Eve

Lieber Charlie,

Anna hat mir die Informationen zu meinem nächsten Blind Date gegeben. Er heißt Butch und ist Gefängnisaufseher. Ich habe keine Ahnung, woher Anna einen Gefängnisaufseher namens Butch kennt, ich wage nicht, sie danach zu fragen. Allerdings habe ich ihr erklärt, dass wir, wie ich glaube, ganz sicher nicht zusammenpassen. Kann mir nicht einmal Prison Break anschauen, ohne dass mir der kalte Schweiß ausbricht. Doch sie beharrte darauf, Butch sei viel mehr mein Typ als Cyril, der zugeknöpfte Steuerberater. Ihrer Aussage nach ist er sanft, einfühlsam und künstlerisch begabt. Ich dachte immer, dass Gefängnisaufseher zu sehr damit beschäftigt sind, die Häftlinge abends in ihre Zellen einzuschließen, um Zeit für die Kunst zu haben. Aber offenbar arbeitet Butch in einem netten Gefängnis für Wirtschaftskriminelle, also Steuerhinterzieher und solche Leute, nicht in einem für Gewaltverbrecher. Er gibt dienstagabends sogar einen Kurs im Blumenarrangieren für die Insassen.

Mary, die Therapeutin, meint, ich solle, was diesen neuen Versuch angeht, vorsichtigen Optimismus walten lassen – was immer das auch zu bedeuten hat. Allmählich habe ich den Verdacht, dass Mary nur zum Spaß mit Schlagwörtern um sich wirft. Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass ich für mein Geld nicht genug gute Ratschläge bekomme. Ich bin sicher, dass sie die letzte Sitzung vorzeitig abgebrochen hat. Sie sagte, es liege daran, dass ich in letzter Zeit so gute Fortschritte gemacht hätte. Doch ich habe gesehen, dass hinter ihrem Stuhl ein gepackter Koffer hervorlugte. Offenbar wollte sie übers Wochenende in ihr Ferienhaus fahren. Das Ferienhaus, das ich vermutlich allein finanziere.

Jedenfalls habe ich mich in Sachen Butch noch nicht entschieden. Ich habe Anna zwar zugesagt, muss mir aber vielleicht eine geschickte Ausrede überlegen, wenn der große Tag da ist. Die demütigende Erfahrung mit Cyril ist noch zu frisch. Außerdem würde Mum einen Zusammenbruch erleiden, wenn sie hört, dass ich mich mit einem Gefängnisaufseher treffe. Sie jammert mir immer noch die Ohren damit voll, dass Mike und Stacey Holby, die Religionslehrerin, während des Kulturaustauschs in Texas etwas miteinander angefangen haben könnten. Sie sagt, Mike hätte bei ihrem letzten Telefonat so seltsam geklungen – als würde er gegen seinen Willen festgehalten. Ich habe ihr erklärt, dass sie sich lächerlich macht und dass Mike sehr gut auf sich selbst aufpassen kann. Aber sie widersprach, sie sei sich da nicht so sicher, denn große Hitze könne die merkwürdigsten Auswirkungen auf den Menschen haben. Sie hat ihm bereits im Internet einen gastronomietauglichen Ventilator bestellt. Ihrer Ansicht nach sind diese tragbaren Ventilatoren nutzlos. Und wie könne man ihn für seine Handlungen verantwortlich machen, wenn er bei der mörderischen Hitze in Texas auf so ein Ding angewiesen sei?

Ein anderes Thema: Homer arbeitet wirklich sehr schnell. Er ist bereits fast mit dem Grundieren der Wände fertig. Ich hatte schon befürchtet, er könnte mich vom Schreiben ablenken, indem er alle fünf Minuten eine neue Tasse Tee fordert oder, den halben Hintern aus der Hose hängend, in der Wohnung herumspringt, wie man es von Bauarbeitern kennt. Aber er war so leise, dass ich seine Anwesenheit kaum bemerkte. Bis zum Nachmittag sprachen wir kaum ein Wort miteinander. Dann hatte ich so ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm noch keine einzige Tasse Tee angeboten hatte, dass ich auf eine Pause bestand. Wie sich herausstellte, trinkt er nur Kräutertee, am liebsten Orange Pekoe. Er hatte sogar seine eigenen Teebeutel dabei und bestand darauf, dass ich einen versuche. Es war wirklich komisch, aber als wir so in der Küche saßen, habe ich ihm aus unerfindlichen Gründen von Butch, dem Gefängnisaufseher, erzählt. Er ist ein wirklich guter Zuhörer. Nachdem ich ihm mein Herz ausgeschüttet hatte, meinte er, ich solle vielleicht zu dem Blind Date gehen, denn Menschen könnten ungeahnte Tiefen haben, weshalb man niemanden nach seinem Äußeren beurteilen dürfe. Trotz Butchs Namen, seines Berufs und seines Aussehens (Anna hat mir ein Foto von ihm auf ihrem Mobiltelefon gezeigt, und es war kein hübscher Anblick) könnte er ja sehr empfindsam und fürsorglich sein. Ich bin mir da allerdings nicht so sicher. Das Tattoo auf Butchs Fingerknöcheln spricht eine andere Sprache – HASS steht da in großen keltischen Buchstaben.

Als Homer weg war, habe ich den Müll rausgebracht und bin dabei Johnny, dem Klempner, begegnet. Er stand an den Mülltonnen und starrte stumpf ins Leere. Allmählich mache ich mir Sorgen um ihn. Er sieht immer noch zum Fürchten aus und hat keinen einzigen schlechten Witz über mein Dekolleté, meinen Hintern oder ein sonstiges Körperteil gerissen. War über seinen Zustand wirklich erschrocken. Er hatte ein ungebügeltes Hemd an und Bartstoppeln im Gesicht – nicht die, die er manchmal absichtlich züchtet, um Enrique Iglesias zu ähneln. Zum ersten Mal hat er nicht gewirkt, als käme er gerade aus der Dusche. Selbst wenn er arbeitet, ist er sonst immer topgepflegt – diese maßgeschneiderten Leinenoveralls mit den Messingnieten an den Aufschlägen sind wirklich chic. Und ich hätte schwören können, dass er geweint hat. Seine Augen waren gerötet und blutunterlaufen. Er machte einen so niedergeschlagenen Eindruck, dass ich ihn gefragt habe, ob er hereinkommen will, um zu reden. Er nahm an. Wie sich herausstellte, hatte ich recht. Jemand hat ihm das Herz gebrochen. Seine Freundin hat ihn wegen eines anderen verlassen – eines Schreiners namens Tiny Tim, der den kleinsten Schniedel in der ganzen Branche hat. Ich fragte ihn, woher er das wisse (ich meine, das mit dem kleinen Schniedel), worauf er antwortete, das sei auf den Baustellen allgemein bekannt. Nun kann der arme Johnny einfach nicht begreifen, wie eine Frau einen so guten und erfahrenen Liebhaber wie ihn wegen eines Menschen wie Tiny Tim verlassen kann, der, wie jeder weiß, seit mehr als drei Jahren keine Frau mehr hatte. Zumindest glaube ich, dass er das gesagt hat. Er schluchzte nämlich inzwischen so bitterlich, dass es wirklich schwierig war, alles zu verstehen. Ich habe ihm erklärt, dass das Leben manchmal unerwartete Wendungen nähme, was ich aus Erfahrung wisse, denn mir sei auch das Herz gebrochen worden. Das schien ihn zu trösten, und er lebte ein wenig auf, als ich ihm erzählte, wie am Boden zerstört ich gewesen sei, als du mich verlassen hast. Ich habe ihm sogar den wahren Grund unserer Trennung verraten. Allerdings habe ich ihm verschwiegen, dass die ganze Trauer wieder hochkam, als ich von deiner Hochzeit erfuhr. Schließlich wollte ich nicht, dass er mir endgültig zusammenklappt. Stattdessen schlug ich ihm vor, sich in Schale zu werfen, auszugehen und sich einen One-Night-Stand zu suchen. Aber er seufzte nur und meinte, er sei noch nicht bereit, sich wieder ins Getümmel zu werfen. Es sei ihm egal, dass die Kollegen ihn wegen Tiny Tim hänselten. Und es sei ihm ebenfalls egal, dass seine Ex ihn wegen eines Typen mit dem kleinsten Schniedel in der Branche verlassen habe. Er wolle sie einfach nur zurück. Noch nie habe er so für ein Mädchen empfunden. Ihm fehle nicht nur der Sex, seit sie fort sei. Nein, er vermisse alles an ihr, sogar, dass sie sich mit seinem Rasierer die Beine rasiert und nie die Badewanne geputzt hat. Es war eine ganz neue Erkenntnis, dass Johnny, der Klempner, nicht einfach nur ein sexbesessener Frauenheld ist, sondern echte Gefühle hat, obwohl ich ihn bis jetzt ganz anders eingeschätzt habe. Ich habe ihn stets für dickfellig gehalten, aber in Wahrheit ist er so zart und empfindsam wie ich. Ich musste an Homers Worte denken. Vielleicht beurteile ich meine Mitmenschen wirklich zu sehr nach ihrem Äußeren und sollte Butch eine Chance geben. Man kann ja nie wissen. Möglicherweise sind wir ja Seelenverwandte. Ich könnte mir ja LOVE auf die Fingerknöchel tätowieren lassen, als Ausgleich für sein HASS-Tattoo. Allerdings habe ich gehört, dass Tätowieren ziemlich schmerzhaft sein soll. Vielleicht wären ja eine Schablone und abwaschbare Tinte eine Alternative.

Eve

Drei Engel gegen Charlie
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