Julies Blog
5:00
Es ist fünf Uhr morgens, und ich kann nicht schlafen. Und zwar deshalb, weil Mr X schnarcht. So ein Schnarchen habe ich noch nie zuvor gehört. Es klingt wie ein rasselndes Pfeifen, kombiniert mit einem nasalen Gurgeln, das Ganze abgerundet von einem kratzigen Schnarren. Das wusste ich gar nicht. Außerdem zieht Mr X mir ständig die Decke weg. Anfangs tut er so, als wolle er sie gerecht teilen, doch schon wenige Minuten nach dem Einschlafen hat er den Großteil der Decke um sich gewickelt und umklammert sie mit einem Schraubstockgriff. Das wusste ich ebenfalls nicht. Aber woher denn auch? Wir haben noch nie in einem Bett geschlafen. Kein einziges Mal.
Mindestens zwei Stunden lang bibbernd auf meiner Seite des Bettes gelegen, zugehört, wie sein Schnarchen lauter und lauter wurde, und versucht, ihm die Decke zu entreißen. Ich habe ihn mit der Zehe angestupst und ihn erst sanft, dann ziemlich kräftig getreten, doch nichts führte dazu, dass er nachgab oder aufhörte. Er hat überhaupt nichts mitgekriegt. Offenbar hat er einen sehr tiefen Schlaf. Er schläft wie ein Toter – wieder etwas, das ich nicht wusste.
8:00
Am Schreibtisch. Nach der schlaflosesten Horrornacht meines Lebens völlig erschöpft. Allerdings ist das Büro menschenleer, was heißt, dass ich endlich in Sachen PR-Strategie für Mr Thriller loslegen kann. Die Sache mit Sie habe ich schon in der Tasche, aber das reicht bei weitem nicht, solange alle damit rechnen, dass Elle auch an Bord ist. Ich brauche ein größeres Presseecho, und wie jede gute PR-Frau, die ihr Gewicht in tropischen Obstkörben wert ist, weiß, gelingt das am besten, indem man sein Privatleben ins Spiel bringt. Frage mich, ob er wohl irgendwelche dunklen Geheimnisse hat, die wir, zufällig oder absichtlich, an die Presse durchsickern lassen können. Nicht, dass das eine Rolle spielen würde, denn wenn er keine Leichen im Keller hat, können wir noch immer einen kleinen Skandal erfinden. Etwas, das die Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam macht, damit sich sein Roman verkauft wie warme Semmeln. Vielleicht können wir ihn ja auch in einer Reality-Serie unterbringen. Ob er kochen kann? Noch besser, wenn nicht. Das Publikum liebt Menschen mit kleinen Schwächen. Falls ich es schaffe, einen Fernsehsender vor unseren Karren zu spannen, haben wir es geschafft.
8:04
Herrje, es ist so schwer, mich zu konzentrieren, wenn ich kaum die Augen offen halten kann. Nach der letzten Nacht bin ich total erledigt – und zwar aus den falschen Gründen. Ich hole mir einen Kaffee aus dem Automaten in der Küche. Das wird mich aufwecken.
8:10
Ich fasse es nicht, der Kaffeeautomat ist kaputt! Wie soll ich unter diesen Bedingungen arbeiten? Werde dem Hausmeister eine Mail schicken, damit er raufkommt und ihn rasch repariert.
8:12
E-Mail an Hausmeister:
Kaffeeautomat kaputt. Muss so schnell wie möglich repariert werden.
8:14
LK eins gerade eingetroffen. Sie trinkt heißes Wasser mit Zitronensaft. Gerade hat sie mir zugerufen, dass ich das mal probieren sollte: Es reinigt die Nasennebenhöhlen und steigert die Konzentration. Blöde Kuh. Ich wüsste schon, wie ich ihre Nasennebenhöhlen frei kriege … mit einem rechten Haken auf ihren Riesenzinken.
8:16
E-Mail von Hausmeister:
Ein Bitte wäre nett – oder brauchen Sie Koffein, um sich an Ihre guten Manieren zu erinnern?
Der Mann hat vielleicht Nerven. Schließlich ist es sein Job, dafür zu sorgen, dass hier alles funktioniert. Ich habe es nicht nötig, vor ihm einen Kniefall zu machen, damit er sich um seine Arbeit kümmert. Und seit wann ist er so frech? Der Typ ist ein Ja-und-Amen-Sager und widerspricht normalerweise nie. Bis jetzt war er immer sehr zurückhaltend und gehorsam.
8:18
E-Mail an Hausmeister:
Tun Sie es einfach. Bitte.
8:45
Noch keine Spur von Mr X. Vermutlich schnarcht er noch in meinem Bett. Finde das ein klein wenig ärgerlich.
8:47
E-Mail von LK eins:
Mir ist aufgefallen, dass du heute schon so früh im Büro warst. Normalerweise bin ich doch hier immer die Erste. Ist alles in Ordnung? Falls du mit deiner Arbeit im Rückstand bist, sag mir bitte Bescheid – ich helfe dir gern. Bei mir ist alles so gut organisiert, dass ich beinahe Däumchen drehe. Übrigens: Hast du meine letzten Pressemeldungen für die neue Romanautorin gesehen? Ein Traum!
8:58
Gerade die Pressemeldungen von LK eins gelesen. Über ihre neue Autorin von Frauenromanen wurde gerade in der Gazette berichtet, und zwar in der Rubrik »Mein Lieblingsraum«. Offenbar ist ihr Lieblingsraum die Küche, weil »das Teigkneten so entspannend ist« – selten so gelacht. Die einzige Knete, die diese Frau interessiert, liegt auf ihrem Bankkonto. Außerdem wette ich, dass sie sowieso nichts isst. Weshalb also sollten wir ihr abnehmen, dass sie komplizierte, mit einem zarten Gittermuster gedeckte Apfelkuchen bäckt? Jetzt ist aber Schluss. Ich werde LK eins mit meiner Kampagne für Mr Thriller den Marsch blasen. Vielleicht lade ich ihn zum Mittagessen ein, um mich bei ihm einzuschmeicheln. Dann kann ich eine Spesenabrechnung einreichen und komme so zu einer kostenlosen Mahlzeit. Italienisch wäre heute gut … ja, eine Pizza Spezial bei Gianni’s wäre der Hit. Hoffe nur, dass er nicht mehr mit dieser Kellnerin flirtet – er ist alt genug, um ihr Vater zu sein.
9:05
E-Mail an Mr Thriller:
Ich würde Sie heute sehr gern zum Mittagessen einladen, falls es Ihnen passt. So hätten wir Gelegenheit zu besprechen, welche Richtung die Pressekampagne Ihrer Ansicht nach nehmen sollte. Was halten sie von 13:00 Uhr bei Gianni’s?
Das ist eine prima Idee. Ich umgarne ihn, ziehe ihn auf meine Seite und mache ihm weis, er habe bei der PR-Kampagne etwas mitzureden. Hoffentlich können ihn einige Gläser Wein überzeugen, dass sich seine Bücher umso besser verkaufen werden, desto provokativer und offener er auftritt.
9:15
E-Mail von Mr Thriller:
Ok, klingt gut. Wir sehen uns dort.
Phantastisch! Mit ein wenig Glück kriegen wir die Elle doch noch.
10:01
Keine Spur von Mr X. Wo zum Teufel steckt er? Er kann doch unmöglich noch schlafen.
10:02
Nur so ein Gedanke: Hoffentlich ist er nicht in der Wohnung eingesperrt – das Türschloss hat seine Mucken, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Vielleicht sollte ich ihn anrufen.
10:06
Mr X geht nicht ans Telefon. Mache mir allmählich Sorgen. Vielleicht ist er ja in der Dusche ausgerutscht und gestürzt, hat sich den Kopf an den Fliesen gestoßen und liegt jetzt blutend und hilflos im Bad auf dem Fußboden. Oder er wurde von einem Einbrecher niedergeschlagen. Bin ein bisschen in Panik. Ob ich nach Hause fahren und nach ihm sehen soll?
10:08
LK eins meinte gerade zu LK zwei, dass Mr X heute sehr spät dran ist. Nummer zwei antwortete, er habe sicher Schwierigkeiten, sich aus dem Ehebett loszueisen. Schließlich sei er ja jung verheiratet. Habe gespürt, wie meine Wangen glühten. Wenn die wüssten.
10:14
Mr X gerade eingetroffen. Bin so erleichtert, dass er noch lebt. Er sieht nicht nach einem schweren Sturz oder einem Zusammenstoß mit einem Einbrecher aus. Eher … vergnügt. Und sehr gut ausgeruht. Als hätte er noch nie im Leben so gut geschlafen. Bestimmt schickt er mir gleich eine E-Mail, damit ich weiß, was los war.
10:16
Gleich schickt er mir eine E-Mail, damit ich weiß, wo er gesteckt hat.
10:18
Ich fasse es nicht, dass er mir keine Mail schickt. Wie kann er nur so egoistisch sein? Ich habe mir solche Sorgen um ihn gemacht und schon gedacht, er sei überfallen worden oder sogar tot. Und da steht er, schenkt sich am Wasserspender einen Becher voll ein und lächelt LK eins zu, als sei alles in bester Ordnung. Gut, jetzt reicht es mir. Der kann sich auf was gefasst machen. Erst treibt er mich vor lauter Sorge in den Wahnsinn, und dann tut er, als wäre nichts gewesen.
10:20
E-Mail an Mr X:
Wo warst du?
10:23
E-Mail von Mr X:
Ich habe heute Morgen beschlossen, von zu Hause aus zu arbeiten.
Von zu Hause aus? War er heute Vormittag etwa bei seiner Frau, nur um ein bisschen Arbeit zu erledigen? Was wird hier gespielt?
10:25
E-Mail an Mr X:
Du hast von zu Hause aus gearbeitet?
10:28
E-Mail von Mr X:
Ja, habe eine Menge weggeschafft – es war so still. Weißt du übrigens, dass du Kunststoffe und Papier vor dem Recyceln trennen musst? Ich glaube, wir müssen da ein ordentliches System entwickeln, sonst gerät alles außer Kontrolle.
Natürlich. Er meint, dass er in meiner Wohnung gearbeitet hat – die er inzwischen als Zuhause bezeichnet. Gott, das ist echt schräg.
11:03
E-Mail von Hausmeister:
Kaffeeautomat repariert, gnädige Frau.
Gott sei Dank. Wenn ich nicht bald einen Kaffee kriege, platzt mir der Schädel.
11:04
E-Mail an Hausmeister:
Wurde auch langsam Zeit.
11:05
E-Mail von Hausmeister:
Soll das danke heißen?
11:06
E-Mail an Hausmeister:
Es heißt, dass es lange genug gedauert hat.
11:07
E-Mail von Hausmeister:
Gern geschehen.
15:03
Zurück von Mittagessen mit Mr Thriller. Die Sache lief nicht so wie erhofft. Er weigert sich rundheraus, mit meiner genialen PR-Strategie zu kooperieren, und will nicht einmal andeuten, dass er gerade ein Drogenproblem hinter sich hat – obwohl die Presse das sicher ausschlachten würde. Offenbar hält er es für Schmuddelkram, Einzelheiten über sein Privatleben preiszugeben, und möchte, dass das Buch für sich selbst spricht. Das ist zwar eine reizende altmodische Vorstellung, wird aber niemals klappen. Wir brauchen einen Aufhänger. Die Leser müssen sich mit ihm identifizieren können, bevor sie hordenweise sein Buch kaufen. Und wie sollen sie das tun, wenn sie nichts über ihn wissen? Doch das kapiert er offenbar nicht. Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, um ihn davon zu überzeugen, dass er auf die Öffentlichkeit angewiesen ist. Dass ich bereits in seinem Namen zugesagt habe, habe ich ihm nicht verraten – das muss er nicht wissen.
15:07
Nur so ein Gedanke: Wir könnten vielleicht so tun, als hätte er gerade die Sexsucht besiegt. Das wäre spitze.
15:08
Oder er könnte psychische Probleme haben. Eine Persönlichkeitsspaltung? Oder eine Zwangsstörung? Das wäre toll: »Bestsellerautor wäscht sich hundertmal am Tag die Hände«. Die Leser wären begeistert.
15:10
Wir könnten auch den altmodischen Weg wählen und uns auf sein Aussehen konzentrieren. Er ist auf eine zerzauste Art sehr attraktiv. Ob ich ihm vorschlage, sich von einer dieser Hochglanzzeitschriften von Kopf bis Fuß optisch aufmöbeln zu lassen? Eine Krone auf den abgebrochenen Zahn und die buschigen Augenbrauen mit Wachs ausdünnen? Die Leserinnen lieben so etwas. Am besten wäre es, wenn wir ein paar Fotos in Unterwäsche von ihm machen könnten. Sicher ist er unter seinem Cordsakko gut gebaut. Werde meine Fühler ausstrecken und schauen, was sich so tut. Spare mir die Mühe, ihn vorher zu fragen – was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.
15:16
Fühle mich ein bisschen beschwipst. Vielleicht hätte ich beim Mittagessen nicht die ganze Flasche Chianti austrinken sollen. Aber es wäre doch eine Schande gewesen, sie stehen zu lassen, da Mr Thriller darauf beharrte, nur ein kleines Gläschen voll zu trinken – was meinen hinterhältigen Plan, ihn zu alkoholisieren, damit er mir seine dunkelsten Geheimnisse beichtet, leider vereitelte. Ich habe keine Ahnung, was ich mit ihm anfangen soll. Nun mal im Ernst, was erwarten diese Autoren? Dass ihre Bücher einfach so aus den Regalen spazieren. Haben sie überhaupt eine Vorstellung davon, dass sie mit Promis konkurrieren, die mit Freude alle intimen Einzelheiten über ihre Magenverkleinerung preisgeben oder gestehen, dass sie sich mit Nutten herumtreiben?
16:07
Mr X zurück an Schreibtisch.
16:08
Gehe vielleicht rüber und rede mit ihm – er wirkt ein wenig einsam. Darf das natürlich nicht sagen. Muss mir etwas Berufliches einfallen lassen, das ich dringend mit ihm besprechen muss. Wie … mein Treffen mit Mr Thriller. Ja, ich erzähle ihm davon. Vielleicht hat er ja ein paar gute, hilfreiche Vorschläge. Eine ausgezeichnete Idee.
16:11
Nein, das ist eine ausgesprochen schlechte Idee. Bin eindeutig beschwipst und könnte etwas tun, das ich später bereue. Zum Beispiel gestehen, dass ich gar kein Exklusivinterview mit Elle an Land gezogen habe, sondern nur ein jämmerliches Interview mit einem zweitklassigen Blättchen namens Sie … von dem er vermutlich noch nie gehört hat.
16:13
Oder ich könnte etwas noch Schlimmeres anstellen … wie mich auf seinen Schoß zu setzen und an seinem Ohrläppchen zu knabbern. Was eine Katastrophe wäre, weil wir doch versuchen, unsere Beziehung vor den anderen geheim zu halten.
16:19
Aber ich will unbedingt mit ihm reden. Vielleicht schicke ich ihm einfach eine kurze professionelle E-Mail und bitte ihn um Rat. Dagegen kann niemand etwas haben. Und hoffentlich schickt er mir dann eine sexy E-Mail zurück, und wir können ein bisschen erotisch plänkeln so wie früher.
16:22
E-Mail an Mr X:
Tolles Treffen mit Mr Thriller – möchtest du drüber reden?
16:25
E-Mail von Mr X:
Sorry, keine Zeit. Kannst du mir die Fakten nicht einfach mailen?
Was soll das jetzt wieder heißen? Früher war er doch auch nie zu beschäftigt, um mit mir zu sprechen?
16:28
E-Mail an Mr X:
Klar, habe selbst genug zu tun.
So, dann muss ich eben vortäuschen, dass ich in Arbeit ersticke.
16:47
E-Mail von Mr X:
Schläfst du etwa?
Mist, bin offenbar für den Bruchteil einer Sekunde eingenickt. Wein zum Mittagessen macht mich immer ein bisschen schläfrig.
16:49
E-Mail an Mr X:
Mach dich nicht lächerlich. Ich habe nur die Augen geschlossen, um mich besser konzentrieren zu können – habe in Gedanken eine geniale Pressemitteilung verfasst.
16:51
E-Mail von Mr X:
Schwindlerin. Du hast geschnarcht.
16:54
E-Mail an Mr X:
Nein.
Oh Gott, was, wenn es stimmt? Die LKs benehmen sich ganz normal, aber vielleicht hat ja eine mit ihrem Mobiltelefon ein Video von mir aufgenommen, wie ich mit offenem Mund schnarche, und stellt es jetzt bei YouTube rein. LK eins grinst eindeutig hämisch.
16:56
E-Mail von Mr X:
Doch, hast du. Es war sexy – deine kleinen Nasenlöcher haben sich gebläht. Wirklich niedlich.
Ah … er findet es also niedlich. Muss aber trotzdem weiter abstreiten, dass ich geschlafen habe, nur für den Fall, dass er mich reinlegen will. Darf mich auf keinen Fall zu einem Nickerchen im Büro bekennen.
16:58
E-Mail an Mr X:
Ich habe noch nie im Leben geschnarcht, im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten. Und jetzt stör mich nicht dauernd – ich bin wirklich sehr beschäftigt.
17:02
E-Mail von Mr X:
Dann kommst du heute also erst später nach Hause?
17:05
E-Mail an Mr X:
Warum denn das?
17:07
E-Mail von Mr X:
Weil du laut deinem genialen Presseplan Faxe an mindestens 300 Zeitungen und Zeitschriften schicken wirst, um Mr Thriller in den Himmel zu loben, bevor du gehst.
Mist, der erwartet offenbar, dass ich das sofort erledige.
17:09
E-Mail an Mr X:
Ja, stimmt.
17:12
E-Mail von Mr X:
Toll, wie du dich engagierst. Übrigens gibt es Probleme mit der Technik. Du wirst die Faxe also auf die altmodische Methode verschicken müssen – per Hand. Ich schlafe vermutlich schon, wenn du nach Hause kommst.