Julies Blog
9:01
E-Mail von R.:
Lange nichts voneinander gehört. Wie geht es dir? Alles in Ordnung, seit du mit Mr X Schluss gemacht hast?
Mist. Kann R. nicht die Wahrheit beichten. Sie wird nie wieder mit mir reden, wenn sie erfährt, dass ich mich nicht nur weiter mit Mr X treffe, sondern ihn sogar bei mir wohnen lasse. Wenn sie nicht so ein guter, ehrenwerter Mensch wäre, würde sie vielleicht verstehen, wie kompliziert alles ist. Ich muss sie anlügen. Nur ein bisschen flunkern. Bis ich ihr reinen Wein einschenken kann. Bin nicht sicher, wann das der Fall sein wird. Aber hoffentlich bald. Morgen. Nun, vielleicht nicht morgen. Möglicherweise übermorgen. Oder nächste Woche. Jetzt flüchte ich mich erst mal in eine kleine Notlüge und biege später alles wieder hin. Dass Mr X bei mir eingezogen ist und die Fernbedienung an sich gerissen hat, darf sie auf keinen Fall erfahren. Ich bin noch immer entsetzt, dass er auf den Discovery Channel steht! Welcher Mensch unter neunzig mag den Discovery Channel? Ich habe meinen Augen nicht getraut! Es war schon schlimm genug, so tun zu müssen, als würde ich dieses scheußliche, halb rohe Bio-Wokgemüse essen (offenbar bleiben bei halb rohem Gemüse die Nährstoffe besser erhalten). Und anschließend mussten wir uns einen langweiligen Dokumentarfilm über einen Eingeborenenstamm im Dschungel anschauen – wen interessiert denn das? Mich nicht. Nicht, wenn ich mir dringend E! ansehen muss, um den neuesten Promi-Klatsch nicht zu verpassen. Habe aber den Mund gehalten und ihm vorgespielt, dass ich es spannend fände zu lernen, wie man einen Fisch mit einem Stein und einem Stock fängt. Dabei habe ich wirklich darauf gebrannt zu erfahren, was derzeit bei Brad und Ange läuft. Vielleicht sollte ich mir einen zweiten Fernseher fürs Schlafzimmer anschaffen. Das Problem ist nur, dass es keinen Platz mehr gibt, um ihn aufzustellen, weil er jede freie Fläche mit seinen Büchern über Anthropologie zugestapelt hat. Aber ich sollte wahrscheinlich froh sein, dass wir wenigstens Sex hatten. Natürlich war es nicht so wild und leidenschaftlich wie im Materiallager, doch das liegt vielleicht daran, dass wir beide ein bisschen verkrampft sind. Sicher brauchen wir Zeit, um uns an diese neue Situation zu gewöhnen und uns in unsere Rollen in einer Lebensgemeinschaft einzufinden. Dann wird es bestimmt wieder heißer hergehen.
Jedenfalls schicke ich R. jetzt schnell eine Mail, um sie auf eine falsche Fährte zu locken.
9:06
E-Mail an R.:
Hallo, tut mir leid, bei der Arbeit geht es momentan rund. Melde mich bald, damit wir zusammen einen draufmachen können. Xx
Mein Gott, ich fühle mich wirklich mies, weil ich sie so belüge. Aber ich kann ihr nicht die Wahrheit sagen, denn dann würde sie mich verachten. Außerdem könnte sie es in diesem Fall weitererzählen, und was würden diese Leute dann von mir denken? Dass ich Ehen zerstöre. Dass ich ein schlechter Mensch ohne moralische Grundsätze bin.
Aber der Fairness halber muss man feststellen, dass ich Mr X nicht gebeten habe, seine Frau zu verlassen. Ich habe sogar überlegt, ob ich die Affäre nach seiner Rückkehr aus den Flitterwochen fortsetzen will. Doch jetzt hat er sich in mich verliebt, und was soll ich tun? Ich kann ihm schlecht sagen, dass ich ihn nicht in meiner Wohnung haben will. Natürlich will ich. Es ist eine wahnsinnige Vorstellung: Er liebt mich so sehr, dass er sogar seine Ehe aufgibt, damit wir zusammen sein können. Es ist nur … es ist nur, dass es schön gewesen wäre, wenn er vorher mit mir darüber gesprochen hätte. Wenn er mich gefragt hätte, ob ich einverstanden bin. Oder ob es mich stört. Aber daran darf ich jetzt nicht denken. Damit befasse ich mich morgen. Oder übermorgen. Oder vielleicht nächste Woche. Nur nicht jetzt.
9:10
E-Mail von R.:
Super – ein Mädelsabend wäre klasse!
Sie hat recht … ein Mädelsabend wäre wirklich klasse. Aber ich sollte abwarten, bis Mr X sich eingewöhnt hat, bevor ich mit den Mädels um die Häuser ziehe. Ich bin nicht sicher, ob ich ihm überhaupt erzählt habe, wie gerne ich abrocke. Es könnte ihn überraschen, dass ich am liebsten so oft wie möglich bis zum Morgengrauen tanze. Ich weiß nicht einmal, ob er es überhaupt kann. Schwer vorzustellen, dass er bei zuckender Lichtorgel wild herumspringt. Obwohl er bei seiner Hochzeit sicher mit seiner Frau getanzt hat. Wahrscheinlich etwas richtig Spießiges wie Wiener Walzer.
9:12
Ich frage mich, wie es seiner Frau geht. Bestimmt ist sie völlig fertig. Wahrscheinlich kann sie nicht schlafen. Oder essen. Mein Gott, hoffentlich hat sie keine Dummheiten gemacht.
9:15
Andererseits wäre das nicht meine Schuld. Mir kann niemand den Schwarzen Peter zuschieben. Schließlich habe ich ihn nicht gebeten, sie zu verlassen. Ich habe es auch nicht erwartet. Zum Glück kenne ich sie nicht. Das wäre schrecklich. Ich weiß nichts über sie – nicht, wie sie aussieht, wo sie arbeitet, gar nichts. Das war immer die Übereinkunft zwischen Mr X und mir. Ich habe sorgfältig darauf geachtet, sie nicht zu erwähnen, und er hat es genauso gehalten. Außerdem war sowieso nie Zeit dafür. Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, übereinander herzufallen, um viel zu reden. Ich kenne nur ihren Namen – Molly –, und das auch nur, weil ich die überteuerte Glückwunschkarte unterschreiben musste, die LK eins Mr X vor dem großen Tag überreicht hat.
10:29
E-Mail von Mr X:
Komm um elf ins Besprechungszimmer.
Hmmm … was mag er wohl wollen? Warum möchte er sich mit mir im Besprechungszimmer treffen?
10:32
Nur so ein Gedanke … vielleicht ist es ja eine verschlüsselte Botschaft. Schließlich haben wir uns geschworen, uns keine scharfen Mails mehr zu schreiben. Also könnte das sein Weg sein, mir zu sagen, dass er schlimme Dinge mit mir vorhat! Er will mich auf dem Konferenztisch verführen!!
10:34
Moment mal. Wenn Mr X mich um elf treffen möchte, heißt das, dass er am helllichten Tag Sex im Besprechungszimmer haben will. Das ist sehr riskant – wir könnten erwischt werden. Jeder X-Beliebige könnte vorbeikommen und uns sehen. Das geht auf gar keinen Fall.
10:35
Habe mir überlegt, dass er das Besprechungszimmer sicher vorgeschlagen hat, damit der Sex durch den erhöhten Risikofaktor noch aufregender wird. Das klingt schon viel besser! Letzte Nacht war es soooo langweilig im Bett. Vielleicht fand er das auch und will die Sache nun ein bisschen aufpeppen! Genau wie früher. Ein Glück, dass ich heute meinen besten String mit Leopardenmuster anhabe. Der schnürt mir zwar untenrum alles ab, aber jetzt war es die Qualen wert!
10:36
Bin nicht sicher, ob es mir gefällt, dass meine Kolleginnen mich beim Sex ertappen könnten – das wäre sicher sehr peinlich. Vielleicht wäre es ungefährlicher, den heißen, schweißtreibenden Sex mit Mr X in das altbewährte Materiallager zu verlegen, wo es immer stockfinster ist und nie jemand hereinkommt.
10:37
Andererseits könnte Sex auf dem Konferenztisch auch toll sein.
10:38
Vielleicht sogar toller als toll. Womöglich sogar der beste Sex aller Zeiten. Könnte mich um den Verstand bringen.
10:42
E-Mail von LK eins:
Hast du meine Presse von heute Morgen gesehen? Das solltest du dir anschauen. Wie läuft eigentlich deine derzeitige Kampagne? Falls du Tipps brauchst, wie man die Öffentlichkeitswirksamkeit optimiert, gib mir Bescheid!
Kann LK eins schon von hier aus selbstzufrieden grinsen sehen. Am liebsten würde ich einen Satz über den Schreibtisch machen und ihr eins mit meinem Laptop überziehen.
10:49
Vielleicht sollte ich schnell aufs Klo gehen, um mich frischzumachen und mich vor meinem Treffen mit Mr X vergewissern, dass optisch wirklich alles in Ordnung ist. Werde Lippenpomade mit Kirschgeschmack auftragen und mein Dekolleté mit Glitzerpuder bestäuben, um »die Büste dezent zu betonen«, wie es auf der Verpackung heißt. Es ist lebenswichtig, dass Mr X mich beim Anblick meines strahlend funkelnden Ausschnitts absolut unwiderstehlich findet. Wir dürfen einander nicht für selbstverständlich nehmen, nur weil wir jetzt zusammenwohnen. Der Funke muss unbedingt am Leben erhalten werden.
11:41
Zurück am Schreibtisch.
Habe mich nicht mit Mr X auf dem Konferenztisch um den Verstand gevögelt. Als ich – die drei obersten Knöpfe offen, um mein funkelndes Dekolleté zu betonen – hereingerauscht kam, saßen alle LKs da, raschelten mit Papieren und spitzten ihre Bleistifte. War anfangs ein bisschen erschrocken – Mr X wird sich doch nicht in einen Perversen verwandelt haben, der auf Gruppensex steht! Doch dann dämmerte mir, dass er die Mail an alle, nicht nur an mich, geschickt hat, um sie zu einer Sitzung zum Thema Medienstrategien für Neukunden zusammenzurufen. Er wollte mich gar nicht verführen. Stattdessen sollte ich den anderen aus dem Stand meinen detaillierten Medienplan für Mr Thriller erläutern. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich ihm Überrumpelungstaktik unterstellt.
Zum Glück hatte gerade die Zeitschrift Sie angerufen und um ein Interview angefragt. Also habe ich das ein bisschen aufgepeppt. Nun, ich habe gesagt, dass Elle großes Interesse an einem zweiseitigen Artikel über ihn gezeigt hätte. Genau genommen hat Elle nicht das geringste Interesse an Mr Thriller an den Tag gelegt, aber das braucht ja niemand zu wissen. Sie ist nicht unbedingt ein prestigeträchtiges Blatt, weshalb ich nicht anders konnte, als ein bisschen zu übertreiben. Konnte hören, wie LK eins bei diesen Worten lachte, ganz so, als glaubte sie mir nicht. Doch die anderen wirkten sehr beeindruckt, insbesondere Mr X. Bin sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Elle mit an Bord kommt. Vielleicht sollte ich der Chefredakteurin einen Obstkorb schicken, um mich bei ihr einzuschmeicheln. Darum geht es schließlich bei der PR-Arbeit: das Knüpfen von Beziehungen und sich bei seinen Mitmenschen nach Kräften einzuschleimen.
11:45
Ein Geistesblitz: Ich werde Sie erzählen, dass Elle Interesse an Mr Thriller hat, wenn ich anrufe, um den Termin zu bestätigen. Kann nicht schaden, wenn es sich herumspricht, dass er gefragt ist und dass sie Glück haben, ihn zu kriegen.
11:47
E-Mail von N.:
Hallo, du treulose Tomate, von dir hört man ja gar nichts mehr … lass mich raten: Du bist so sehr damit beschäftigt, deinen Chef zu vögeln, dass du keine Zeit mehr zum Mailen hast.
11:48
Mist. Kann keine Geheimnisse vor N. haben. Die merkt immer sofort, wenn ich lüge, sogar online.
11:50
E-Mail an N.:
So ähnlich, aber erzähl R. nichts davon. Melde mich bald und erstatte Bericht. x
11:56
E-Mail von N.:
Klingt aufregend! Bis bald x
12:01
E-Mail von LK eins:
Gratuliere zum Elle-Interview – freue mich schon darauf. Wann bringen sie es denn?
Die blöde Kuh weiß, dass ich bluffe.
12:03
E-Mail von Mr X:
Deine kleine Präsentation ist sehr gut gelungen – klang spitze. Tut mir leid, dass ich dich so damit überfallen habe, aber ich muss darauf achten, dich so zu behandeln wie alle anderen, und konnte dich deshalb nicht vorwarnen. Wann bringt Elle denn übrigens das Interview?
Mist. Hat er mir etwa auch geglaubt? Muss ihm die Wahrheit beichten. Allerdings hat er gesagt, er müsse mich so behandeln wie alle anderen. Also könnte ich mir mit einer Beichte mächtig Ärger einhandeln. Vielleicht sollte ich diese Information deshalb noch eine Weile für mich behalten und schauen, wie sich die Sache entwickelt. Wahrscheinlich vergisst er es sowieso, insbesondere, wenn ich ihn heute Nacht so richtig verführe.