Eve

Lieber Charlie,

jetzt sind einige Tage vergangen, seit ich Homer beinahe umgebracht hätte, und mein Schlafrhythmus ist völlig aus dem Takt. Ich fühle mich so schuldig, weil ich ihn mit der Vase angegriffen habe, dass ich schreckliche Albträume habe. Dann wache ich mitten in der Nacht auf, und mein Herz klopft wie wild, da ich solche Angst habe, dass er mir das nie verzeihen wird.

Letzte Nacht habe ich es vor dem Einschlafen mit dem Visualisierungstrick versucht, den Mary, die Therapeutin, mir beigebracht hat. Sie hat mir versprochen, dass ich auf diese Weise ganz bestimmt angenehm und friedlich träumen und die Albträume für immer vertreiben würde. Man muss sich nur fünf Minuten, bevor man die Augen zumacht, auf das konzentrieren, von dem man träumen will. Es klappt tatsächlich: Ich habe wunderschön von George Clooney und seinem maßgefertigten Motorrad geträumt, wie ich es mir gewünscht hatte. Wir rasten auf seiner Harley mit hundertfünfzig die Amalfiküste entlang. Der Wind zerzauste uns das Haar, und die Sonne schien auf unsere Haut. Als ich mich mit Leibeskräften an seinen muskulösen Rücken klammerte, schaute er sich um und lächelte sein betörendes Hollywood-Lächeln, von dem jeder zurechnungsfähigen Frau die Knie weich werden. Du magst dich fragen, was George Clooney an mir finden könnte, doch im Traum war ich keine Bohnenstange und hatte weder schiefe Zähne noch strähnige Haare, sondern weibliche Rundungen; ich war zierlich und hatte ein makelloses Lächeln und die wilde Lockenmähne einer Zigeunerin. Ich war sogar wundervoll sonnengebräunt, nicht von geröteten Hitzepickeln übersät, wie es sonst passiert, wenn die Temperaturen über fünfzehn Grad steigen. Erinnerst du dich noch, dass ich bei jeder Urlaubsreise Antihistamintabletten nehmen musste? Wahrscheinlich nicht. Ich habe sie immer heimlich geschluckt, denn ich wollte dich nicht mit meinem Juckreiz belästigen. Ich weiß, dass es dich gestört hat, wenn ich langärmelige Oberteile mit Rollkragen trug, während sich alle anderen in knappen Bikinis aalten. Insbesondere deshalb, weil du schon bei den ersten Sonnenstrahlen wundervoll braun geworden bist. Ich sehe noch deine in der Abendsonne golden schimmernde Haut vor mir, nachdem du geduscht und die teure Feuchtigkeitslotion aufgetragen hattest, die du so liebst.

Aber in meinem Traum hatte ich nichts mit der von Ausschlägen geplagten kalkweißen Frau zu tun, die ich im wirklichen Leben bin. Ich war eine Schönheit, und George fand mich einfach hinreißend. Doch als es wirklich interessant wurde, kippte der Traum um. George verwandelte sich in Homer, und plötzlich saßen wir auf seinem Motorrad, ich klammerte mich an seinen muskulösen Rücken und er betörte mich mit seinem traumhaften Lächeln. Als ich schließlich vom Läuten des Telefons aus dem Schlaf gerissen wurde, war ich durchgeschwitzt und verwirrt und wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte.

Es war Anna, die anrief, um sich für das Blind Date mit Butch zu entschuldigen. Angeblich hat sie nichts von seinem heimlichen Doppelleben geahnt. Wenn sie es gewusst hätte, wäre sie selbst mitgekommen, um sich in der Schwulenkneipe zu amüsieren und ihn dabei zu unterstützen, zu seinen Neigungen zu stehen. Sie hat Aufmunterung momentan wirklich nötig. Derzeit geht es ihr ziemlich schlecht, weil es zwischen Derek und ihr immer mehr Probleme gibt. Offenbar wird er seine Schwäche für Damenunterwäsche einfach nicht los, und Anna sagt, dass sie ihm eins überbraten wird, wenn sie noch einmal ihre besten Dessous ausgeleiert in der Wäscheschublade findet. Es ist ja gut und schön, wenn man gern die Höschen seiner Frau unter dem Overall trägt. Doch ein teures Stück von La Perla dadurch zu ruinieren, dass man seinen dicken Hintern hineinzwängt, ist eine Unverschämtheit.

Laut Anna ist die Suche nach einer neuen Liebe für mich das Einzige, was sie von ihrer Misere ablenkt. Sie hat schon wieder jemanden ins Auge gefasst, der ihrer Ansicht nach ausgezeichnet zu mir passt. Er heißt Larry und ist Tierarzt, was heißt, dass er wohlhabend ist und Tiere liebt. Wenn man ihr glauben kann, sieht er auch noch sehr gut aus. Ich hätte ihr gerne erklärt, dass sie sich die Mühe sparen kann, weiter Verabredungen für mich zu arrangieren – ich bin nicht sicher, ob ich noch ein katastrophales Blind Date ertrage –, aber sie war so begeistert, dass ich es nicht übers Herz brachte abzulehnen. Außerdem haben mich die Verabredungen in letzter Zeit zugegebenermaßen so beschäftigt, dass ich kaum Zeit hatte, über dich und deine neue Frau nachzugrübeln. Vielleicht würde ich es sogar schaffen, mein gebrochenes Herz zu vergessen, wenn Mum mich nicht ständig daran erinnern würde. Wenn sie noch einmal dein Hochzeitsfoto aus der Tasche zieht, könnte ich mich selbst gezwungen sehen, jemandem eins überzubraten.

Heute hat sie wieder, beladen mit Geschenktütchen, die sie bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung abgeräumt hatte, spontan bei mir vorbeigeschaut. Ich weiß, Mary wäre gar nicht zufrieden mit mir – ihrer Ansicht nach handelt es sich hierbei um einen weiteren Bereich meines Lebens, den ich mir zurückerobern muss. Sie sagt, ich hätte keinen Einfluss auf das Verhalten meiner Mutter, sondern nur auf meine Reaktionen darauf – was zwar absolut logisch klingt, allerdings nicht sehr hilfreich ist. Laut Mary bin ich eine erwachsene Frau und muss meinen Mitmenschen Grenzen setzen. Wenn Mum mich also besuchen wolle, dürfe sie nicht einfach bei mir hereinschneien, sondern solle zuerst anrufen und eine Uhrzeit vereinbaren, die uns beiden passt. Habe versucht, Mary klarzumachen, dass das niemals klappen würde: Mum kommt, wann sie will, und lässt ein Nein nicht gelten. Deshalb ist sie ja in all den Wohltätigkeitsorganisationen die treibende Kraft. Doch Mary meint, ich müsse erst lernen, mich selbst zu respektieren, wenn die Leute Respekt vor mir haben sollen. Das ist ja alles gut und schön, aber ich schaffe es nicht, Mum zurzeit noch mehr aufzuregen. Seit sie weiß, dass eine andere Frau dich zum Traualtar geschleppt hat, während ich daran gescheitert bin, ist sie untröstlich. Außerdem steht sie wegen Mike und Stacey unter Hochspannung, und ich möchte sie deshalb nicht kränken, indem ich anfange, über Grenzen zu reden. Außerdem hatte ich es auf einen Teil der Ausbeute von der Wohltätigkeitsveranstaltung abgesehen, die sie mitgebracht hatte – die Damen, die sich zu diesen Mittagessen versammeln, leben von kostenlosen Pröbchen. Aus den Tüten in ihren Händen ragten Lotionen, Wässerchen, Parfüms und alle möglichen anderen hübschen Sachen, die ich unbedingt haben wollte. Mum hat zu Hause unzählige Schubladen voller teurer Verwöhnprodukte, die sie nicht mehr braucht. Ihr bleibt gar nicht mehr die Zeit, sie alle anzuwenden. Also ist es meine Aufgabe, ja, sogar meine Pflicht, sie in dieser Hinsicht ein wenig zu entlasten. Habe es geschafft, ein paar Pröbchen zu stibitzen, während sie über Mike und Stacey und ihre Sorge wegen dieser »Situation« redete.

Offenbar hat Mike ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen und gesagt, er habe ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Nun hat sie Todesangst, das könnte heißen, dass er Stacey einen Antrag gemacht hat. Oder etwas ähnlich Katastrophales. Ich habe versucht, sie damit zu beruhigen, dass die Schulmannschaft vielleicht ein Basketballspiel gewonnen hat und dass er deshalb so aufgeregt klang, aber sie wollte nichts davon hören. Sie jammerte immer weiter, Mike verschwende sein Leben an ein Mädchen, das nicht gut genug für ihn sei und es auch niemals sein würde. Wie hübsch die Wohnung jetzt aussieht, ist ihr gar nicht aufgefallen. Mary hatte wirklich recht: Bunte Farben beeinflussen die Stimmung. Das Gelb, das Homer ausgesucht hat, ist so fröhlich, dass ich mich einfach nur gut fühlen kann, wenn ich ringsherum davon umgeben bin. Ich glaube wirklich, dass es mir immer besser geht, auch wenn es mit dem Schlaf momentan nicht unbedingt klappt.

Wenn Homer sich nur nicht so seltsam verhalten würde. Seit ich ihm eins mit der Mosaikvase übergezogen habe, ist er schrecklich einsilbig, und ich muss annehmen, dass er mir deshalb böse ist, obwohl er gleich nach dem Zwischenfall so nett zu mir war. Ich kann ihm das nicht zum Vorwurf machen. Wenn mich jemand mit einem stumpfen Gegenstand angreifen würde, wäre ich vor demjenigen vermutlich auch auf der Hut. Er schaut mir nicht mehr in die Augen, und heute hat er während unserer üblichen Kräuterteephase sogar durchgearbeitet. Und das Schlimmste ist, dass er keine klassischen Stücke auf dem iPod mehr mitsummt. Das fehlt mir wirklich. Sogar Tom ist inzwischen gegen mich. Er sieht mich finster an, wenn ich ihn anspreche, und weicht Homer nicht mehr von der Seite. Als ich auf dem Weg ins Bad im Flur an den beiden vorbeikam, schlängelte sich Tom verführerisch um Homers Beine herum, während Homer ihn unter dem Kinn kraulte. Bei meinem Anblick hielten die beiden inne und wandten sich ab. Mir war das so peinlich, dass ich mich für den Rest des Tages im Arbeitszimmer verschanzt habe. Außerdem bin ich sicher, dass Homer schneller streicht als sonst. Wahrscheinlich will er nichts als weg hier, um mich nie mehr wiedersehen zu müssen.

Vielleicht sollte ich mich einfach auf meine Verabredung mit dem Tierarzt konzentrieren, um mich abzulenken. Anna könnte ja recht haben, und er ist absolut mein Typ … falls ich überhaupt einen Typ habe.

Eve

Drei Engel gegen Charlie
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