dazu nichts mehr, antwortete ich, ich kann dazu einfach nichts Weiteres sagen. Würde ich nämlich jetzt viel darüber reden und nachdenken, würde ich mir jede Chance verbauen, noch einmal spontan so etwas zu schreiben. – Entschuldige, sagte Antonia, ich bin wirklich zu neugierig. – Schon gut, sagte ich, wir unterhalten uns vielleicht später noch einmal darüber, aber jetzt lass uns essen, ich freue mich jetzt auf das Essen.