Molly

»Ich bin ja sooo aufgeregt!«, jubelt Samantha. »Ich kann es kaum erwarten, David Rendell kennenzulernen!«

Wir sitzen in der Vorhalle des Sheldon Hotels. Samantha hüpft auf ihrem Sessel hoch und nieder und klatscht in die Hände. Wenn sie Zöpfe tragen würde, könnte sie als Achtjährige durchgehen.

Ich kämpfe mit aller Kraft gegen die Übelkeit an. Offen gestanden macht mich der Gedanke an eine Begegnung mit David so nervös, dass ich momentan nur daran denken kann, dass ich auf gar keinen Fall anfangen darf zu kotzen. Dass der Anblick des Teppichs in der Lobby mir den Magen umdreht, verbessert die Lage nicht unbedingt. Die Mischung aus senfgelber und neongrüner Schurwolle verstärkt das flaue Gefühl. Vielleicht ist es ja auch die rote Zickzackkante – ja, daran könnte es liegen.

»Ich kann verstehen, warum du mit ihm gegangen bist, Molly«, fährt Samantha fort und liebkost das Foto von David auf der Innenklappe des Buchumschlags. »Sieht er in Wirklichkeit auch so hinreißend aus?«

Ich werfe einen Blick auf das Foto. Es geht gerade so, wird ihm aber eigentlich nicht gerecht. Dem Fotografen ist es nicht gelungen, das typische Funkeln in seinen Augen einzufangen, das ich so geliebt habe. Ich kenne bessere Aufnahmen von ihm. Wie das Bild, das ich ein paar Monate nach dem Anfang unserer Beziehung gemacht habe. Wir waren gerade Arm in Arm durch die Dünen zum Strand gestapft. David hasste es, fotografiert zu werden, doch irgendwie schaffte ich es, ihn zu überreden, bis er sich schließlich lachend geschlagen gab und am Ufer posierte. Auf dem Foto dreht er sich halb zur Kamera. Ein leicht schiefes Lächeln spielt um seine Lippen. Die langen Fransen hängen ihm in die Augen. Es war schon immer mein Lieblingsfoto von ihm. Noch lange nach unserer Trennung trug ich es, ordentlich gefaltet, in der Handtasche mit mir herum und holte es jeden Abend vor dem Schlafengehen heraus, um es zu betrachten.

»Er ist wirklich eine Wucht.« Samantha redet immer noch. »Du warst verrückt, dich von ihm zu trennen!«

Dann fällt ihr offenbar ein, dass ich frisch verheiratet bin, weshalb Ex-Freunde vielleicht nicht das geeignete Thema sind.

»Nicht, dass Charlie nicht auch eine Wucht wäre. Natürlich ist er das, und er sieht auch toll aus«, rudert sie zurück. »Du hast eindeutig Geschmack.«

Sie hüpft immer noch auf ihrem mit Samt gepolsterten Queen-Anne-Stuhl auf und nieder. Ihre Stimme summt mir so aufdringlich im Ohr wie eine Fliege, die ich nur zu gerne verscheuchen würde.

Kein Wunder, dass Minty sie nur selten aus dem Büro lässt. Ich hatte gedacht, dass sie mich heute ablenken würde, doch inzwischen bin ich nicht mehr so sicher. Wenn sie nicht bald den Mund hält, werde ich sie vielleicht ermorden müssen.

Alles läuft schief, und dabei ist David noch nicht einmal hier. Erstens hätte ich die Bestellung des Taxis nicht Samantha überlassen sollen. Ich hätte wissen müssen, dass wir wegen ihrer Begeisterung viel zu früh hier sein würden. Außerdem hat sie während der ganzen Fahrt auf den Taxifahrer eingeredet. Der Arme war noch recht guter Laune, als wir einstiegen, aber sie hat ihm mit ihrem hirnlosen Geplapper über den Verkehr, das Wetter und Reality-TV so das Ohr abgekaut, dass er ziemlich erledigt wirkte, als er uns vor dem Hotel absetzte. Beim Bezahlen schenkte er mir ein verkniffenes Lächeln, das wohl »Ich spüre Ihren Schmerz« besagen sollte, und brauste dann viel zu schnell davon, sodass er beinahe eine alte Dame umgefahren hätte, die gerade die Bridge Street überqueren wollte. Jetzt sind wir hier, und nichts läuft so, wie ich es geplant habe.

Eigentlich wollte ich ein wenig zu spät kommen – nicht zu sehr, nur genug, um lässig zu wirken. Ich wollte, strahlend aussehend und gelassen, in die Lobby rauschen und mich geistesabwesend umschauen, als könne ich mich nicht genau erinnern, was ich eigentlich hier wollte. So als hätte ich nicht endlose Stunden damit verbracht, über den Moment nachzugrübeln, in dem ich David wieder gegenüberstehen würde. Schließlich hätte ich ihn bemerkt, ihm zur Begrüßung leicht zugenickt, wäre träge lächelnd, selbstbewusst und mit sinnlichem Hüftschwung auf ihn zugeschlendert und hätte dabei Blickkontakt gehalten. Samantha wäre hinter mir hergekeucht, hätte meine Tasche getragen und den Eindruck erweckt, sie sei meine Sekretärin.

In Gedanken hatte ich mir alles wunderbar zurechtgelegt. Ich wusste, das mit dem trägen Lächeln würde das Schwierigste werden – es klingt viel einfacher, als es in Wirklichkeit ist. Es richtig hinzukriegen ist eine Kunst, wenn man nicht aussehen will, als hätte man eine Schraube locker oder litte an einem zuckenden Nerv in der Lippe. Der Hüftschwung wäre das geringere Problem gewesen – die vielen Male, die ich den Weg zum Altar geübt habe, hätten sich bezahlt gemacht.

Allerdings war das A und O, dass ich alles im Griff hatte und einen gekonnten Auftritt hinlegte – anstatt viel zu früh zu kommen, nervös in der Hotelhalle herumzusitzen, mich ohnmächtig zu fühlen und mich anzustrengen, nicht auf den scheußlichen Teppich zu kotzen. Wenn ich mich nicht so elend fühlen würde, würde ich Samantha mit bloßen Händen erwürgen.

Ich krame die Puderdose mit Spiegel aus der Tasche, um festzustellen, wie sehr mich die Lichtverhältnisse entstellen. Natürlich sehe ich, weil ich gleich David treffe und strahlend schön sein will, absolut zum Fürchten aus. Mein Gesicht ähnelt einer von feinen Linien und Falten durchzogenen Straßenkarte, und in meine Tränensäcke würde das Gepäck für einen einmonatigen Urlaub passen. Möglicherweise liegt es ja an der Beleuchtung in der Hotelhalle, aber meine Haut hat einen eindeutigen Graustich.

Warum kann ich nicht ausnahmsweise mal gut aussehen? Natürlich nicht wie ein Supermodel, schließlich leide ich nicht an Realitätsverlust. So als habe seit Davids und meiner letzten Begegnung die Zeit stillgestanden, würde mir schon genügen. Noch besser wäre es, wenn sich die Zeit zurückgedreht hätte, sodass ich nun wie eine frische Achtzehnjährige wirke, nicht wie eine abgekämpfte Dreiunddreißigjährige, die eine kleine Gesichtsstraffung gebrauchen könnte.

Ich bewege den Kopf hin und her, um mir ein Bild vom Ausmaß der Misere zu machen. Heute Morgen habe ich das Make-up mit dem Spachtel aufgetragen, um mich vorzeigbar herzurichten. Doch inzwischen hat es sich in jeder Falte und Nische meines Gesichts abgesetzt. Eigentlich sollte es ja für eine makellose Haut sorgen – es ist dazu da, Fältchen zu glätten und Altersflecken abzudecken. Aber es tut nichts dergleichen. Ich sehe weder glatt noch jugendlich aus, sondern eher wie eine Transe, die einen schlechten Tag hat.

Dass David die Falten bemerken wird, steht außer Frage. Und die fahle Haut. Außer, er hat inzwischen Probleme mit den Augen. Nicht, dass ich ihm einen Grauen Star wünsche – das wäre schrecklich –, nur eine leichte Sehstörung, die jetzt sehr praktisch wäre. Oder einen vorübergehenden Anfall von Erblindung. Vielleicht schaut er auf dem Weg hierher ja in die Sonne und verbrennt sich die Netzhaut oder die Bindehaut oder wie man das auch nennt – das könnte klappen. Ich sehe aus dem Fenster. Es nieselt. Die Chancen, dass er versehentlich geblendet wird, sind also ziemlich gering.

»Ich weiß genau, was ich ihn fragen werde.« Samantha redet immer noch. »Ich habe alles vorbereitet.«

Ich versuche, mich zu konzentrieren. Wenn ich mich bemühe, ein Gespräch mit ihr zu führen, lenkt mich das vielleicht davon ab, dass mein Magen hin und her schwappt, als befänden wir uns in einem Orkan auf der Fähre nach Wales, während ich mich mit Leibeskräften an eine weiße Kotztüte klammere.

»Verzeihung?« Ich zwinge mich, sie anzuschauen, obwohl ich beim Anblick ihres reinen Teints und der rosigen Wangen Depressionen kriege. Früher hatte ich auch einmal so eine Haut. Ob ich das mit dem Lifting vergessen und stattdessen Collagenspritzen ins Auge fassen sollte? Oder Wangenimplantate. Das tut sicher nicht sehr weh. Oder ein bisschen Botox. Al schwört auf Botox. Er hat seit Jahren nicht mehr die Stirn gerunzelt und sagt, er habe sich nie besser gefühlt. Auch wenn seine Mimik manchmal ein wenig starr ist. Möglicherweise ist das eben der Preis, den man dafür zahlen muss. Ich frage mich, ob wir einen Rabatt kriegen, wenn wir zusammen hingehen. Zwei für den Preis von einem.

»Meine Fragen an ihn«, wiederholt Samantha geduldig. »Ich habe nämlich recherchiert.«

Sie zieht einen Papierstapel aus der Tasche. Die Seiten werden von blauen Bürogummis zusammengehalten, und hie und da lugen Post-it-Etiketten hervor. Auf den Post-its kann ich jede Menge handschriftliche Notizen ausmachen. Und Fragezeichen. Entgeistert starre ich auf die Papiere. Warum hat sie dieses ganze Zeug mitgebracht?

»Weißt du« – sie beugt sich mit verschwörerischer Miene vor –, »ich habe einige seiner früheren Romane gelesen und ein paar Ungereimtheiten in der Handlung entdeckt. Und auf die werde ich ihn ansprechen.«

Wovon redet sie, um Himmels willen? Ist sie jetzt völlig übergeschnappt?

»Was soll das heißen?«, erkundige ich mich.

»Nun, durch meine Beziehung mit Steve habe ich tiefe Einblicke in das Denken eines Verbrechers gewonnen. Wenn der Täter in Davids Tödliche Nacht seine Mordserie begeht, ist eindeutig die kalte Einstellung seiner Mutter schuld daran. Allerdings wird das im Text nicht klar erwähnt. Verstehst du, was ich meine?«

Sie blättert in den Papieren.

Oh Gott, Samantha ist durchgedreht. Der Briefwechsel mit einem Todeskandidaten hat sie endgültig um den Verstand gebracht.

»Hör zu, Samantha.« Wenn ich sie nicht bremse, ergreift David die Flucht, wir können unser Exklusivinterview vergessen, und Minty wird uns zu ihrer persönlichen Erbauung am nächsten Deckenbalken aufknüpfen.

»Du wirst ihn gar nichts fragen. Und das ist mein Ernst. Deine Aufgabe ist es, dir Notizen zu machen. Mehr nicht.«

Enttäuschung breitet sich auf Samanthas Gesicht aus.

»Aber ich dachte, du wolltest, dass ich dir helfe.«

Sie wirkt so bedrückt, dass ich es nicht über mich bringe, sie zu frustrieren. Außerdem wird Minty das später sowieso selbst erledigen. Also rudere ich zurück. Nur ein bisschen. Nicht so viel, dass sie glaubt, sie dürfe mitreden, doch genug, um ihr Selbstbewusstsein nicht zu zerstören.

»Das will ich auch«, erwidere ich beschwichtigend. »Du hast mir ja schon sehr geholfen. Es ist nur …« Ich überlege, was ich sagen soll. Etwas, das verhindert, dass sie das ganze Treffen sabotiert, und sie gleichzeitig zum Schweigen bringt.

»David hat eine Soziophobie.«

Keine Ahnung, wie mir das plötzlich einfallen konnte.

Ihr bleibt der Mund offen stehen.

»Ja …« Ich erwärme mich für mein Thema. »Er hält es unter Menschen nicht aus. Es macht ihm Angst. Er kriegt dann einen entsetzlichen Ausschlag. Am ganzen Körper. Und … er hat Zuckungen. Wirklich schlimm. Wie bei einem Anfall.«

»Oh mein Gott, wie furchtbar.« Samantha schlägt die Hand vor den Mund.

»Ja, ich weiß. Viele Schriftsteller leiden daran. Das Schreiben ist ja so ein einsamer Beruf. Da kann man schon ein wenig …« Ich tippe mir an die Stirn, damit sie versteht, was ich meine.

»Verrückt werden?«, flüstert sie.

»Genau«, bestätige ich. »Es ist ein Trauerspiel.«

»War er auch schon während eurer Beziehung so?«

Ich halte inne. Wenn ich glaubhaft klingen will, muss ich schwindeln. Sonst könnte sie alles Mögliche zu ihm sagen.

»Ja«, antworte ich mit schlechtem Gewissen. »Deshalb haben wir uns ja … du weißt schon …«

»Deshalb habt ihr euch getrennt? Oh, wie schrecklich.« Samantha treten Tränen in die Augen. Sie beugt sich über den Tisch und nimmt meine Hand. »Das tut mir ja so leid.«

Allmählich kriege ich richtige Schuldgefühle. Sie fällt tatsächlich darauf herein. Aber es ist zu ihrem eigenen Besten. Ich darf auf keinen Fall zulassen, dass sie David nach seinen Romanen ausfragt. Ich muss mich auf das Interview konzentrieren und mich so schnell wie möglich wieder aus dem Staub machen. Nur so werde ich es durchstehen.

Samantha ist aufgesprungen und lehnt sich über den Couchtisch, um mich zu umarmen. Sie muss wirklich an ihrer Distanzlosigkeit arbeiten, doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, dieses Thema zur Sprache zu bringen. Als sie sich vorbeugt, um mich zu trösten, kippt ihre Tasche um, und der gesamte Inhalt fällt heraus. Oben auf dem Haufen liegt eine gewaltige Designersonnenbrille mit eingelassenen Strasssteinen. Da habe ich eine neue Idee. Wenn ich eine riesige Sonnenbrille aufsetze, merkt David vielleicht nicht so sehr, wie abgehärmt mein Gesicht ist. Diese Brille ist so riesig, dass sie den Großteil von mir verdecken würde.

»Äh … kann ich mir deine Sonnenbrille leihen?«, frage ich. »David hat nicht gerne Blickkontakt mit anderen Menschen. Das gehört zu seiner Störung. Es macht ihn fertig, wenn ihm jemand direkt in die Augen schaut. Vielleicht fühlt er sich weniger unwohl, wenn ich sie aufsetze.«

»Natürlich!«, zischt sie und drückt sie mir in die Hand. »Schnell, nimm sie, er kommt.«

Mir krampft es den Magen zusammen. Jetzt ist es so weit. Er ist da. Ich habe gerade noch Zeit, mir die Sonnenbrille auf die Nase zu schieben, als er schon vor mir steht.

»Hallo«, sagt er. Seine Stimme ist noch genauso, wie ich sie im Gedächtnis habe. Dunkel und rau.

Sobald mein Blick auf sein Gesicht fällt, bringe ich keinen Ton mehr heraus. Doch das ist auch gar nicht nötig, denn Samantha stürzt sich sofort auf ihn.

»David, ich freue mich ja so, Sie kennenzulernen. Ich bin ein großer Fan von Ihnen!« Sie packt seine Hand, schüttelt sie kräftig und macht im nächsten Moment einen Satz rückwärts. »Ach, herrje, es tut mir ja so leid. Wahrscheinlich mögen Sie es nicht, wenn andere Sie anfassen, in Ihrem Zustand und so …«

Sie starrt zu Boden. Ich weiß, was sie tut – sie versucht, wegen seiner Soziophobie den Blickkontakt mit ihm zu vermeiden.

»Mich anfassen? Nein, das geht schon in Ordnung.« David macht ein verdattertes Gesicht.

»Oh, gut, ich dachte nur …« Dann fällt ihr ein, dass ich sie ja angewiesen habe zu schweigen, und sie verstummt.

Er steht vor mir. Oh mein Gott, er sieht hinreißend aus. Ich muss etwas sagen. Mein Mund ist absolut trocken. Ich muss etwas sagen.

Als ich mühsam aufstehe, rutscht mir die Brille von der Nase.

»Hallo, David«, stoße ich hervor und schiebe sie zurück an ihren Platz. »Schön, dich … äh … zu sehen.«

»Molly.« Er nickt mir zu, schüttelt mir aber nicht die Hand. Er küsst mich auch nicht auf die Wange. Und er umarmt mich nicht freundschaftlich. Er hasst mich – das steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er hat ja allen Grund dazu. Schließlich habe ich ihm übel mitgespielt.

»Möchtest du … äh … eine Tasse Tee?«, frage ich, wobei ich bete, dass die Brille nicht noch einmal hinunterrutscht. Dann würde er nämlich mitkriegen, wie schrecklich ich aussehe, und das darf auf gar keinen Fall passieren. Nicht, wenn er so hinreißend ist.

»Klar.« Er nickt, und obwohl ich es mir vielleicht nur einbilde, glaube ich, dass er mich anlächelt. Mir wird ganz schummerig.

»Gut, ich kümmere mich darum«, sage ich.

So gewinne ich Zeit, um mich wieder zu fassen und mir selbst eine strenge Standpauke zu halten. Mein Mann ist zwar verschwunden, aber ich bin dennoch eine verheiratete Frau und darf deshalb nicht so für einen Ex-Freund empfinden. Doch bevor ich mich in Bewegung setzen kann, tritt Samantha vor.

»Überlass das nur mir!«, erbietet sie sich. »Ich erledige das. Tee für alle.«

»Nein, schon gut, ich gehe.« Ich blicke sie finster an.

Nein, nein, nein, schreit meine innere Stimme. Du darfst nicht allein mit ihm sein. Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass du allein mit ihm bist.

»Sei nicht albern.« Sie schiebt mich weg. »Ich schaffe das schon. Schließlich bin ich hier, um zu helfen!« Sie zwinkert mir verschwörerisch zu. »Warum unterhaltet ihr euch nicht ein bisschen?« Mit diesen Worten ist sie verschwunden.

Ich werde sie umbringen. Das schwöre ich hier und jetzt.

Panisch zermartere ich mir den Kopf nach einem Gesprächsthema. Smalltalk? Soll ich mit ihm über das schauderhafte Wetter reden? Den Verkehr? Den Treibhauseffekt?

Nein, am besten bleibe ich bei meinem Auftrag und komme sofort zum Beruflichen. Das ist am unverfänglichsten.

»Also …« Ich krame in meiner Tasche und hole Block und Diktiergerät heraus, um Zeit zu schinden. »Ich habe einige Fragen für das Interview vorbereitet.«

Das war gut und klang sehr professionell. Wenn ich das durchhalte, bin ich aus dem Schneider.

»Okay.«

Wieder lächelt er. Diesmal nicht so verhalten – ein wenig offener. Was schön ist. Sehr schön. Er hat ein winziges Grübchen im Mundwinkel. Das hatte ich ganz vergessen. Oh Gott, wie süß. Und ich glaube, ich kann den Moschusduft seines Rasierwassers riechen. Ich schließe die Augen hinter der Sonnenbrille und schnuppere. Dieses Rasierwasser habe ich am liebsten.

»Molly?«

»Ja?« Ich schlucke. Oh nein, jetzt wird er etwas sagen. Etwas Bedeutsames. Das erkenne ich an seinem Augenausdruck. Was, wenn er eine Erklärung von mir verlangt, warum ich ihn verlassen habe? Was, wenn er mir vorwirft, ich hätte ihm das Herz gebrochen?

»Darf ich dich etwas fragen?«

»Natürlich.« Was, wenn er sich jetzt über den Tisch beugt und mich küsst? Wieder schlucke ich. Wie bin ich nur auf diesen Gedanken gekommen? Warum, um alles in der Welt, sollte er mich küssen wollen? Würde ich es ihm erlauben?

Verdattert blinzle ich ihn an. Zum Glück kann er das wegen der Riesensonnenbrille nicht erkennen. Ein Glück, dass ich so geistesgegenwärtig war, sie aufzusetzen.

»Warum hast du diese Sonnenbrille auf?«

»Verzeihung?«

»Die Sonnenbrille. Du sitzt mit einer Sonnenbrille auf der Nase in einer Hotelhalle.«

Ich muss mir rasch eine gute Ausrede einfallen lassen. Mein abgehärmtes Gesicht kann ich selbstverständlich nicht erwähnen. Ich könnte ja antworten, das sei eben jetzt der neueste Schrei. Oder dass ich seit unserer letzten Begegnung prominent geworden bin und die Paparazzi austricksen muss. Meine Gedanken überschlagen sich.

»Äh … ich bin lichtempfindlich«, stottere ich.

»Lichtempfindlich?« Er zieht die Augenbrauen hoch. Seine wundervollen buschigen Augenbrauen.

»Ja.« Ich schiebe die Sonnenbrille mit Nachdruck zurück. Sie ist so schwer, dass ich befürchte, sie könnte wieder hinunterrutschen. »Meine Augen reagieren sehr empfindlich auf Licht. Sie werden dann rot und blutunterlaufen und tränen. Einfach scheußlich.«

»Das tut sicher weh.«

Er glaubt mir. Ich bin ja so erleichtert.

»Sehr. Ich habe da Tropfen. Aus der Apotheke. Die muss ich jeden Tag anwenden …«

»Wie lästig.«

»Stimmt.«

Wo zum Teufel steckt Samantha? Holt sie den Tee in China?

»Du warst früher nie lichtempfindlich.« Er starrt mich noch immer an. Seine Wimpern sind so lang. Plötzlich erinnere ich mich, wie sie auf seinen Wangen lagen, wenn er schlief.

»Verzeihung?« Ich wäre wirklich froh, wenn er mich nicht weiter so anschauen würde.

»Als wir zusammen waren, warst du noch nicht lichtempfindlich.«

»Nun, so etwas kann man einfach aus heiterem Himmel kriegen.«

»Also bist du einfach eines Morgens aufgewacht und hattest es?«

Er lehnt sich in seinem Sessel zurück und lächelt mich wieder an. An seinem Schneidezahn ist ein winziges Eckchen abgebrochen. Das fand ich schon immer reizend.

»Ja. Genau.« Ich senke den Blick auf meinen Block, weil ich ihn nicht mehr ansehen kann.

»Und du leidest auch daran, wenn es draußen regnet? Wenn die Sonne nicht einmal scheint?«

»Ja.«

Ich muss das Thema wechseln. Also räuspere ich mich und bemühe mich um Konzentration. Ich muss loslegen, fertig werden und verschwinden, anstatt dazusitzen und seinen Mund anzuglotzen. Obwohl er faszinierend ist.

»Also fangen wir am besten mit dem Interview an – vielen Dank, dass du einverstanden warst.«

Er zuckt die Achseln. »Meine PR-Frau glaubt, dass sich das Buch so besser verkauft. Obwohl ich nicht sicher bin, ob ich ihrem Urteil vertraue.«

Er lächelt nicht mehr.

Mein Herz krampft sich zusammen. Er tut das nur, um Werbung für sein Buch zu machen. Nicht, um mich wiederzusehen. Natürlich – das ist doch sonnenklar. Warum sollte es anders sein?

»Gut. Nun, das Thema der nächsten Ausgabe lautet ›Wahre Liebe‹.«

»Das habe ich schon gehört.« Er starrt mich noch immer an. Warum lässt er das nicht?

»Meine erste … äh … Frage an dich ist: Warst du je verliebt?«

Ich versuche, den Stift zu zücken, aber meine Hand zittert. Also schalte ich rasch das Diktiergerät ein. Zum Glück habe ich daran gedacht, es mitzubringen, um das Interview aufzuzeichnen. In diesem Zustand kann ich auf gar keinen Fall mitschreiben.

Er hält inne.

»Ja. Einmal.« Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

Ich hebe den Kopf und sehe ihn an.

»Und du? Das heißt, warst du je verliebt?«, fragt er. Seine Miene ist finster.

Ich versuche vergeblich, etwas zu erwidern, und schlucke.

»Wie dumm von mir, dich darauf anzusprechen. Natürlich weißt du alles über die Liebe. Ich habe gehört, dass du geheiratet hast.«

Er wirft einen vielsagenden Blick auf meinen Ringfinger.

»Äh … mehr oder weniger«, antworte ich leise.

»Mehr oder weniger?« Es zuckt um seinen Mund.

Ich werde es ihm erzählen. Ich werde ihm erzählen, dass das absolute Chaos ausgebrochen ist. Dass Charlie sich aus dem Staub gemacht hat. Dass ich allmählich glaube, meine Traumhochzeit in Weiß könnte nur Theater gewesen sein. Aber ich kann es nicht, weil er mich hasst. Ich merke es ihm deutlich an. Er verachtet mich. Ich darf ihm nichts verraten.

»Tja, herzlichen Glückwunsch. Hoffentlich werdet ihr zusammen sehr glücklich.«

Ich schlucke wieder. »Danke.«

Wenn er nur wüsste. Als ich die nächste Frage auf meinem Block betrachte, zucke ich zusammen. Aber wenn ich sie nicht stelle, frisst Minty mich roh zum Frühstück.

»Glaubst du an Seelenverwandtschaft?«, stoße ich hervor.

Ich kenne die Antwort bereits, und zwar deshalb, weil er mir oft genug gesagt hat, dass wir Seelenverwandte seien – wir seien füreinander bestimmt, das Universum habe beschlossen, dass wir optimal zusammenpassten, und unsere erste Begegnung im Nachtclub sei schicksalhaft gewesen. Ich habe ihn damit aufgezogen, dass wir uns doch an einem glamouröseren Ort wie Paris hätten treffen können, wenn wirklich das Schicksal seine Hand im Spiel hatte.

Inzwischen ist sein Blick wie versteinert.

»Absolut nicht.«

»Was?« Seine Worte treffen mich wie ein Stich ins Herz.

»Die Vorstellung, dass es auf der Welt nur einen einzigen Menschen gibt, der für einen bestimmt ist, ist albern. Ein schwachsinniges Konzept, das uns die Hersteller von Glückwunschkarten einreden wollen. Nur ein Dummkopf kann so etwas glauben.«

Er klingt beinahe feindselig. Ich spüre, wie sein Hass auf mich über den Tisch fliegt, und erröte.

Bevor ich etwas erwidern kann, ist Samantha zurück.

»Bitte sehr!« Sie knallt ein volles Tablett auf den niedrigen Tisch. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat – den Leuten hier kann man bei der Arbeit die Schuhe besohlen! So, ich habe Kaffee und Tee mitgebracht, damit wir eine Auswahl haben. Eine gute Idee, findet ihr nicht? Und – eine Dreingabe – noch drei Gratiskekse!« Sie strahlt uns zufrieden an.

»Leider muss ich jetzt gehen.« David steht unvermittelt auf.

»Schon?« Samanthas Augen weiten sich. »Seid ihr fertig?«

»Oh ja, wir sind fertig«, entgegnet er mit einem vielsagenden Blick auf mich. »Wir sind schon seit langer Zeit fertig miteinander.«

Samantha sieht mich an, aber ich sage nichts. Ich kann nicht.

»Okay, gut, dann rufen wir Sie wegen eines Termins für die Fotos zu dem Artikel an. Sie könnten auf die Titelseite kommen. Wäre das nicht wunderbar?« Samantha tut ihr Bestes, um das beklommene Schweigen zu füllen. Ich bin ihr so dankbar, dass ich heulen könnte.

»Das wäre sicher ein Spaß.« Davids Tonfall ist ausdruckslos. Ich starre auf die Tischplatte. »Setzen Sie sich mit meiner PR-Beauftragen in Verbindung. Sie kümmert sich um alles.«

Dann marschiert er, ein verkniffenes Lächeln auf den Lippen, davon. Ich spüre, wie mir hinter der gewaltigen Designerbrille eine Träne die Wange hinunterläuft.

Drei Engel gegen Charlie
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