Molly
Als ich auf dem Sofa aufwache, klebt mein Gesicht am Lederpolster fest, und meine Schläfen pochen. Ich hebe den Kopf ein kleines Stück, um mich zu orientieren, und ein stechender Schmerz schießt mir von der Stirn bis in die Fußspitzen. Was ist da los? Ich fühle mich dem Tode nah – so als hätte mich ein Lastwagen mit Anhänger nur so zum Spaß mehrfach überrollt. Meine Kehle ist rau wie Schmirgelpapier, meine Augen sind verkrustet, und meine Wange ist mit getrockneter Spucke beschichtet. Vielleicht kriege ich ja die Grippe. Oder etwas noch Schlimmeres. Eine Lungenentzündung zum Beispiel. Oder einen Gehirntumor. Mein Schädel fühlt sich jedenfalls an, als würde er gleich platzen. Eine Sekunde lang lichtet sich der Nebel, und mir fällt der Wein wieder ein. Ich habe Wein getrunken. Sehr viel Wein. Wieder. Seit ich vor ein paar Tagen Charlies Brief bekommen habe, trinke ich zu viel. Und zwar fast jeden Abend. Aber so elend wie heute Morgen ging es mir noch nie. Außerdem liege ich auf dem Sofa, was heißt, dass ich hier eingeschlafen sein muss und es nicht bis ins Bett geschafft habe.
Vorsichtig hebe ich das Gesicht vom Sofa und zucke zusammen, als sich mir eine weitere Welle unerträglicher Schmerzen in die Schädeldecke bohrt, und mein Magen rebelliert.
Heute kann ich auf gar keinen Fall zur Arbeit gehen, nicht in diesem Zustand. Ich kann mich ja kaum bewegen, geschweige denn, mich vorzeigbar zurechtmachen und Minty die Stirn bieten. Ich muss anrufen und mich krankmelden. Was heißt, dass ich Penny erklären muss, warum ich heute nicht komme. Der bloße Gedanke erfüllt mich mit Grauen, und wieder werde ich von Übelkeit ergriffen. Offiziell ist Penny für die Anzeigenkunden zuständig, doch sie kümmert sich nebenbei auch um Personalfragen. Minty hat ihr die Aufgabe zugeteilt, weil sie fand, dass Penny nicht damit ausgelastet war, Leute anzurufen und ihnen Prügel anzudrohen, wenn sie ihre Anzeigen in unserer Zeitschrift nicht bezahlen. Sie brauchte eine neue Herausforderung, an der sie sich messen konnte. Und Penny fühlt sich in Personalangelegenheiten wohl wie ein Fisch im Wasser. Sie genießt es, die in unserem Unternehmen geltende lächerliche Regelung durchzusetzen, nach der man sich nicht einfach per E-Mail abmelden oder eine Nachricht hinterlassen kann, damit der Anrufbeantworter einem die schmutzige Arbeit abnimmt. Nein, bei Sie muss man Penny direkt auf ihrem eigens dafür eingerichteten Personalabteilungsanschluss anrufen und ihr erklären, warum es unmöglich ist, dass man sich ins Büro schleppt und gute zehn Stunden Dienst am Schreibtisch leistet. Das war Mintys Idee, um dem Missbrauch von Krankheitstagen einen Riegel vorzuschieben. Minty hält Krankheiten sowieso für Humbug – aber das liegt daran, dass sie die Konstitution eines Ochsen hat und nie auch nur einen Schnupfen kriegt, obwohl sie ein Strich in der Landschaft ist. Ich persönlich vertrete die These, dass Keime in einer so feindseligen Umgebung eben nicht überleben können.
Ich muss mir eine wirklich gute Ausrede einfallen lassen, damit Penny nicht merkt, dass ich lüge. Sie darf nicht zu abgedroschen sein. Grippe kommt also nicht in Frage – das kauft sie mir nie ab. Vielleicht sage ich ja, ich hätte mir durch einen Mückenstich während der Flitterwochen einen fleischfressenden Parasiten zugezogen. Oder vielleicht irgendein Superbakterium, gegen das auch Antibiotika nichts ausrichten können. Mein Schädel pocht. So einen scheußlichen Kater hatte ich schon lange nicht mehr. Ich kann nicht klar denken, muss mich aber unbedingt konzentrieren und mir etwas Glaubhaftes einfallen lassen. Es ist schon nach neun. Wenn ich nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten anrufe, weiß Penny genau, dass ich blaumache, und das wird sie mir nie verzeihen.
Ich kann ja behaupten, ich hätte einen Unfall gehabt. Nichts Lebensbedrohliches, nur eine leichte Verletzung, die mich eine Weile außer Gefecht setzen wird. Etwas Plausibles und Alltägliches, damit sie keinen Verdacht schöpft. Endlich habe ich die zündende Idee. Ich werde vorgeben, dass ich mir die Schulter verletzt habe. Mit einer verletzten Schulter und starken Schmerzen kann niemand von einem erwarten, dass man zur Arbeit geht. Das müsste klappen.
Ich greife zum Telefon und rufe an, bevor mich der Mut verlässt.
»Penny hier.« Sie hat schon den strengen Personalabteilungstonfall angeschlagen.
»Hallo, Penny«, krächze ich mit wummerndem Schädel. Wenigstens muss ich meine Stimme nicht verstellen, um krank zu klingen. Ich höre mich schon so schrecklich genug an.
Penny schweigt.
»Du wirst nicht glauben, was mir passiert ist.«
»Ganz recht«, entgegnet Penny barsch. »Wahrscheinlich nicht.«
Ich achte nicht darauf und bemühe mich, einen aufrichtigen Eindruck zu machen.
»Ich habe mir die Schulter verletzt. Ich kann sie nicht bewegen. Es tut schrecklich weh. Ich bin gestolpert und die Treppe runtergefallen. Ein Glück, dass ich mir nicht das Genick gebrochen habe«, plappere ich weiter und erwähne so viele Einzelheiten wie möglich, damit es auch authentisch wirkt.
»Du Arme.«
Sarkasmus sickert durch die Leitung. Penny weiß, dass ich lüge. Es ist offensichtlich. Ich bin nun einmal eine miserable Lügnerin, und ihr eisiges Schweigen bedeutet, dass sie mich durchschaut hat.
Vielleicht habe ich es auch übertrieben. Die Anmerkung, ich könnte für Monate im Gipsbett enden, wenn ich zu früh wieder zur Arbeit gehe, hätte ich mir vielleicht sparen sollen. Trotz meiner Andeutungen, dass ich beinahe eine bleibende Behinderung davongetragen hätte, fällt Pennys Reaktion nicht sehr anteilnehmend aus. Genau genommen klingt sie sogar gleichgültig. Dabei gehöre ich nicht zu den Leuten, die sich häufig krankmelden. Gut, vielleicht habe ich mir während der Hochzeitsvorbereitungen hier und da einen freien Tag gegönnt, aber das ist doch nicht anders zu erwarten. Wie soll man denn nach Feierabend ein großes Fest mit zweihundert Gästen organisieren? Das ist schlechterdings menschenunmöglich.
»Also bist du die Treppe runtergefallen, richtig?« Offenbar macht Penny sich Notizen. »Und das war wann?«
»Äh … gestern Abend?«, stammle ich, in der Hoffnung, dass sie mir glaubt.
»Okaaaaayyy.«
Im Hintergrund ist lautes Geraschel zu hören. Sicher blättert sie irgendwelche offiziellen Papiere durch – vermutlich die Personalakte für Menschen wie mich, auf der in roten Buchstaben »NOTORISCHE LÜGNER« steht.
»Und du kommst wann wieder?«
»Morgen?«, schlage ich vor.
Wieder Stille, während sie sich alles aufschreibt.
»Äh … bist du noch dran?«, frage ich schüchtern.
»Ja, bin ich«, erwidert sie kühl. »Ich brauche ein ärztliches Attest, natürlich so schnell wie möglich. Für die Akte.«
»Klar«, antworte ich fröhlich, obwohl mir immer flauer wird. »Kein Problem.«
Ich lege auf und frage mich, ob ich meinen Arzt wohl überreden kann, mir ein falsches Attest auszustellen. Wenn ich ihn ausführlich darauf hinweise, wie sehr die derzeitige Situation mich psychisch belastet, hat er sicher Mitleid mit mir. Das dürfte nicht allzu schwierig sein. Schließlich habe ich guten Grund, mich psychisch belastet zu fühlen, und brauche also nichts zu erfinden. Aber wenigstens habe ich den Anruf jetzt hinter mir. Nun kann ich den restlichen Tag darüber nachdenken, wie ich auf Charlies Brief reagieren soll. Der Zeitpunkt ist reif für eine Entscheidung. Ich darf sie nicht länger vor mir herschieben.
Der Ball liegt auf meiner Seite des Spielfelds, das weiß ich genau. Er hat klipp und klar geschrieben, dass er wieder nach Hause kommen möchte. Jetzt muss ich mir überlegen, was ich will. Nehme ich ihn zurück und versuche, so weiterzumachen wie vor seinem plötzlichen Verschwinden? Oder wechsle ich die Schlösser aus und weigere mich, ihn zu sehen? Würde ich es überhaupt verstehen, wenn er mir erklären würde, warum er gegangen ist? Will ich die Gründe eigentlich wissen? Das alles ist so verwirrend. Doch die Entscheidung, was nun zu tun ist, liegt bei mir, und ich kann mich nicht davor drücken. Ich kann nicht flüchten und mich verstecken. Nicht wie damals bei Mums und Dads Tod. Dieser Gedanke schießt mir ohne Vorwarnung durch den schmerzenden Kopf, und ich weiß tief in meinem Innersten, dass es stimmt. Als mir alles zu viel wurde, bin ich geflohen. Damals habe ich es zwar nicht so genannt, aber darauf lief es hinaus.
Etwa einen Monat nach dem Unfall beschloss ich zu gehen. Inzwischen aß, schlief und sprach ich kaum noch, sondern verbrachte den Großteil meiner Zeit damit, die Ereignisse immer wieder Revue passieren zu lassen. Je länger ich darüber nachgrübelte, desto mehr wuchs meine Überzeugung, dass alles nur meine Schuld war. Zwar zeigte niemand mit dem Finger auf mich oder warf mir vor, ihren Tod verursacht zu haben, doch ich war sicher, dass alle so dachten. Immerhin hatte ich meine Eltern zum Mittagessen eingeladen. Wenn ich das nicht getan hätte, wären sie heute noch am Leben. Wie gerne hätte ich die Zeit zurückgedreht. Und weil das unmöglich war, verkroch ich mich und versteckte mich vor der Welt. Ich konnte niemandem gegenübertreten, ja, nicht einmal in den Spiegel schauen. Und als eine Cousine, die inzwischen in San Francisco lebte, mich einlud, bei ihr zu wohnen, so lange ich wolle, war ich sicher, dass das genau die richtige Lösung war. Ich musste möglichst schnell möglichst weit weg von allem hier. Sicher würde ich es den anderen leichter machen, wenn ich ging. Auch David. Insbesondere David.
Ich erinnere mich an seine Reaktion, als ich ihm mitteilte, ich wolle fort aus Dublin. Anfangs missverstand er mich.
»Gute Idee«, sagte er, als ich ihm von meinem Vorhaben erzählte. »Wo fahren wir hin? Was hältst du von Italien? Oder Griechenland? In Griechenland ist es sicher nett. Ich könnte für mein neues Buch recherchieren, während du ausspannst. Das wird bestimmt schön.«
Als er nach meiner Hand griff, machte ich mich los.
»Nein«, erwiderte ich. »So war es nicht gemeint. Ich möchte nicht, dass du mitkommst. Ich will alleine weg.«
Sein Lächeln war schlagartig wie weggeblasen, und er blickte verwirrt drein.
»Allein?«
Er schob sich das zerzauste Haar aus der Stirn, etwas, das er immer tat, wenn er nervös wurde.
»Ja, ich brauche Zeit für mich. Ich muss nachdenken.« Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen. Es war zu schwer.
»Gut«, antwortete er schließlich. »Dafür habe ich natürlich Verständnis. Du hast viel durchgemacht. Wie lange bleibst du denn weg? Eine Woche? Zwei?«
Seine Miene wurde noch verzweifelter, als ich ihm erklärte, ich wisse nicht, wann ich wiederkommen würde. Ich wolle nicht, dass er auf mich warte. Mir sei klar geworden, dass wir doch nicht zusammenpassten. Mums und Dads Tod hätten mir bewusst gemacht, das Leben sei zu kurz, um es mit jemandem zu vergeuden, der nicht der Richtige sei.
Natürlich war das alles nicht wahr. Ich liebte ihn so sehr, dass es wehtat. Und genau darum ging es. Niemals hätte ich noch einmal diesen Schmerz ertragen können, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Mum und Dad zu verlieren war schlimm genug. Wenn ich David auch noch verloren hätte, hätte ich nicht weiterleben können. Und deshalb musste ich ihn jetzt verlassen. Je mehr Zeit ich mit David verbrachte, desto mehr würde ich ihn lieben. Indem ich ihn nun aufgab, würde ich mir viel zukünftigen Schmerz ersparen. Das klang für mich absolut logisch. Außerdem hatte er etwas Besseres verdient. Ich war ein Wrack, und obwohl er mich immer unterstützt und aufgebaut hatte, hatte er mich inzwischen sicher gründlich satt. Natürlich sagte ich ihm das nicht – ich wollte ihn in dem Glauben wiegen, dass ich ging, weil ich ihn nicht mehr liebte. Es war besser, wenn er mich hasste. Schließlich hasste ich mich selbst auch. Und so flog ich nach San Francisco und versuchte, alles, was geschehen war, zu vergessen. Ich jobbte in einem Irish Pub in der Innenstadt und warf mich mit Schwung ins Nachtleben. Ehe ich michs versah, war ein Jahr vorbei und Tanya und Al flehten mich an, nach Hause zu kommen. Da ich den Verdacht hatte, dass ich den Absprung nie mehr schaffen würde, wenn ich es jetzt nicht tat, packte ich nervös eine Tasche und flog nach Dublin. Eigentlich hatte ich nur eine oder zwei Wochen bleiben wollen, aber bei meiner Rückkehr stellte ich fest, dass die Trauer um Mum und Dad ein klein wenig nachgelassen hatte, sodass es beinahe wieder auszuhalten war, hier zu leben. Außerdem war es so schön, Tanya und Al wiederzusehen, dass aus den zwei Wochen rasch drei wurden. Dann ergatterte ich die Stelle bei Sie, und die Vorstellung, wieder nach San Francisco zu gehen, erschien mir immer entfernter. Allerdings setzte ich mich nicht mit David in Verbindung. Ich rief ihn nie an, um ihm zu erklären, dass ich ihn, was meine Gefühle für ihn betraf, belogen hatte. Stattdessen ließ ich ihn in dem Glauben, dass ich ihn nicht mehr liebte. Und deshalb waren seine abfälligen Blicke im Sheldon Hotel kein Wunder. Man hat ihm deutlich angemerkt, was in ihm vorging. Natürlich hasst er mich für das, was ich ihm angetan habe.
Doch es hat keinen Zweck, jetzt an David zu denken. Im Moment muss ich mich mit Charlie befassen, und dazu brauche ich einen klaren Kopf. Allerdings bin ich momentan so benommen vom Alkohol, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Das Einzige, was im Moment etwas nützt, ist frische Luft. Ein strammer Spaziergang wird mir helfen, eine Lösung zu finden. Bei der Vorstellung, vom Sofa aufzustehen, rebelliert mein Magen. Doch ich beiße die Zähne zusammen, greife nach dem nächstbesten Paar Stiefel und marschiere los, ehe ich Gelegenheit habe, es mir anders zu überlegen.
Schon zwei Minuten nach dem Aufbruch bereue ich meine Entscheidung. Bei jedem Schritt schneiden die Stiefel schmerzhaft in meine Füße ein. Es war ein Fehler, nicht die Turnschuhe anzuziehen. Die Stiefel sind ein Schnäppchen aus dem Schlussverkauf, waren mir jedoch von Anfang an zu eng. Als ich es mir endlich eingestand und sie wieder in den Laden brachte, wollte die Verkäuferin sie nicht zurücknehmen, nicht einmal, als ich ihr erklärte, sie würden mir möglicherweise das Blut in den Waden abschnüren, sodass ich jederzeit an einer schweren Thrombose erkranken könnte. Seitdem versuche ich mir einzureden, dass sie passen. Nun tun mir die Füße weh, und meine Fersen jaulen vor Schmerzen. Wahrscheinlich bluten sie schon. Ich wage nicht hinzuschauen.
Außerdem pocht mir der Schädel. Ich blinzle in die grelle Sonne und überlege, ob ich weitergehen oder umkehren und in meinen zu engen Stiefeln nach Hause laufen, beziehungsweise humpeln soll. Die Sonne scheint zu hell, der Gehweg ist zu uneben, und das Schlimmste ist, dass es von Leuten nur so wimmelt. Sorglos wirkenden Menschen, die lächeln, in ihre Mobiltelefone sprechen und so tun, als wäre nichts geschehen. Sie haben keine flüchtigen Ehemänner, die ihnen Briefe schreiben, weil sie zurückkommen wollen. Sie haben keine Ex-Freunde, die aus heiterem Himmel auftauchen und sie verwirren. Sie führen ein ruhiges und friedliches Leben – das merke ich ihren Gesichtern an. Wie die Frau, die gerade telefonierend auf mich zusteuert.
»Gut«, sagt sie völlig lässig. »Dann sehen wir uns um acht im Kino.«
Als sie an mir vorbeischlendert, muss ich mich beherrschen, um sie nicht finster anzuschauen. Offenbar hat sie keine Probleme und auch kein Trauma erlitten. Sicher geht sie heute Abend mit der Liebe ihres Lebens ins Kino. Sie werden händchenhaltend in der letzten Reihe sitzen, sich einen großen Eimer Popcorn teilen und sich einen Dreck um das Leid ihrer Mitmenschen scheren.
Der nächste Passant ist ein Mann, der seinen Hund ausführt. Einen goldenen Labrador. Ich habe mir schon immer einen goldenen Labrador gewünscht. Sie sind so niedlich und anhänglich und liebesbedürftig. So sehr wollte ich einen solchen Hund, dass ich ihm in Gedanken sogar schon einen Namen gab: Lellie. So gerne malte ich mir aus, wie ich mit Lellie aufmunternde Spaziergänge in den Hügeln unternahm und Stöckchen zum Apportieren für sie warf. Gut, ich bin keine große Freundin von Spaziergängen oder dem Aufenthalt im Freien, doch ich hätte mich ja ändern können. Lellie hätte mir die Natur nähergebracht. Ich hätte gelernt, nasses Gras und glitschiges Laub zu lieben. Außerdem wäre es ein wunderbarer Grund gewesen, mir den Lammfellmantel zu kaufen, auf den ich schon so lange scharf bin. Aber Charlie mag keine Hunde. Er findet, dass sie zu viele Haare verlieren. Außerdem müssten wir dann ohnmächtig mit ansehen, wie das Ledersofa kaputtgekratzt wird. David hingegen liebte Hunde – er wollte auch immer einen goldenen Labrador. Er war ein richtiger Hundefan.
Gerade stehe ich auf dem Gehweg und beobachte, wie der schöne Hund rasch gegen einen Telefonmasten pinkelt, als es geschieht. Ein Paar schlendert auf mich zu. Ein sehr glücklich wirkendes Paar, das sich an den Händen hält und sich verzückt angrinst. Ich spüre, wie die Glückseligkeit, die sie ausstrahlen, mich trifft wie ein Schlag. Sie schweben in einer Liebesblase, die nichts und niemand durchdringen kann. Der Mann sieht genauso aus wie David: hoch gewachsen, zerzaust und mit wuscheligem Haar. Bei diesen Lichtverhältnissen und mit meinem verkaterten Kopf könnte er es beinahe sein.
Aus der Ferne höre ich eine harte, krächzende Stimme, die sagt: »Mach das Beste daraus, solange ihr könnt, es ist sowieso bald vorbei.«
Ich drehe mich nach der Sprecherin um, aber es ist niemand da.
Dann bemerke ich, dass das Paar mich anstarrt, als wäre ich meine verrückte Tante Nora, die sich gerade wieder einmal danebenbenimmt – zum Beispiel, indem sie eine Politesse anschreit oder der Lutscherverkäuferin die Zunge herausstreckt. Diesen Gesichtsausdruck kenne ich von Leuten, wenn sie sich wieder mal seltsam verhält: leicht entnervt, aber auch ein wenig ängstlich.
»Kennen wir Sie?«, erkundigt sich der Mann mit finsterer Miene, legt seiner Freundin den Arm um die Schulter und zieht sie noch enger an sich – als ob das überhaupt möglich wäre. Aus der Nähe stelle ich fest, dass er David überhaupt nicht ähnelt. Er ist viel kleiner und hat einen bösen Zug um den Mund.
»Verzeihung«, murmle ich.
Plötzlich wird mir klar, dass ich diejenige bin, die geredet hat. Es lungert keine verbitterte alte Hexe an der Straßenecke herum und belästigt junge Liebespaare – nur ich bin da. Inzwischen spreche ich schon wildfremde Menschen auf der Straße an. Nein, ich spreche sie nicht nur an, sondern warne sie davor, die Liebe ernst zu nehmen, da der Schuss nach hinten losgehen wird. Jetzt ist es offiziell: Ich bin dabei, den Verstand zu verlieren.
Das Pärchen macht sich rasch aus dem Staub. Die Frau schaut sich dabei um, als rechne sie damit, dass ich sie anspringen und zu Boden reißen werde. Ich kann nicht fassen, was ich gerade getan habe. Vielleicht brauche ich ja Hilfe – ein Tête-à-Tête mit einem Psychiater. Oder sogar eine drastischere Maßnahme wie einen stationären Aufenthalt. Das wäre vielleicht gar nicht so schlecht, sofern die Einrichtung Dampfbäder und Massagen im Programm hat.
Rasch mach ich mich hinkend auf den Heimweg. Ich muss nach Hause, bevor ich noch etwas Schlimmeres anstelle. Hier draußen ist es zu gefährlich für mich. Wer weiß, welchen Mist ich sonst noch baue? Als ich mich umsehe, wird mir klar, dass ich weiter gekommen bin als gedacht. Ich kann auf gar keinen Fall zu Fuß gehen, denn meine Füße pochen vor Schmerzen. Deshalb halte ich ein vorbeifahrendes Taxi an, bevor ich Zeit habe, es mir anders zu überlegen, lasse mich auf die Rückbank fallen und nenne dem Fahrer meine Adresse.
»Schwerer Tag?« Als ich mich zurücklehne und versuche, ruhig durchzuatmen, sieht der Taxifahrer im Rückspiegel meinen Gesichtsausdruck.
»Das können Sie laut sagen.« Ich lächle ihm ironisch zu. Schließlich ist es nicht seine Schuld, dass mein Leben eine Katastrophe ist; also möchte ich nicht unhöflich sein. Außerdem mag ich Taxifahrer – ich finde sie sehr interessant. Sie haben immer spannende Anekdoten auf Lager, zum Beispiel von Leuten, die ihnen auf die Rückbank gekotzt oder sich so richtig gefetzt haben. Wenn ich mich nicht so elend fühlen würde, würde ich ihn bitten, mir eine zu erzählen.
»Kopf hoch, meine Liebe, so schlimm wird es schon nicht werden.« Er zwinkert mir zu.
Ich schenke ihm ein schiefes Lächeln, antworte jedoch nicht. Der schlimmstmögliche Fall ist bereits eingetreten, würde ich am liebsten erwidern. Ich lebe in einem Albtraum und habe keine Ahnung, wie es so weit kommen konnte.
»Am Wochenende schon was Schönes vor?«
Der Taxifahrer gibt nicht auf. Offenbar hat er Lust auf Smalltalk.
»Nicht wirklich«, sage ich in der Hoffnung, dass ihm das genügen wird. »Und Sie?«
Ich bete, dass er keine auch nur annähernd tolle Unternehmung geplant hat, denn in diesem Fall will ich nichts darüber hören.
»Ja, ich fliege mit meiner Frau nach Marbella. Es ist unser zehnjähriger Hochzeitstag.«
Er strahlt mich an. Ich bin nicht sicher, ob ich es mir nicht nur einbilde, aber ich habe sogar den Eindruck, dass er vor Stolz ein kleines bisschen die Brust reckt.
»Wie schön«, entgegne ich voller Entsetzen. Jetzt wird er mir ausführlich von seiner Bilderbuchehe berichten, das weiß ich genau. Ich frage mich, ob ich es wohl schaffe zu verschwinden, bevor er mir damit die Ohren volllabert, wie glücklich die beiden sind, dass sie einander inzwischen mehr lieben als je zuvor und dass sie vorhaben, ihr Eheversprechen in Spanien zu erneuern. Doch wegen des dichten Verkehrs sitze ich im Taxi fest.
»Ja, wir können es kaum erwarten. Sind Sie verheiratet?« Wieder sieht er mich im Rückspiegel an.
»Äh, ja«, erwidere ich und werde noch verlegener. Eigentlich bin ich ja noch immer eine junge Braut, obwohl ich mich ganz und gar nicht so fühle. Als ich den Ehering an meinem Finger herumdrehe, brennt er mir heiß auf der Haut, als ob er fehl am Platze wäre.
»Das freut mich.« Der Taxifahrer nickt beifällig. »Wie lange schon?«
»Nicht lange«, antworte ich und zermartere mir das Hirn nach einem Weg, das Thema zu wechseln. Am besten sprechen wir über Fußball – das ist unverfänglich. Aber welche Liga ist welche? Wo liegt der Unterschied zwischen der Champions League und der UEFA Europe League, oder ist das dasselbe? Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Ich war nämlich noch nie gut darin, so zu tun, als würde ich mich für Sport interessieren, und jetzt ist mein Gehirn wie leergefegt. Mir fällt nicht einmal der Name einer einzigen Mannschaft ein.
Bevor ich den Taxifahrer mit einer Anmerkung zum Wetter ablenken kann, fängt er schon wieder an.
»Ja, ich wüsste nicht, was ich ohne meine bessere Hälfte täte. Sie ist ein wahrer Engel.«
Er schnieft, und ich habe den Eindruck, dass ihm Tränen in die Augen treten. Das hat mir gerade noch gefehlt.
»Oh«, stoße ich in Ermangelung einer besseren Antwort hervor.
»Ja, wir gehen zusammen durch dick und dünn. Sie ist meine beste Freundin, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es gibt niemanden auf der Welt, mit dem ich lieber meine Zeit verbringe.«
Da wir im Stau stehen, hat er Gelegenheit, sich lautstark die Nase mit einem Taschentuch zu putzen, das er aus seinem Ärmel zutage gefördert hat. Jetzt hätte ich die Chance, zu bezahlen und zu fliehen. Doch ich kann nicht, weil mich das, was er gerade gesagt hat, so angerührt hat.
»Ja, ich verstehe, was Sie meinen«, erwidere ich mit schwacher Stimme. Und das stimmt. Da es bei David und mir genauso war. Wir waren nicht nur ein Liebespaar, sondern auch beste Freunde. Er war der einzige Mensch auf der Welt, mit dem ich jeden Tag zusammen sein und jede Erfahrung teilen wollte.
»Ja, zwischen zwei Menschen muss etwas ganz Besonderes sein – eine Art Magie –, damit die Beziehung hält.« Inzwischen schluchzt der Taxifahrer, von Gefühlen übermannt. »Wir haben ja solches Glück gehabt. Nicht jeder findet seinen Seelenverwandten.«
Er lächelt mir unter Tränen zu. Ich nicke, und Trauer ergreift Besitz von mir, weil in mir allmählich die tragische Gewissheit reift, dass Charlie und ich nie so füreinander empfunden haben. Ich bin nicht sicher, ob es zwischen uns je die Magie und das ganz Besondere gegeben hat, das zwei Menschen für immer zusammenschweißt. Das ganz Besondere, das David und mich verband.
»Wohnen Sie hier, meine Liebe?«, reißt mich der Taxifahrer aus meinen Gedanken.
Er stoppt vor meinem Haus am Straßenrand. Das Auto kommt erbebend zum Stehen.
Als ich die Eingangstür betrachte, wird mir flau. Ich will nicht hineingehen und mich mit Charlies Brief und dem auseinandersetzen, was zwischen den Zeilen steht. Ich will mir nicht überlegen, was ich tun soll. Am liebsten würde ich den Taxifahrer bitten, so schnell wie möglich weiterzufahren, immer weiter, und niemals stehen zu bleiben. Denn tief in meinem Innersten ahne ich, dass es der schwerste Fehler meines Lebens gewesen sein könnte, Charlie zu heiraten.