Eve
Lieber Charlie,
zunächst möchte ich einmal klarstellen, dass es nicht meine Idee war, diesen Brief zu schreiben. Natürlich wirst du ihn nie zu lesen kriegen, hauptsächlich deshalb, weil ich ihn nicht abschicken werde, aber darum geht es nicht. Du sollst nur von Anfang an wissen, dass die Briefeschreiberei der Einfall meiner Therapeutin war, nicht meiner. Sie heißt Mary und ist sicher, dass ich noch viele unverarbeitete Probleme wegen unserer Trennung mit mir herumschleppe, obwohl ich dachte, ich wäre über dich hinweg. Ihrer professionellen Ansicht nach werden sich diese Probleme maßgeblich bessern, wenn ich zu Papier und Stift greife und meine innersten Gedanken und Gefühle ausdrücke. Eigentlich war ich anfangs gegen dieses Vorhaben – der bloße Gedanke daran, dass du die Briefe lesen könntest, ließ mich erschaudern –, doch ich habe es mir anders überlegt, als Mary mir erklärte, dass ich sie nicht tatsächlich abschicken muss. Ich könne sie einfach sammeln und irgendwann ein großes Feuer damit anzünden, wenn meine geistige Gesundheit wiederhergestellt sei. Mary meint zwar, das könne noch eine Weile dauern, aber ich versuche, optimistisch zu bleiben.
In den zwei Jahren, seit du gegangen bist, hat sich viel verändert. Inzwischen arbeite ich von zu Hause aus, was toll ist, weil ich mir die Fahrerei spare und den ganzen Tag im Pyjama verbringen kann, wenn mir danach ist. Die Geschäfte laufen gut, und ich habe eine Menge zu tun. Manchmal habe ich so viele Aufträge, dass ich mit dem Schreiben kaum noch nachkomme. Anna findet, ich sollte mehr vor die Tür gehen. Sie sagt, es sei unnatürlich, ständig nur drinnen und am Computer zu sitzen. In letzter Zeit verspottet sie mich sogar als Einsiedlerin. Aber dass ich keine sozialen Kontakte habe, bedeutet nicht, dass ich unglücklich wäre. Tom und ich machen es uns gemütlich. Nun, ich bin es, die etwas macht, während Tom nur auf dem Fensterbrett liegt, sich die Eier leckt und ein mieses Gesicht zieht. Er streift nicht mehr so viel umher und hat sogar aufgehört, tote Mäuse ins Haus zu schleppen und sie mir mitten auf den Frühstückstisch zu knallen. Mum sagt, als du gegangen bist, hat er den Lebenswillen verloren. Doch ich habe ihr erklärt, dass er einfach nur älter und vernünftiger geworden ist und keine Lust mehr hat, Nagetiere zu jagen, wenn er sich stattdessen in der Sonne aalen kann. Natürlich stimmt das nicht ganz – anfangs hat er dich wirklich vermisst. Wochenlang hat er mich total ignoriert und sich jedes Mal weggedreht, wenn ich ihn mit Köpfchenkraulen aus seinem Schmollwinkel locken wollte. Es war, als gäbe er mir die Schuld daran, dass du gegangen bist. Irgendwann hat er sich dann daran gewöhnt, und ich glaube, er hat dich inzwischen vergessen.
Genauso wie ich. Nun, zumindest beinahe. Ich hatte fast aufgehört, jeden Tag an dich zu denken. Es war mir gelungen, dir nur jeden zweiten Tag Zutritt zu meinem Kopf zu gewähren, was schon ein Fortschritt war. Manchmal, wenn ich wirklich Glück hatte, konnte ich dich drei ganze Tage aus meinen Gedanken verbannen. Ich war so richtig stolz auf mich.
Also verlief, wie du siehst, mein Leben in geregelten Bahnen. Ruhig zwar, jedoch angenehm. Aber dann habe ich zufällig dein Hochzeitsfoto gesehen, und alles brach in sich zusammen.
Es geschah im Supermarkt. Ich stand in der Schlange und wartete darauf, die Einkäufe in meinem Korb zu bezahlen, als ich die neueste Ausgabe von Hiya! bemerkte. Eigentlich wollte ich sie nicht kaufen. Ich blätterte nur darin herum, um mir die Zeit zu vertreiben. Schließlich war mir klar, dass ich noch eine Ewigkeit in dieser Schlange würde verbringen müssen, denn die Kassiererin hatte nun schon den vierten Versuch unternommen, die Dose Bohnen des Kunden vor mir einzuscannen. Allerdings störte mich das nicht. Es hat mir Spaß gemacht, die Fotos der bräunungscremepräparierten Promis mit den sehr weißen Zähnen und den ultrakurzen Kleidchen zu betrachten, die mir aus den Seiten entgegengrinsten. Es war wirklich unterhaltsam. Insbesondere die Nahaufnahmen, auf denen man die Bräunungscremestreifen an den Fingerknöcheln oder die abgeblätterten Nagellackstellen sah, wo der Strassstein abgefallen war.
Doch im nächsten Moment – ich kicherte noch über einen alten Kerl mit junger Geliebten – hatte ich auf Seite 47 plötzlich dein Konterfei vor mir. Du hattest den Arm um eine hinreißende Blondine in einem Designer-Hochzeitskleid gelegt. Plötzlich fühlte ich mich sehr sonderbar. Ganz schummerig und schwindelig, als würde ich gleich ohnmächtig werden. Ich weiß nicht, ob es der Schock war, dich und eine andere Frau so selbstzufrieden, glücklich und verliebt zu sehen, oder ob es an deinem Frack lag (der dir übrigens nicht unbedingt stand. Du hast darin gewirkt, als würdest du gleich einen guten Sauvignon Blanc servieren oder eine Platte mit Appetithäppchen herumreichen). Jedenfalls wurde mir ganz komisch. An das, was dann geschah, erinnere ich mich nur noch undeutlich. Doch offenbar habe ich die Zeitschrift auf den Boden geworfen, angefangen, auf deinem Kopf herumzutrampeln, dabei mit meiner Einkaufstasche um mich geschlagen und die Kassiererin an der Wange getroffen – bin beinahe sicher, dass es ein Versehen war. Ich weiß noch dunkel, dass ein Security-Mann versuchte, mich zu beruhigen (gut, er hat mich mehr oder weniger in den Schwitzkasten genommen und gedroht, mich mit Handschellen an die Süßigkeitentheke zu ketten). An den Rest erinnere ich mich nur dunkel. Allerdings hat die Überwachungskamera des Ladens die ganze Szene aufgenommen. Mein Anwalt sagt, dass ich bald Gelegenheit haben werde, sie mir anzuschauen.
Jedenfalls steht eines fest: In diesem Moment waren sämtliche Fortschritte, die ich seit deinem Verschwinden gemacht habe, Geschichte. Ständig musste ich daran denken, wie glücklich du auf dem Foto mit deiner neuen Frau aussiehst und warum es mit uns so übel den Bach runtergegangen ist. Und ehe ich wusste, wie mir geschah, habe ich wieder angefangen, die Fugen zwischen den Fliesen im Bad zu schrubben und die Putzmittel in alphabetischer Reihenfolge einzuräumen, und so etwas tue ich nur, wenn ich wirklich unter Stress stehe.
Von Anna kam dann der Tipp, eine Therapie zu machen. Sie sagte, ich müsste inzwischen wirklich über dich hinweg sein. Nun habe der Zwischenfall im Supermarkt ihren Verdacht bestätigt: Es sei noch nicht so weit. Schließlich habe die Therapie bei Derek und ihr auch sehr gut gewirkt. Natürlich hat Derek sie zu den Sitzungen begleitet, sodass die beiden irgendwann verstanden haben, warum er plötzlich unter seinen dreckigen Arbeitsoveralls Damentangas tragen will. Ich weiß, dass du Anna für eine aufdringliche Person hältst, die sich in alles einmischt – das hast du ihr ja bei dieser Abendeinladung vor so vielen Jahren wortwörtlich an den Kopf geworfen –, aber sie hat ein unglaublich feines Gespür und ist meine beste Freundin, weshalb ich ihren Rat zu schätzen weiß. Außerdem war sie mir, seit du weg bist, eine große Hilfe. Als du einfach verschwunden bist, hat sie toll reagiert – sie hat ein Foto von deinem Gesicht ausgeschnitten und es auf eine Darts-Scheibe geklebt, was mich in meiner düstersten Stunde zum Lachen gebracht hat, als ich schon dachte, dass ich nie wieder lachen würde. Ich habe zwar nie mit Darts nach deinem Gesicht geworfen, doch die Scheibe hat sich dennoch als praktisch erwiesen – sie ist eine wunderbare Pinnwand, damit ich meine Aufträge nicht durcheinanderbringe.
Ich muss zugeben, dass ich anfangs zwar argwöhnisch war, aber Mary, die Therapeutin, hat sich bis jetzt als sehr scharfsinnig entpuppt. Zum Beispiel sagt sie, mein Putzzwang sei ein Versuch, einen Teil meines Umfelds zu kontrollieren. Allerdings sei eine derart enge Beziehung zu meinem Staubsauger einfach nicht gesund. Offenbar muss ich lernen loszulassen – was heißt, dass ich eine schmutzige Kaffeetasse nach dem Austrinken länger als fünf Sekunden ertragen können sollte, bevor ich sie in die Spülmaschine räume.
Sie ist sicher, mir bei der Suche nach Heilung helfen zu können, und findet, meine innere Wut lege sich bereits ein wenig. Doch offen gestanden glaube ich nicht, dass ich so viel innere Wut habe – sofern man meine Haltung zu Menschen außer Acht lässt, die sich an der Käsetheke vordrängen, wenn ich warte, um ein Stück frischen Parmesan zu erstehen, den du so gern gemocht hast. (Kannst du dir vorstellen, dass ich ihn immer noch kaufe? Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier.) Diese Kreaturen bringen mein Blut wirklich in Wallung, obwohl ich das Mary nicht gestanden habe. Ich habe befürchtet, sie könnte mich für psychisch labil halten. Mary sagt, man würde sich wundern, was sich hinter der Fassade von Menschen verbirgt, die völlig normal wirken, und sie muss es ja wissen – immerhin arbeitet sie seit zwölf Jahren als Psychotherapeutin. Zumindest steht das auf ihrem Diplom im Wartezimmer, und ich bin sicher, dass es echt und keine gute Fälschung ist, wie du sicher behauptet hättest, wenn du dabei gewesen wärst. Sie hat mir erklärt, dass selbst ein Mensch, der im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ist, ein bisschen ausrasten kann, wenn man ihn nur genug provoziert. Ich sei die geborene Verinnerlicherin, was bedeutet, dass ich von außen völlig ausgeglichen wirke, aber inwendig brodle und jederzeit überkochen kann – und genau das sei im Supermarkt beim Anblick des Fotos eben passiert.
Offenbar war das nur die Spitze des Eisbergs. Es könnte Jahrzehnte dauern, bis all die negativen Gefühle an die Oberfläche kommen und sich die unterdrückte Wut in einer nicht mehr zu bremsenden Gewaltorgie Bahn bricht. Ich könnte in einem Heim für Verwirrte landen, schneller als du Kuckucksnest sagen kannst. Ich habe Mary geantwortet, dass du schon seit zwei Jahren fort bist und dass solche Anfälle sicher schon öfter vorgekommen wären, wenn ich die Wut internalisiert hätte. Aber Mary ist der Ansicht, dass Dinge wie diese unberechenbar sind und dass man nie vorhersagen könne, wann die Katastrophe zuschlägt und alles rauskommt. Das klingt plausibel, auch wenn ich befürchte, dass ich in diesem Fall für den Rest meines Lebens zu Mary gehen muss. Vielleicht sollte ich mal ein Gespräch mit dem Filialleiter meiner Bank führen. Nur sicherheitshalber, denn eines, was mit Sicherheit feststeht, ist, wie viel sie pro Sitzung berechnet.
Doch Anna ermutigt mich, nicht aufzugeben. Nach diesem Vorfall ist sie sogar noch fester denn je entschlossen, mir zu helfen. Sie hat einen Plan ausgeheckt, um mich von meinem Elend abzulenken, und sagt, sie wird ihn mir bald verraten. Ich muss zugeben, dass mir ein bisschen mulmig dabei ist. Annas letzter toller Plan bestand nämlich darin, ihre Höhenangst mit Fallschirmspringen zu bekämpfen. Früher konnte sie kaum eine Treppe hinaufsteigen, aber ein Sprung aus einem Flugzeug aus zehntausend Metern Höhe hat sie kuriert. Ich werde nie ihren Gesichtsausdruck vergessen, als sie, an den Lehrer geschnallt, durch die Luft segelte. Es war eine Mischung aus Todesangst und purer Euphorie. Ich fand es auch wundervoll – das Gefühl von Freiheit war wirklich Wahnsinn. Natürlich war es ein kleiner Dämpfer, dass ich ungeschickt gelandet bin und mir dreimal den Arm gebrochen habe. Die Brüche mussten fünfmal genagelt werden, und anschließend war ein halbes Jahr Krankengymnastik fällig. Allerdings bin ich sicher, dass ihr neuer Plan nicht ganz so dramatisch sein wird. Wenigstens hoffe ich das – ich riskiere nicht gern unnötig Kopf und Kragen.
Die gute Nachricht ist, dass die Chefredakteurin von Sie mich mit einer Serie von Beziehungstests beauftragt hat. Sie hat meine Arbeiten in der Gazette gesehen und mag meinen Stil. Also hat sie mich spontan angerufen. Ich habe ihr gestanden, dass ich nicht Psychologie studiert habe und möglicherweise nicht über die nötigen Qualifikationen verfüge, aber sie meinte, das spiele keine Rolle. Nötigenfalls solle ich einfach bluffen. Anfangs war mir nicht so ganz wohl dabei, doch die Bezahlung ist wirklich spitze. Außerdem habe ich den Vorteil, dass ich mir dank meiner tragischen Beziehungsvergangenheit die Recherche sparen kann. Ich habe dir das letzte Beispiel beigelegt. Vielleicht klingelt bei dir ja was.
Eve