Eve

Lieber Charlie,

heute Morgen beim Aufwachen war ich ziemlich aufgedreht. Nun, aufgedreht ist vielleicht ein bisschen übertrieben – das war ich vermutlich seit meiner hormongebeutelten Teeniezeit nicht mehr –, aber ich war eindeutig guter Dinge. Beinahe habe ich geglaubt, dass die Zukunft wieder rosig aussehen könnte. Vielleicht, so dachte ich, hat der letzte Brief an dich ja wirklich etwas bewirkt. Möglicherweise war es ja doch eine sinnlose Schwachsinnsaktion, meine Gefühle zu Papier zu bringen. Es könnte ja sein, dass ich das 12-Punkte-Programm – oder was Mary, die Therapeutin, sonst mit mir vorhat – wirklich mit Bravour absolviere und als glücklicher, gestärkter Mensch daraus hervorgehe. Als ein Mensch, der sich nicht vom Leben erschlagen fühlt.

Wahrscheinlich hat dazu beigetragen, dass ich wirklich gut geschlafen habe: Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit bin ich nicht um drei Uhr morgens hochgeschreckt, um mich dann die restliche Nacht herumzuwälzen, alle fünf Minuten auf die Uhr zu schauen und dann, kurz bevor der Wecker klingelt, wieder einzunicken. Ich bin fast sofort eingeschlafen, und als ich später die Augen öffnete, ging es mir gut. Ich war ganz ruhig und gelassen – so wie es der Dalai Lama vermutlich immer ist, natürlich ohne Wallegewand und Glatze.

Doch als ich gerade anfing, eins mit dem Universum zu werden, fiel mein Blick aufs Regal und auf die Biohaferflocken, die du immer so geliebt hast, und ehe ich michs versah, musste ich schon wieder weinen. Ich konnte nur noch daran denken, dass du vermutlich jetzt neben deiner neuen Frau aufwachst, dich unter der Bettdecke an sie kuschelst und unaussprechliche Dinge mit ihr machst. Und schon saß ich heulend am Küchentisch und wischte mir mit einem blau-weiß karierten Geschirrtuch die Augen ab. Der arme Tom wusste gar nicht, wo er hinschauen sollte – er flüchtete sich ins Bad und versteckte sich hinter dem Duschvorhang, bis ich es geschafft hatte, mich zusammenzunehmen und mich wieder zu beruhigen.

Es ist wirklich zu komisch. Früher hat es mich wahnsinnig gemacht, dass du jeden Morgen frischen Haferbrei gekocht und das Zeug für die Mikrowelle verweigert hast. Aber inzwischen würde ich alles dafür geben, wenn du wieder die Töpfe anbrennen lassen würdest wie damals. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich dachte tatsächlich, ich wäre über dich – uns – hinweg. Als du vor zwei Jahren gegangen bist, habe ich viel geweint – wahrscheinlich würden die Mengen an wasserfester Wimperntusche, die ich verbraucht habe, für ein ganzes Leben reichen. Übrigens hat es mit keiner funktioniert. Offenbar wurde die chemische Zusammensetzung vor dem Einstieg in die Produktionsphase nie an Frauen mit gebrochenem Herzen getestet.

Mary, die Therapeutin, hat mir Entspannungstechniken beigebracht, falls ich zu sehr unter Stress geraten sollte. Also habe ich meine Tränen getrocknet, mich so gut wie möglich beruhigt und es dann mit den Visualisierungen versucht, die sie mir gezeigt hat, um die positiven Schwingungen zu erhöhen und meine Mitte zu finden. Allerdings war das wegen des Radaus von nebenan unmöglich. Es ist schwierig, sich an einen stillen Ort zu versetzen und innere Ruhe zu finden, wenn Johnny, der Klempner, und seine neue Freundin mit Elan bei der Sache sind und ich durch die Wand jeden Schrei und jedes Stöhnen höre. Du weißt ja, wie Johnny ist, wenn er eine neue Flamme hat. Um sie zu beeindrucken, wendet er in einer einzigen Nacht sämtliche Tricks an, die er aus seiner umfangreichen Pornosammlung kennt. Im Moment arbeitet er sich durch alle Stellungen in Debbie machts mit Dallas. Inzwischen kann ich die Bewegungsabläufe auswendig. Eigentlich sollte ich mich beschweren, aber er ist wirklich nett und knackt immer mein Türschloss, wenn ich wieder mal den Schlüssel vergessen habe (was in letzter Zeit häufig vorkommt). Außerdem hat er das Klo wieder freigekriegt, als es eines Abends übergelaufen ist. Ich freue mich wirklich, dass er eine neue Freundin hat, denn er saß eine Weile ziemlich auf dem Trockenen. Und du kennst ihn ja, wenn er Single ist. Letzten Monat hat er mich wieder angebaggert und mir angeboten, mich nachts zu wärmen, wenn ich möchte. Ich habe ihm möglichst freundlich einen Korb gegeben. Er ist zwar kein schlechter Kerl, hat jedoch offenbar nicht mehr daran gedacht, dass er mich letztens um Rat zum Thema Genitalwarzen gefragt hat.

Jedenfalls habe ich das Visualisieren schließlich aufgegeben, weil Anna wie eine Wilde an die Tür geklopft und mich aus meiner Konzentration gerissen hat. Sie war da, um mir von ihrem neuen Plan zu erzählen.

Der sieht eigentlich ganz einfach aus: Ich soll mir umgehend einen neuen Mann suchen, um deinen Geist ein für alle Mal auszutreiben. Anna findet es nicht normal, dass ich, seit du weg bist, kein einziges Mal verabredet war. Außerdem sollte ich mir zur Ablenkung ein paar One-Night-Stands gönnen. Sie hat ihren Ohren nicht getraut, als ich ihr gestand, ich hätte nie aus reiner Lust auf Sex mit einem wildfremden Mann geschlafen. Laut Anna sollte eine Frau in einem gewissen Alter mindestens ein Dutzend Liebhaber gehabt haben. Es hat mir gar nicht gefallen, von ihr als Frau in einem gewissen Alter bezeichnet zu werden, aber ihr Einwand könnte etwas für sich haben. Ich hatte bis jetzt erst zwei feste Freunde, dich und Connor Maguire, und der zählt nicht richtig, weil wir nur einen Monat zusammen gewesen waren, als er mir sagte, ich sei ihm im Bett zu phantasielos. Er wollte es ständig auf dem Küchentisch treiben. Ich konnte es nicht ausstehen, dass sich dauernd Cornflakeskrümel in jeder noch so winzigen Körperfalte einnisteten. Inzwischen ist er, wie ich gehört habe, mit einer gewissen Tanya zusammen – angeblich eine echte Granate.

Anna meint, dass ich verschrumpeln und mich in eine einsame alte Jungfer verwandeln werde, wenn ich mich nicht bald auf den Markt werfe. Und daran sei einzig und allein ich selbst schuld. Ich müsse mich nur aufbrezeln und in die nächste Kneipe gehen. So hat sie Derek kennengelernt, und sie beharrt darauf, dass die Methode auch bei mir klappen müsse, wenn sie bei ihr geklappt hat. Sie behauptet, den Freitagabend mit einem Buch zu verbringen, während alle anderen einen draufmachten und mit Leuten in die Kiste gingen, die sie gerade in einem Club abgeschleppt hätten, sei das Hinterletzte. Ich habe erwidert, dass sich das nicht sehr aufregend anhörte und dass ich zu schüchtern sei, um in einer Kneipe rumzuhängen und zu hoffen, dass auch nur ein einziger Mann mich anspricht. Aber sie hat erwidert, das sei nur eine Ausrede. Wenn ich derart kontaktscheu sei, gäbe es auch andere Mittel und Wege, sich einen Mann zu angeln. Die Partnersuche im Internet sei der große Renner. Offenbar wimmelt es in diesen Chatforen nur so von hoffnungslosen Fällen, die auf der Suche nach der Liebe sind. Deshalb stünden die Chancen gut, dass ich dort einem normalen Menschen begegne. Anna sagte, ich müsse mich dazu nur online als Menschen darstellen, der mit meinem wirklichen Ich nicht das Geringste zu tun hat. Ich könnte mich ja Sexbombe nennen, so tun, als sei ich rattenscharf, und ein falsches Foto von mir posten. Es sei sehr wichtig anzudeuten, dass mein Busen mindestens doppelt so groß ist wie in Wirklichkeit. Außerdem müsse ich mich als Stimmungskanone präsentieren, die gerne Party macht. Anna ist sicher, dass sich als jemand anderer auszugeben die beste Methode sei, um Männer anzulocken. Es spielt keine Rolle, ob man lügt, weil das alle tun. Sie sagt, ich könne sogar einen Blog starten. Sie liest gerade einen ganz tollen von einer Büroangestellten, die eine Affäre mit ihrem verheirateten Chef hat. Viele Leute, die sie kennt, sind regelrecht süchtig danach. Ich habe Anna erklärt, dass ich keine Lust habe, im Cyberspace die Sexbombe zu mimen. Falls ich überhaupt eine neue Beziehung will, worüber ich mir nicht sicher bin, dann mit einem netten Mann, der mich so nimmt, wie ich bin. Anna entgegnete, ich müsse meine Ansprüche herunterschrauben, und zwar stark, denn einen netten Mann zu finden, der mich so nimmt, wie ich bin, könnte ziemlich schwierig werden. Die wenigsten Männer stünden auf eins achtzig große Bohnenstangen, die nicht bei der ersten Verabredung mit ihnen in die Kiste springen. Sie fügte hinzu, sie werde jetzt Vollgas geben, ganz gleich, ob ich nun kooperationswillig sei oder nicht. Und da sie wisse, dass ich nicht bereit sei, selbst etwas zu unternehmen, habe sie ein Blind Date für mich arrangiert. Wenn ich nicht hinginge, wolle sie nichts mehr mit mir zu tun haben und lehne jegliche Verantwortung ab, falls ich als Trauerkloß enden sollte. Sie bedaure es zwar, so schonungslos sein zu müssen, doch sie wolle wirklich nur mein Bestes und werde ein Nein nicht gelten lassen. Du weißt ja, wie hartnäckig sie sein kann. Derek hatte in letzter Zeit wieder einen Unterwäsche-Rückfall. Sie hat ihm gedroht, wenn er sich den Tanga-Fetischismus nicht schleunigst abgewöhnt, werde sie ihn und seine Dessous auf die Straße werfen.

Meine Verabredung heißt Cyril und ist erfolgreicher Steuerberater, hat allerdings Pech in der Liebe (Anna beteuert, dass er nicht von jeder Frau auf der nördlichen Erdhalbkugel einen Korb gekriegt hat). Er ist zwei Jahre jünger als ich (aber ich versuche, mich nicht davon abschrecken zu lassen). Wir treffen uns zum Mittagessen in der Lobby des Sheldon Hotel – Anna sagt, eine Verabredung sollte »sicherheitshalber« an einem belebten Ort stattfinden. Ich habe sie gefragt, was »sicherheitshalber« zu bedeuten hat, doch sie wollte es nicht näher ausführen. Sie hat versprochen, mich eine halbe Stunde später anzurufen. Falls sich die Verabredung als Fiasko entpuppt, soll ich vortäuschen, meine schwerkranke Großmutter fühle sich nicht wohl, und mich mit dieser Ausrede verdrücken. Ich habe Anna erklärt, dass Cyril diese Ausrede sofort durchschauen wird, weshalb wir uns etwas Originelleres einfallen lassen müssten. Aber sie widersprach, dass er es bestimmt schluckt. Allmählich habe ich den Verdacht, dass dieser Cyril nicht unbedingt ein Genie ist, obwohl er als Steuerberater eine eigene Kanzlei hat und eine Dreizimmerwohnung in der Innenstadt besitzt.

Seitdem zermartere ich mir das Hirn wegen passender Gesprächsthemen. Bis jetzt ist mir noch kaum etwas eingefallen. Vielleicht sollte ich meinen Steuerbescheid mitbringen, damit er einen Blick darauf wirft. Ist doch eine gute Methode, um das Eis zu brechen – und ein paar kostenlose Finanztipps können auch nicht schaden. Seit ich mit der Therapie angefangen habe, ist es finanziell ein bisschen eng geworden, obwohl die Beziehungstests für Sie einiges einbringen. Wenn ich die Behandlung bei Mary fortsetzen will, muss ich die Dinger wie am Fließband produzieren. Habe Mary letztens in einem Sportwagen mit offenem Verdeck herumfahren sehen – kein Wunder, dass eine Sitzung bei ihr so teuer ist. Mary sagt übrigens, dass Annas Plan sehr hilfreich sein könnte, sofern es sich bei dem betreffenden Mann nicht um einen Psychokrüppel handelt, der mein Selbstbewusstsein mit Füßen tritt und meinen Weg in Richtung emotionaler Ausgeglichenheit behindert. Nachdem ich ihr erzählt hatte, Cyril hätte laut Anna nicht viel Selbstbewusstsein, weshalb er meinem kaum gefährlich werden könne, schien sie zufrieden und gab mir ihren Segen. Sie findet es eindeutig positiv, wenn ich mehr unter die Leute gehe. Sie fügte hinzu, zu Hause zu arbeiten und mit der Außenwelt hauptsächlich per E-Mail zu kommunizieren, könnte ungesund sein, weshalb ich mir vielleicht überlegen sollte, mich nach einem traditionellen Bürojob umzusehen. Habe diesen Rat ignoriert. Freiberuflich von zu Hause aus zu arbeiten ist gut für mich. Und keine neugierigen Kolleginnen zu haben, die mir peinliche Fragen nach meinem Liebesleben stellen, ist sogar noch besser.

Jedenfalls ist Anna wegen meines Blind Date sehr aufgeregt. Sie ist überzeugt, dass ich nur einen guten Fick brauche, um aus meiner Misere herauszukommen, und hofft, Cyril wird ihn liefern. Ich hatte nur leider so lange keinen Sex mehr, dass ich gar nicht wüsste, wo ich anfangen soll. Vielleicht sollte ich ja wirklich nicht so altmodisch sein und einfach ein wenig leben. Anna ist offenbar dieser Ansicht.

Eve

Drei Engel gegen Charlie
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